13. Januar 2024 Bernhard Sander: Ein neuer Regierungschef für Frankreich
Wendepunkt für die Macronie
Nur sechs Monate vor der Wahl zum Europa-Parlament hat der französische Staatspräsident seine Ministerpräsidentin zum Rücktritt gezwungen. Ihr Nachfolger Gabriel Attal gilt als Klon und Hoffnungsträger Emmanuel Macrons, der seine Regierung unter Elisabeth Borne im Kampf um die soziale Umgestaltung der Republik verschlissen hat.
Insbesondere in der Rentenreform musste sich die Regierung von Borne nicht nur gegen dem monatelangen Massenprotest durchsetzen sondern aufgrund fehlender eigener Mehrheit im Parlament auch immer wieder auf den Notverordnungs-Paragrafen der Verfassung zurückgreifen.
Zuletzt scheiterte Borne im Regierungslager mit einem Einwanderungsgesetz, weil sie durch immer mehr Konzessionen an den rechts-nationalistischen Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen einen Teil des eigenen Kabinetts und der Regierungspartei »Renaissance« gegen sich aufgebracht hatte. Das Gesetz wurde schließlich mit den Stimmen der Rechtsextremen und Konservativen angenommen, während ein Viertel des Regierungslagers (»Renaissance« und verbündete Parteien) die Zustimmung verweigerte.
Noch im Dezember trat daraufhin Gesundheitsminister Aurélien Rousseau zurück, der gerade erst wegen seines Eintritts in die Regierung aus den oppositionellen Republikanern ausgeschlossen worden war. Das beliebte Argument, man kämpfe gegen die Allianz von Links- und Rechtsextremen, hat sich für die Macronie damit erledigt.
In seinen Neujahrsgrüßen an die Grande Nation hatte Macron die »Staatsbürgerliche Wiederbewaffnung« in Aussicht gestellt, dessen jugendliche Garde nun Gabriel Attal anführen soll. Bei der Amtsübergabe stieß er ins selbe Horn: »Ich werde das Ziel haben, die Kontrolle über unser Schicksal zu behalten und unser französisches Potenzial freizusetzen«, und erklärte, dass er diese Woche die »treibenden Kräfte des Landes« zusammenbringen werde.
Attal ist mit 34 Jahren der jüngste Premierminister seit dem Zweiten Weltkrieg, lebt in einer homosexuellen Partnerschaft und gilt als besonders medienaffin. Dennoch bedeuten der Senkrechtstarter und sein neues Kabinett eine Rechtswende. Nach seinem Wechsel 2017 von den Sozialisten zur Macron-Partei »Renaissance«, die damals noch »En Marche« hieß, wurde Attal zunächst Parteisprecher und dann mit erst 29 Jahren Staatssekretär im Bildungsministerium. Hier konzipierte er den nahezu militärisch organisierten Freiwilligen-Einsatz von Jugendlichen.
Nach einem Zwischenspiel als Staatssekretär für das Haushaltswesen wurde er verantwortlicher Bildungsminister. In diesem Amt sorgte er im vergangenen Sommer sofort für Aufsehen: Er kündigte an, Mädchen und jungen Frauen das Tragen von Abayas (Übergewändern) an französischen Schulen zu verbieten, da diese einer religiösen Demonstration gleichkämen.
Dieses Verbot ist vor dem Hintergrund des staatstragenden Laizismus zu sehen, der Religion und Staat so weit wie möglich voneinander zu trennen versucht, ist aber auch Symptom eines vor allem von Le Pen und dem RN seit Jahren inszenierten gesellschaftlichen Rechtsrucks, der die Präsenz des Islams aus der Öffentlichkeit zu verdrängen versucht. Im Dezember 2023 stieg der Überflieger laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos zum beliebtesten französischen Politiker auf.
Attal legte bei der Amtsübergabe »drei Hauptachsen« fest, um »unsere Wirtschaft umzugestalten [und] das französische Potenzial freizusetzen«: »Zunächst die Priorität, die der Arbeit eingeräumt wird. Arbeiten muss immer höher bewertet werden als nicht zu arbeiten, während die Inflation, wie ich weiß, weiterhin auf dem Leben der Franzosen lastet. Zweitens ist es der zweite Akt der Befreiung unserer Wirtschaft, insbesondere durch die drastische Vereinfachung des Lebens unserer Unternehmen und Unternehmer. Und schließlich ist es die entschlossene Aktion, die wir für unsere Jugend durchführen müssen, deren Talent nur darauf wartet, zum Ausdruck gebracht zu werden.«
Weiter führte er aus: »Ich nehme hier in das Palais Matignon [seinem neuen Amtssitz als Regierungschef] die Sache der Schule mit. Ich bekräftige die Schule als Mutter unserer Schlachten, als diejenige, die im Mittelpunkt unserer Prioritäten stehen muss und der ich als Premierminister alle für ihren Erfolg notwendigen Handlungsmittel zur Verfügung stellen werde.«[1]
Kürzlich erst hatte Macron die Reindustrialisierung als »Mutter aller Schlachten« bezeichnet. Offenbar ist der Staatspräsident jedoch zu dem Schluss gekommen, mit seinem Modernisierungskurs (forcierte staatliche Investitionstätigkeit, Dekarbonisierung durch AKWs und offshore-Windparks, Aufrüstung als Motor der Digitalisierung usw.) das Wahlvolk nicht wirklich begeistern zu können. Die Programme sind angesichts der hartnäckigen Wachstumsschwäche zu ängstlich dimensioniert und stoßen ohne profunde Eingriffe in die Einkommensverteilung an die Grenzen der sakrosankten Staatsverschuldung.[2]
Der Staatspräsident umgibt sich mit einem Kabinett, das den Medien reichlich sinnfreies Futter bietet, Jugendlichkeit vermittelt und dennoch einen klaren Rechtsruck signalisiert. Dem rechtsradikalen Lager in seiner sozial-entdiabolisierten Ausrichtung (Le Pen) als auch in seiner reaktionären Variante (Eric Zemmour) bieten die Kabinettsmitglieder reichlich Angriffsfläche.
