9. Mai 2021 Hinrich Kuhls: Regional- und Kommunalwahlen in Großbritannien

Weitere Rechtsdrift und Risse im Vereinigten Königreich

Der »Super-Wahltag« am 6. Mai hat im Vereinigten Königreich zwei politische Trends des letzten Jahrzehnts bestätigt. Die politische Rechte gewinnt vor allem in England weiter an Boden. Die Stärkung der diversen Autonomie- und Unabhängigkeitsbewegungen im ganzen Land hält an.

In Schottland und Wales fanden Erneuerungswahlen zu den Landesparlamenten statt. In London und zwölf weiteren Metropolregionen in England wurden Bürgermeister:innen gewählt, in London zudem die 25 Abgeordneten des Stadtparlaments. Bei den Kommunalwahlen in England waren in 143 von 333 Gebietskörperschaften die Ratsversammlungen insgesamt oder teilweise neu zu bestimmen, zusammen rund 5.000 Mandate. Des Weiteren wurden in Wales und England die Leitenden Wahlbeamten der Polizeidistrikte gewählt.

Insgesamt waren 48 Millionen Menschen und damit rund vier Fünftel der Wahlbevölkerung Großbritanniens wahlberechtigt. Nie waren außerhalb von Unterhauswahlen so viele Wahlberechtigte zu den Urnen gerufen. Denn im letzten Mai waren die turnusmäßigen Kommunalwahlen wegen der seinerzeit grassierenden Corona-Pandemie auf dieses Jahr verschoben worden.

Im nordenglischen Wahlkreis Hartlepool fand außerdem eine Nachwahl zum Unterhaus statt. Es war die erste Nachwahl seit der Parlamentswahl im Dezember 2019, bei der die nationalkonservative und rechtspopulistische Tory-Regierung und Premierminister Boris Johnson mit einem Erdrutschsieg bestätigt worden waren – und damit ihr Kurs der Durchsetzung eines harten Brexits.

Nicht nur wegen der Nachwahl, sondern wegen des Zeitpunkts der diesjährigen Regional- und Kommunalwahlen kam dem Wahlgang eine spezifische Bedeutung zu. Denn die »Referenzwahlen« hatten im Mai 2016 wenige Wochen vor dem Brexit-Referendum stattgefunden.[1] Bei ihnen hatte sich die Trendwende angedeutet, die die proeuropäischen Kräfte in Aufregung versetzte, die nationalistischen Brexit-Befürworter beflügelte und die dann mit dem eindeutigen Ja (53,4%) im Landesteil England bei einer Zustimmungsrate von 51,9% im gesamten UK zum Austritt aus der EU führte.

In denselben Gebietskörperschaften, in denen vor fünf Jahren die letzten Wahlen vor dem Brexit-Votum stattfanden, waren jetzt die Bürger:innen zu Wahlen aufgerufen, die erstmals nach der vollständigen Umsetzung des Brexits durchgeführt wurden, und zwar sowohl nach dem vertragsmäßigen Austritt zum 31.1.2020 als auch der Beendigung der operativen Übergangsphase zum 31.12.2020. Die Wähler:innen konnten jetzt erstmals in ihre Wahlentscheidung die Rückwirkungen des Brexits auf ihre jeweiligen Lebensverhältnisse in den Kommunen oder Regionen mit einbeziehen, die Handlungsweise des Johnson-Kabinetts in der Corona-Pandemie bewerten und die Versprechen der Tory-Regierung zur Überwindung langfristiger Strukturdefizite, zur Verwendung der vermeintlich durch den Brexit freigesetzten Finanzmittel und zur Perspektive jenseits der Einschränkungen durch die Pandemie gewichten.


Tory-Triumph bei Nachwahl im nordenglischen Wahlkreis Hartlepool

Die Nachwahl in Hartlepool war notwendig, weil der Labour-Abgeordnete sein Mandat zurückgegeben hatte, nachdem Anschuldigungen wegen Mobbings und sexueller Belästigungen nicht ausgeräumt worden waren. Schon sein Vorgänger hatte 2017 wegen ähnlicher Vorhaltungen auf eine erneute Kandidatur verzichtet.

