16. Februar 2023 Jeff Butler/Ulrich Bochum/Klaus Kohlmeyer/Stephanie Odenwald:
Berlin hat gewählt

Wenn der Gewinner nicht regieren kann

Die Wiederholungswahl am 12.2.2023 in Berlin hat zu deutlichen politischen Verschiebungen geführt. Die CDU erhielt 28,2% der Stimmen und ging als Gewinner vom Platz. Die SPD erzielte mit 18,4% ihr historisch schlechtestes Wahlergebnis, die Grünen positionierten sich mit ebenfalls 18,4% auf Augenhöhe mit der SPD. DIE LINKE konnte mit 12,2% größere Einbußen vermeiden und feiert dies als Erfolg.

Die AfD erzielte 9,1% und legte leicht zu. Sie hat sich also konsolidiert, konnte aber von der in der Stadt existierenden Proteststimmung nur wenig profitieren. Die FDP scheiterte an der Fünfprozent-Klausel. Die Wahlbeteiligung ging gegenüber 2021, als noch 75,3% der wahlberechtigten Berliner*rinnen wählten, deutlich auf 63,0% zurück.

Im Vorfeld der Wahl hatte das Berlin-Bashing ordentlich Fahrt aufgenommen, Tenor: Hier klappe überhaupt nichts. Die Stadt sei in weiten Teilen dysfunktional und woran der rot-grün-rote Senat schuld ist, der sich nur um die Probleme der inneren Stadt kümmere, wo die Hipster wohnen.

Im Vergleich zu Tübingen ist Berlin definitiv unordentlicher und chaotischer. Allerdings hat Tübingen auch keine 340.000 geflüchteten Personen aufgenommen, wovon 100.000 mittlerweile in Berlin wohnen, und die entsprechenden Schulplätze für die mitgekommenen Kinder bereitzustellen. Über die Bürgerämter und Bezirke muss dies alles verwaltet werden – da ist es leicht, von Versagen zu reden.

Gleichwohl bleibt, dass Rot-Grün-Rot viele Wähler*innen nicht überzeugt und in Summe 5,4% gegenüber der letzten Wahl verloren hat. Die CDU hat dagegen um beeindruckende 10,2% zugelegt. Dies erklärt sich auch daraus, dass die Parteien der Fortschrittskoalition für Schlüsselfelder der Stadtpolitik (Wohnen, Bildung und Kriminalitätsbekämpfung) keine überzeugenden Antworten vorzuweisen hatten.

Zudem ist unklar geblieben ist, wie die sozial-ökologische Transformation der Stadt im Bündnis mit den Bürger*innen umgesetzt werden kann. Auch die häufig auf offener Bühne ausgetragenen Streitereien der Koalitionspartner in wichtigen Sachfragen haben das Vertrauen in die progressive Koalition nicht gerade gestärkt. Dahinter verblassen für einen Teil der Wähler*innen die ökonomischen, ökologischen und sozialen Verbesserungen, die von Rot-Grün-Rot realisiert worden sind.

Was steht auf der Habenseite von Rot-Grün-Rot?

  • Es gibt ein Sozialticket für 9 Euro und ein Monatsticket für 29 Euro bis Ende März.
  • Finanziell schwächer gestellte Menschen haben freien Eintritt in Hallenbäder.
  • Seit dem 1. August 2018 sind Kita und Kindertagespflege für alle Kinder kostenfrei, bis auf die Verpflegung. Familien, die Bürgergeld, Sozialhilfe, Kinderzuschlag, Wohngeld oder Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten, zahlen keine Verpflegungskosten.
  • Ein kostenloses Schulessen für die Klassenstufen 1 bis 6. Das gibt es in keinem anderen Bundesland.
  • »Heizkostenhilfe Berlin«, ein einmaliger Zuschuss von bis zu 80% der Mehrkosten, maximal 2.000 Euro.
  • Masterplan zur Überwindung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit (schätzungsweise sind in Berlin 6-10.000 Personen davon betroffen) bis zum Jahr 2030.
  • Jugendkulturkarte für Jugendliche zwischen 18 und 23 und einmal im Monat ist der Eintritt in die Berliner Museumslandschaft für alle kostenlos.
  • Berlins Wirtschaftswachstum lag im sechsten Jahr in Folge über dem Durchschnitt der bundesdeutschen Wachstumsrate. Das BIP pro Kopf betrug im Jahr 2019 etwa 42.000 Euro und lag damit erstmals seit 1990 über dem gesamtdeutschen BIP pro Einwohner von 41.400 Euro, 2021 liegt es bei 44.472.