Polizeiminister Gérald Darmanin bleibt im Amt, ebenso wie die Minister der Schlüsselressorts Verteidigung sowie Wirtschaft und Finanzen, die weiter von den bisherigen aus dem konservativen Lager stammenden Chefs Sébastien Lecornu und Bruno Le Maire geführt werden. Im Justizressort verbleibt ebenfalls der soeben von der Anklage der Vorteilsnahme freigesprochene Éric Dupond-Moretti.
Catherine Vautrin, die bislang dem Großraum Reims vorsteht, soll ein neugeschaffenes Superministerium für Arbeit, Soziales und Gesundheit leiten. Der frühere Präsident Sarkozy hatte sich wiederholt für Vautrin eingesetzt gilt als strikte Gegnerin der Homoehe und stammt aus den konservativen Republikanern. Attals bisheriger Lebenspartner ist der Europaabgeordnete Stéphane Séjourné (38), der zugleich auch Vorsitzender der Präsidentenpartei ist und die liberale Renew-Fraktion im EU-Parlament geleitet hat; er wird Europa- und Außenminister und hat nach seiner Ernennung gleich mitteilen lassen, dass die eingetragene Lebenspartnerschaft mit dem neuen Ministerpräsidenten bereits seit Monatn beendet sei.
Raschida Dati, Kind armer Einwanderer aus der Provinz, sorgte bereits als Justizministerin unter Präsident Sarkozy mit strammer rechter Gesinnung für Aufsehen. Sie scheiterte im Wahlkampf um das Amt der Pariser Bürgermeisterin gegen die links-grüne Amtsinhaberin Anne Hidalgo, übertrumpfte allerdings Macrons Kandidatin deutlich. Doch ihre Partei berücksichtigte sie nicht in den seit Jahren andauernden Krisenprozessen um die Ausrichtung der rechts-katholisch-bürgerlichen Republikaner, die sie nun endgültig ausschließt. Als zukünftige Kulturministerin ist sie bisher nicht durch Fachbeiträge aufgefallen. Wie gegen viele Verantwortliche der Sarkozy Ära ermittelt die Justiz auch gegen sie, die zwischen 2010 und 2012 mehr als 900.000 Euro von einer Renault-Filiale für dubiose Beraterverträge erhalten haben soll.
Datis Vorgängerin im Kulturministerium, Rima Abdul Malak, war bei Macron in Ungnade gefallen, weil sie gefordert hatte, dem Schauspieler Gérard Dépardieu die Mitgliedschaft in der Ehrenlegion zu entziehen. Dépardieu steht im Verdacht, Frauen sexuell missbraucht zu haben, was er leugnet. Macron stellte sich öffentlich hinter den Darsteller, der bereits Gast bei Sarkozys rauschender Wahlparty 2013 war.
Im Jahr der Olympischen Spiele und den Paralympics in Paris kommt auf Amélie Oudéa-Castéra, die Ministerin für Sport und jetzt auch für Jugend und Gesundheit viel Organisationsarbeit, aber auch ideologische »Wiederbewaffnung« zu. Die 45 Jahre alte ehemalige Profi-Tennisspielerin absolvierte zusammen mit Präsident Macron die Eliteverwaltungsschule ENA. Ihr Ehemann Frédéric Oudéa leitete lange die Großbank Société Générale.
In den Umfragen für die Aussichten für die Wahl zum Europaparlament[3] liegt Marine Le Pens RN deutlich vor Macrons Partei mit ihrem zum Zeitpunkt der Erhebung noch Spitzenkandidaten Séjourné. Der wegen der Sozialpolitik verhasste und in der Transformationsfrage zögerliche Präsident wird daran nichts ausrichten können, wenn er Mal um Mal dem Rechtslager, zu dem auch die CDU-Partnerpartei »Republicains« gezählt werden muss, durch eigene Initiative nachgibt.
Anmerkungen
[1] https://www.lemonde.fr/politique/article/2024/01/09/gabriel-attal-a-matignon-la-promotion-spectaculaire-d-un-fidele-du-chef-de-l-etat_6209862_823448.html
[2] Siehe dazu detailliert meinen Beitrag »Gelingt die Reindustrialisierung? Schlüsselfrage für die französische Republik«, in: Sozialismus.de, Heft 1-2024, S. 42ff.
[3] Siehe hierzu die detaillierte Übersicht: https://fr.wikipedia.org/wiki/Sondages_sur_les_%C3%A9lections_europ%C3%A9ennes_de_2024