Seit 1945 hatte die Stadt bei Parlamentswahlen oder Nachwahlen immer mehrheitlich sozialdemokratisch gestimmt. So waren auch seit dem jetzigen Zuschnitt des Wahlkreises 1974 ausschließlich Abgeordnete der Labour Party entsandt worden. Der bekannteste unter ihnen war Peter Mandelson, der den Wahlkreis von 1992 bis 2004 hielt. Als einer der Effektivsten aller Blairisten hatte er zuerst denWahlsieg mit herbeigeführt und erste Regierungsjahre von New Labour mitgestaltet, dann als EU-Handelskommissar die britischen Interessen in Brüssel vertreten und schließlich von 2008 bis 2010 als ins Oberhaus gehievter Lord und Hansdampf-in-allen-Gassen im Kabinett von Gordon Brown tatkräftig zum Verlust der Regierungsfähigkeit der Labour Party vor elf Jahren beigetragen.

Heute zählt die Hafenstadt Hartlepool zu den zehn Städten im UK, deren Einwohnerschaft am stärksten sozial benachteiligt ist. Beim Brexit-Votum 2016 stimmten hier 70% für den Austritt aus der EU. Bei der Parlamentswahl 2015 war der UKIP-Kandidat auf Platz zwei gelandet, Labour hatte den Wahlkreis mit 35% der Stimmen verteidigen können. 2017 erreichte der Labour-Kandidat dann wieder mehr als die Hälfte der Stimmen.

2019 konnte der Wahlkreis – noch entgegen dem Trend im Norden Englands – von Labour gehalten werden, allerdings nur, weil die rechtspopulistische Brexit-Partei ihr Wählerpotenzial noch einmal voll ausschöpfen konnte und damit den Tory-Kandidaten entscheidend schwächte. Konservative und Brexit-Partei vereinten vor anderthalb Jahren 17%-Punkte mehr Stimmen auf sich als der Labour-Kandidat. In diesem Jahr hat – unter Berücksichtigung der drastisch gesunkenen Wahlbeteiligung – die Tory-Kandidatin das konservative und rechtspopulistische Stimmenpotential nahezu vollständig auf sich vereinen können, während fast die Hälfte der Wähler:innen, die 2019 für Labour votierten, entweder nicht gewählt oder sich für eine andere Partei entschieden hat.

Erst zum dritten Mal in der Parteiengeschichte seit 1945 konnte so im UK eine Regierungspartei bei einer Nachwahl einen bisher von der Opposition gehaltenen Wahlkreis für sich gewinnen. Die Wählerwanderung seit 2015, wie sie sich in Hartlepool gezeigt hat, ist typisch für fast alle jener mehr als 50 Wahlkreise, die die Labour Party bei der Parlamentswahl Ende 2019 verloren hatte. Sie ist auch jetzt noch prägend für die Ergebnisse der Meinungsumfragen, in denen die Tories trotz Korruptionsaffären und Versagen bei der Eindämmung der Pandemiefolgen sich in England als führende politische Kraft behaupten können.

Das Ergebnis der Nachwahl reiht sich zudem aus der Perspektive Labours in einen langfristigen Trend ein. Seit der Parlamentswahl 2002 ist die Partei mit einem stetigen Rückgang ihrer Wählerbasis konfrontiert – mit Ausnahme der Wahl 2017, als eine sich erneuernde und auf einen breiten innerparteilichen und gesellschaftlichen Diskurs orientierende Labour Party der nationalistischen und sozial spaltenden Austeritätspolitik des konservativen und rechtspopulistischen Spektrums mit einem Entwurf für eine andere Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik Paroli bieten konnte.

Lord Mandelson, der seit ein paar Monaten den Labour-Vorsitzenden Keir Starmer berät, führt die historische Niederlage auf ein »Doppel-C« zurück, Covid und Corbyn. Der unterlegene Labour-Kandidat berichtet hingegen, dass während des Wahlkampfs »Corbyn« kein Thema gewesen sei. Starmer kommentiert, seine Partei der Arbeit habe das Vertrauen der Arbeiterklasse verloren. In der Tat ist die Kooperation der neuen Parteiführung mit großen Teilen der Labour-Gewerkschaften genauso suboptimal wie mit der Parteibasis.

Dieses Manko wird Starmer auch nicht mit der angekündigten Umbildung seines Schattenkabinetts beseitigen können, weil damit nicht das spalterische Agieren innerhalb der Partei und die fehlende politische Perspektive des Oppositionsführers beendet wird. Dass er als Parteivorsitzender die gewählte stellvertretende Parteivorsitzende Angela Rayner abrupt und rüde von ihren Funktionen als Wahlkampfleiterin und Chair Women der Partei entbindet, düpiert all diejenigen, die in beiden ein gut harmonierendes Führungsduo hatten sehen wollen.