In der Wohnungsfrage wird meist unterschlagen, dass zwischen 2019 und 2021 50.000 Wohnungen neu entstanden sind, im Schnitt 16.000-18.000 Wohnungen pro Jahr, eine Zahl, die andere westdeutsche Großstädte lange nicht erreichen. Dies reicht zwar nicht zur Beseitigung der Wohnungsnot, eine Bankrotterklärung ist es aber keineswegs. Der eingetretene Stillstand ist externen Einflüssen wie der Preisentwicklung für Baumaterialien geschuldet.

Der Spitzenkandidat der CDU, Kai Wegner, ein Spandauer Gewächs, hat das Narrativ von der nicht funktionierenden Stadt ausgiebig bedient und beharrt nun auf dem Willen des Volkes nach einem Wechsel. Das klingt mit gerade einmal 28,2% im Rücken ziemlich vollmundig, auf die Wahlberechtigten bezogen sind das gerade einmal 17,7%. Dies ist wohl kaum die Mehrheit, die einen Wechsel befürwortet. Eher ist das Gegenteil der Fall: Die rot-grün-rote Koalition hat nach wie vor eine Mehrheit und repräsentiert Berlin in seiner Vielfalt adäquater als die CDU.

Die CDU kann nicht Großstadt und sie hat in Bezug auf die Entwicklungsperspektiven Berlins nichts anzubieten, das gilt auch für die SPD. Am ehesten bietet hier der sozial-ökologische Stadtumbau, wie ihn die Grünen und auch DIE LINKE vertreten, eine Art Zukunftsperspektive.

Was die CDU in den anstehenden Sondierungsverhandlungen zustande bringt, wird man abwarten müssen, eine Große Koalition wäre ihr wohl am liebsten. Das fände offensichtlich auch Franziska Giffey gut, deren Zukunft als Gesicht der Berliner SPD auf der Kippe steht. In einer Neuauflage der regierenden progressiven Koalition könnte die SPD auch Alternativen zu ihr präsentieren, etwa Kevin Kühnert oder die Bundestagsabgeordnete Cansel Kiziltepe, die beide in Berlin verankert sind. Dies könnte auch einen Antrieb für die von der Wählerschaft erwünschte Veränderung in der Berliner Politik geben.

Der Zuwachs der CDU beruht auf Proteststimmen, sicher auch aufgrund der Unzufriedenheit mit den ewigen Streitereien in der Koalition. Unzufriedenheit herrscht definitiv in Bezug auf den Bildungsbereich, den die SPD seit 25 Jahren verantwortet und zunehmend untergraben hat: miserable Arbeitsbedingungen für die Lehrer, große Klassen, schlechtere Gebäude, stockender Schulneubau, schlechte Bezahlung der Lehrkräfte, längere Arbeitszeiten usw. Es ist aber grotesk hier von der CDU eine Verbesserung zu erwarten. Sie steht für eine konservative Verfassung des Bildungswesens, für die Selektivität der Bildung und den Erhalt der Bildungsprivilegien. Der Zustand des Bildungssektors hat viele der SPD entfremdet.

Die politische Landkarte Berlins nach der Wahl zeigt eine Spaltung zwischen tiefschwarzen Randbezirken und grünen Innenstadtbezirken, also zwischen innen und außen. Die CDU gewinnt fast alle Direktmandate außerhalb der Innenstadt. Dort gehen fast alle Direktmandate an die Grünen. Dieser Gegensatz zwischen Innen und Außen wird nun so interpretiert, dass die CDU die Interessen der Pendler und Gewerbetreibenden, die auf das Auto angewiesen sind, gegen die bornierten Forderungen der Grünen für eine autofreie Innenstadt vertrete.