Kommunal- und Bürgermeisterwahlen in England

Lokalpolitisch ist das Nachwahlergebnis in Hartlepool mit dem Agieren der Konservativen Partei in der Metropolregion Tees Valley begründet, zu der die Hafenstadt gehört. Das 2017 neu geschaffene Amt des Metropolbürgermeisters hatte der damals 30-jährige konservative Bewerber auf Anhieb erobert. Ben Houchen wurde jetzt bei einer Wahlbeteiligung von 34% mit 72,8% der Erstpräferenz-Stimmen (gegenüber 27,2% der Labour-Konkurrentin) wieder gewählt.

Er setzt eine konservative Variante des »Preston-Modells« um: Konsequente Strukturplanung mit finanzieller Unterstützung der Londoner Zentralregierung; Rekultivierung von Industriebrachen; Kommunalisierung des Regionalflughafens; Ausbau des Tiefseehafens Teesport und dessen Umwandlung in einen Freihafen; plus einer gehörigen Prise Symbolpolitik, nämlich der Ansiedelung einiger Abteilungen des Londoner Finanzministeriums. Nicht umsonst stattete Johnson hier seinen Besuch zur Feier des guten Wahlergebnisses ab.

Das Ergebnis der Bürgermeisterwahl in Tees Valley ragt zwar heraus, liegt aber im Trend der Rechtsdrift bei den Bürgermeister- und Ratswahlen in England insgesamt. Die Konservativen haben rund 300 Mandate dazugewonnen. Das reicht aus, um in zusätzlich 14 der 143 Kommunalparlamente mit der absoluten Mehrheit der Mandate Politik und Verwaltung in den jeweiligen Kommunen zu bestimmen (bei Redaktionsschluss waren 131 von 143 Räten ausgezählt.)

Die Labour Party verzeichnet rund 250 Mandate weniger. In sieben Gebietskörperschaften muss sie die Kontrolle über die kommunale Verwaltung abgeben, darunter auch in Durham, wo sie vor 100 Jahren erstmals die Mehrheit in einem Kommunalparlament errungen und seitdem nicht mehr abgegeben hatte. Faktisch hat die Labour Party jetzt in Summe fast alle Ratsmandate wieder verloren, die sie seit 2010, dem Beginn ihrer andauernden Rolle als Oppositionspartei im Unterhaus, in den Kommunen gewann.

Die Grünen haben in einigen Städten Achtungserfolge erzielt. In den Verlusten der »Anderen« sind nicht nur Mandatsverluste von Wählergemeinschaften oder Einzelbewerber:innen zusammengefasst, sondern auch die der ehemaligen UKIP-Mandatsträger, von denen etliche zuletzt als Unabhängige firmierten.

Von den zwölf Metropolbürgermeisterposten haben konservative Bewerber insgesamt zwei verteidigen können. Zwei haben die Tories an Labour verloren, darunter »West of England«, die Region um Bristol. Hier waren die Zweit-Präferenzstimmen ausschlaggebend, die von den Kandidat.innen der Grünen und Liberaldemokraten zu den Labour-Kandidaten übertragen wurden. Die anderen acht Wahlen, darunter in Liverpool und Manchester, entschieden die Labour-Kandidat:innen für sich.

Andy Burnham erreichte in Greater Manchester mit 67% das für Labour beste Ergebnis an diesem Wahltag. Burnham, der 2015 mit Corbyn um den Parteivorsitz konkurrierte, wird sich nicht auf Dauer den Forderungen widersetzen können, den erfolglosen Starmer im Parteivorsitz abzulösen. Voraussetzung dafür ist allerdings ein Wechsel vom Amt des Lord Mayor in Groß-Manchester zurück ins House of Commons in London-Westminster. Die nächste Gelegenheit dazu bietet eine Nachwahl in einem Wahlkreis in West Yorkshire, sofern die Labour-Abgeordnete Tracy Babin die Wahl als neue Metropolbürgermeisterin von West Yorkshire gewinnt (bei Redaktionsschluss noch nicht ausgezählt) und ihr Unterhausmandat aufgibt.


London: Knappe Resultate

Londons Bürgermeister Sadiq Khan und sein konservativer Herausforderer Bailey lieferten sich ein enges Rennen. Die für London niedrige Wahlbeteiligung von 42,2% durchkreuzte Khans Hoffnung, schon in der ersten Wahlrunde wiedergewählt zu werden. 40% bei den Erstpräferenz-Stimmen reichten nicht, erst in der zweiten Runde setzte er sich dann aufgrund der vor allem grünen und liberaldemokratischen Zweitpräferenzstimmen mit 55% durch. Insgesamt 20 Bewerber:innen waren zur Wahl angetreten.

Im Londoner Stadtparlament, der London Assembly, haben sich die Mehrheitsverhältnisse entsprechend dem landesweiten Trend verändert. Labour-Kandidat:innen errangen 11 (-1) der 25 Mandate, die Tory-Bewerber:innen 9 (+1). Die Grünen (3) und die Liberaldemokraten (2) haben je ein Mandat hinzugewonnen; die Rechtspopulisten sind leer ausgegangen. Die 1.800 Mandate in den 32 Londoner Bezirksversammlungen werden im nächsten Jahr neu gewählt.


Wales: Labour hält »Hochburg«

Die Wahlen zum Walisischen Parlament, dem Senedd Cymru mit Sitz in Cardiff, hat die Labour Party für sich gewonnen. Sie hat zwar mit 30 Mandaten, fast ausschließlich im Industriegürtel in Südwales, die absolute Mehrheit der 60 Mandate knapp verfehlt, aber dennoch prozentual ihr bisher bestes Ergebnis in dieser britischen Nation erzielt (Wahlbeteiligung 47%). Der Erste Minister Mark Drakeford wird damit weiterhin das höchste Staatsamt bekleiden, das die Labour Party derzeit zu verantworten hat. Der Erfolg wird auch damit erklärt, dass aufgrund der Dezentralisierung des Gesundheitswesens Drakeford bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie dieselben Kompetenzen hat wie Premier Johnson für England und First Minister Nicola Sturgeon für Schottland und dass er die Corona-Verordnungen in den walisischen Fernsehsendern ebenfalls mit ausgiebigen Auftritten verbunden hatte.

Zur Sicherung einer stabilen Regierungstätigkeit verständigten Labour und die walisische Volkspartei Plaid Cymru sich zu Beginn der letzten Legislaturperiode auf ein informelles Tolerierungsabkommen in Form einer Vereinbarung einiger gemeinsamer Ziele. Plaid Cymru ist trotz des Zugewinns von zwei Mandaten nicht mehr stärkste Oppositionspartei. Dennoch ist die Fortsetzung der informellen Kooperation mit Labour auch in den nächsten fünf Jahre nicht ausgeschlossen.

Wie schon 2016 ist die Veränderung in der Repräsentation des rechtspopulistischen Wählerpotenzials die herausragende Veränderung im walisischen Parlament. Vor fünf Jahren hatte UKIP über die Regionallisten, über die zu den 40 Wahlkreismandaten zusätzlich 20 Mandate nach dem Verhältniswahlrecht vergeben werden, insgesamt sieben Mandate gewonnen. Die Abgeordneten hatten teils die Häutungen von UKIP über Brexit-Partei zur Reformpartei mitgemacht, teils waren sie zur Konservativen Partei übergetreten. Jetzt hat aber keine der rechtspopulistischen Splitterparteien ein neues Mandat errungen. Profitiert hat davon die Konservative Partei, die sechs Mandate hinzugewonnen hat und damit wieder stärkste Oppositionspartei ist.


Schottland: Auf dem Weg zum zweiten Unabhängigkeits-Referendum

Bei den Wahlen zum schottischen Parlament (Wahlbeteiligung: 63%) hat die Schottische Nationalpartei (SNP) die anvisierte absolute Mehrheit um ein Mandat verfehlt. Sie gewann 62 der 73 Direktmandate. Von den nach dem Verhältniswahlrecht über acht Regionallisten vergebenen 56 weiteren Mandaten kamen nur noch zwei hinzu, weil die in den jeweiligen Regionen erzielten Direktmandate angerechnet werden.