Dies korrespondiert aber nicht mit den drei wichtigsten Themen, die das Berliner Wahlvolk bewegt haben. Das sind Wohnen, Kriminalitätsbekämpfung und Bildungspolitik, erst mit einigem Abstand folgt die Verkehrspolitik. Die Sperrung der Friedrichstraße für den Autoverkehr hat eine überproportional große Erregungswelle hervorgerufen, weil sie schlecht organisiert und kommuniziert war und alles wenig attraktiv aussah – die in die Gegend gestellten Holzmöbel sahen eher so aus, als hätte die grüne Spitzenkandidatin Bettina Jarasch ihren Sperrmüll dort abgeladen.

Obwohl im Vorfeld des Wahlkampfes das Thema Verwaltungsreform, insbesondere die Abstimmung des Handelns zwischen Senat und Bezirken und die damit verbundenen gegenseitigen Blockaden als Handlungsfeld für eine zukünftige Politik ausgemacht wurden, spielte dies im Wahlkampf kaum eine Rolle; die FDP, die hier Vorschläge im Sinne einer stärkeren Zentralisierung vorlegte, wurde abgestraft.

Dabei wird übersehen, dass es bereits in den 1990er-Jahren Ansätze zu einer Verwaltungsreform gab. Damals wurde mit Hilfe verschiedener Unternehmensberatungen eine Aufgabenkritik in den Verwaltungsressorts und den Bezirken angegangen, und zwar durchaus mit Engagement der Beteiligten. Die vorhandene Bereitschaft, sich kritisch mit dem eigenen Tun auseinanderzusetzen und auch einmal über den Tellerrand des eigenen Bereichs hinauszuschauen, wurde aber in den oberen Etagen nicht aufgenommen, so dass der Reformwille versackte. Übrig blieb vor allem die Kosten- und Leistungsrechnung, was folgerichtig in die Sparorgie des öffentlichen Sektors zu Beginn der 2000er Jahre führte. Wäre es nicht sinnvoll, hieran anzuknüpfen und das Engagement der Beteiligten diesmal ernst zu nehmen?

Ein Wort zur LINKEN: Das selbstgefällige Auf-die-Schulter-Klopfen, man habe den Abwärtstrend aufgehalten, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass DIE LINKE auch in Berlin seit 2016 massiv an Stimmen verloren hat. Die Partei war in der Regierungskoalition ein Anhängsel und wird es auch in einer neuerlichen Koalition sein.

Dabei ist unbestritten, dass sie auf dem wichtigen Feld der sozialen Wohnungspolitik die entscheidende Kompetenz besitzt. Es wäre zu wünschen, dass die Vergesellschaftung der großen Wohnungsunternehmen durchgesetzt werden könnte. Die Chancen dafür sind aber eher gering. Insofern müssen auch Wege jenseits der Vergesellschaftung beschritten werden, etwa durch eine schrittweise Ausdehnung des öffentlichen Eigentums am Wohnungsbestand und durch öffentlichen Neubau. Zumindest in Berlin aber auch in anderen Großstädten kann DIE LINKE im Sinne von Erprobungen alternativer Ansätze zeigen, dass sie der Bevölkerung andere Wege anzubieten hat. Dabei kann man auch scheitern wie beim Mietendeckel, aber die Deckelungspolitik ist mittlerweile auch in anderen Bereichen zum Instrument der Politik geworden.

Sollte es erneut zur Bildung einer rot-grün-roten Koalition kommen, müssen für die Schlüsselthemen der Stadt (Wohnen, Bildung, sozial-ökologische Transformation) neue Antworten und Perspektiven gefunden werden. Andernfalls drohen vor allem der SPD und der LINKEN in Berlin weitere Schritte in die politische Bedeutungslosigkeit.

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