Trotz der verfehlten absoluten Mehrheit wird die SNP wieder ohne größere Probleme die Regierungsverantwortung übernehmen können. Das gegenüber der letzten Wahl verbesserte Wahlergebnis sieht sie auch als Legitimation, bei der Londoner Zentralregierung bald den Antrag einzureichen, nach 2014 ein zweites Mal ein Referendum zur Auflösung des 1707 geschlossenen Unionsvertrags mit England durchzuführen. Es war das zentrale Thema ihrer Wahlkampagne, ganz so wie der Slogan »Get Brexit done« der Tories in der Unterhauswahl 2019. Die Grünen, die mit einem Zugewinn von zwei auf insgesamt acht Mandate einen Achtungserfolg erzielt haben, haben in der Frage des Referendums ihre Unterstützung signalisiert.

Die Labour Party gewann in ihrem einstigen Stammland nur noch zwei Direktmandate, 20 Mandate kamen über die Regionallisten hinzu. Der Anfang des Jahres von Starmer betriebene Wechsel an der Spitze der schottischen Labour Party hat sich negativ ausgewirkt; insgesamt verlor die Partei erneut zwei Mandate. Der Einbruch der Labour Party in Schottland begann in der Regierungszeit von New Labour und brachte die Partei 2010 und 2015 um den Wahlsieg bei den Unterhauswahlen. Der Bedeutungsverlust Labours im UK kann auch drastisch so ausgedrückt werden, dass es vollkommen gleichgültig für Labour als Gesamtpartei geworden ist, ob Schottland in der Union mit England verbleibt oder austritt.


Unabhängiges Cornwall – kein Witz mehr?

Die Bestrebungen nach weiteren Dezentralisierungen und nationaler Selbständigkeit als Reaktion auf den Brexit-orientierten Rechtspopulismus und Nationalismus finden sich nicht nur in Nordirland, Wales und Schottland. Auch in diversen Regionen Englands werden die Rufe nach einer – gegenüber London und dem Südosten Englands – ökonomischen Stärkung und größerer politischer Autonomie lauter, und das nicht nur im Norden Englands.

Jahrhundertelang war die »Unabhängigkeit Cornwalls« das Ziel landesweiter Witze.[2] Doch 2021 scheint die Unabhängigkeit – oder zumindest eine Form der dezentralisierten Autonomie – greifbarer denn je für die Grafschaft, die die Landzunge im Südwesten der britischen Hauptinsel umfasst. Die Konservative Partei hat im Rat der Gebietskörperschaft Cornwall, dem Cornwall Council, erstmals eine absolute Mehrheit der Mandate erzielen können. Jedoch hat auch die Kleinpartei Mebyon Kernow, die 1951 gegründete Mitte-Links-Partei der kornischen Autonomiebewegung, ihre Mandate im von 107 auf 87 Sitze verkleinerten Kreistag um eins auf fünf steigern können.

Die kornische Autonomiebewegung speist sich aus zwei verschiedenen Richtungen: dem politischen Bestreben nach einer Übertragung von Befugnissen von London nach Cornwall und die Übertragung von Dienstleistungen und Vermögenswerten an die Gemeinden der Grafschaft einerseits und dem Fernziel der Anerkennung als souveräner Staat andererseits. Die Dezentralisierung wird von Teilen der regionalen Eliten in Wirtschaft und Politik unterstützt, vor allem auch von jenem Zehntel der fast 600.000 Einwohner, die sich nicht als englisch, sondern als »kornisch« verstehen.

Der Verlust von EU-Infrastrukturgeldern ist für die Bewohner:innen Cornwalls schon jetzt deutlich spürbar, und obwohl hier 56,5% für den EU-Austritt gestimmt haben, existier bei Vielen das Gefühl, dass das Brexit-Fiasko ihnen keine erkennbaren Vorteile gebracht hat. Cornwall war eine jener vier armen britischen Regionen, die Fördermittel aus den EU-Strukturfonds erhielten. Die von Westminster angebotene Ersatzfinanzierung ist unzureichend. In ihrer landesweiten Struktur- und Raumplanung sieht die Johnson-Regierung die Verfestigung der nachteiligen Wirtschaftsstruktur vor, indem sie in erster Linie private Bauvorhaben zur Ausweitung des rein saisonalen Tourismusgeschäfts fördern will. Wegen der »vollkommen unhaltbaren« Ziele beim Zweitwohnungsbau hatte der Cornwall Council das Regierungsweißbuch zurückgewiesen.

Die »Unabhängigkeit Cornwalls« steht im Unterschied zur Unabhängigkeit Schottlands nicht auf der Agenda politischer Auseinandersetzungen. Sie ist aber kein reines Hirngespinst, sondern ein Indikator für das nicht nur in dieser Region teils separatistisch gefärbte Streben nach größerer regionaler Autonomie und stärkerer politischer Beteiligung. Mit der Frage der weiteren Dezentralisierung politischer Entscheidungen in England wird erneut die Diskussion über eine Verfassungsreform des Vereinigten Königreichs eingefordert.


»Team UK« und die Risse im Königreich

Ins kornische St. Ives hat Premier Johnson für Anfang Juni die Staats- und Ministerpräsidenten der G7-Länder und zudem die aus Indien, Australien und Südkorea eingeladen. Die erhoffte Initiativrolle in dieser Runde ist ihm vom neuen US-Präsidenten aus der Hand genommen worden, sowohl zur Vorbereitung des COP26-Klimagipfels als auch bei der globalen Bekämpfung der Corona-Pandemie. Es bleibt ihm sein Werben um Unterstützung bei der Neupositionierung des UK auf den Weltmärkten.

Innenpolitisch ist Johnsons Werben auf eine neue Kooperation der vier Exekutiven im UK gerichtet. Das Schreiben, das er zwei Tage nach den Wahlen an die Regierungschefs in Schottland und Wales mit einer Einladung zu einem innenpolitischen Gipfel des »Team UK« gesandt hat, trägt die Handschrift seines Kabinettministers Michael Gove. Der Brief ging auch an die Regierungsspitze in Nordirland, sowohl an die noch bis Ende Mai als Erste Ministerin und Vorsitzende und unionistisch-nationalistischen DUP amtierende Arlene Foster, die dem Druck des Rechtsaußen-Flügels ihrer Partei nicht mehr Stand halten konnte und ihren Rücktritt erklärt hat, als auch an ihre gleichberechtigte Stellvertreterin Michelle O’Neill, der Vorsitzenden der linksrepublikanischen Sinn Féin in Nordirland.

Die erneuten Wahlerfolge der Tories in ihrem Stammland England können die sozialen Spannungen und politischen Risse im Königreich nur kurzfristig überdecken. Neben der Zukunft Schottlands stehen die Zukunftsoptionen Nordirlands auf der Tagesordnung. Wenn die ökonomischen, sozialen und gesundheitspolitischen Verheißungen nicht eingelöst werden, dann werden die Autonomiebestrebungen auch in Wales und in den englischen Regionen handfester.

Die Vision des Globalen Britanniens wird zunehmend mit den Problemen von Klein-England kontrastiert. Statt des Union Jacks wird eben nicht nur die weiße Flagge Englands mit dem roten Georgskreuz gehisst, sondern werden auch Wimpel wie die schwarze St.-Piran-Fahne Cornwalls mit ihrem weißen Kreuz aufgezogen. Dass bei der Wahl der Polizeiführungen in den walisischen und englischen Distrikten die Konservative Partei ihre Dominanz ebenfalls ausgeweitet hat, wird den Tories bei den vielfältigen Problemen im Lande nicht weiterhelfen – zumindest politisch nicht.

Hinrich Kuhls lebt in Düsseldorf und arbeitet in der Sozialistischen Studiengruppe (SOST) mit.

Wahlergebnisse:
Überblick: https://www.theguardian.com/politics/ng-interactive/2021/may/06/2021-elections-results-may-local-scottish-welsh-polls
Nachwahl Hartlepool: https://www.bbc.com/news/uk-politics-57019456
England: https://www.bbc.com/news/election/2021/england
London: https://www.bbc.com/news/topics/c27kz1m3j9mt/london-elections-2021
Wales: https://www.bbc.com/news/election/2021/wales
Schottland: https://www.bbc.com/news/election/2021/scotland
Cornwall: https://www.bbc.com/news/topics/c207p54mlnzt/cornwall-council

Anmerkungen:
[1] Hinrich Kuhls: Wahlen im Vorfeld des Brexit-Referendums. Zu den Regional- und Kommunalwahlen im Vereinigten Königreich. Sozialismus.de Aktuell vom 9.5.2016.
[2] Nadia Leigh-Hewitson: Why Cornish independence could be no joke. Prospect Magazine, 29.4.2021.

Zurück