24. Juli 2019 Otto König/Richard Detje: DGB-Index »Gute Arbeit« – Sonderauswertung »körperlich harte Arbeit«

Wenn die Arbeit zum Knochenjob wird

Foto: Rauchbier/flickr.com (CC BY 2.0)

Der Strukturwandel in Produktion und Dienstleistungen wird in den kommenden Jahren zu massiven Umbrüchen in der Unternehmenslandschaft und im Beschäftigungssystem führen.

Vor allem die Automobilproduzenten und die Zulieferer geraten durch die Megatrends der Digitalisierung, der Dekarbonisierung und der Elektromobilität unter Druck. Produkte und Technologien, Produktionsverfahren, Geschäftsmodelle und Arbeitsbedingungen werden sich gravierend verändern.[1]

Technologisch bedingte Veränderungen in der Arbeitswelt können zur Entlastung beitragen, wenn Roboter oder Assistenzsysteme physische Anforderungen verringern. Der Wandel kann jedoch auch neue Belastungen hervorbringen, etwa wenn sich Arbeitsabläufe ständig wiederholen oder Beschäftigte bei ihrer Tätigkeit einen Mangel an Bewegung aufweisen. Allerdings sind die Folgen der Digitalisierung hinsichtlich der Arbeitsbelastungen unklar. Bei einer Befragung der IG Metall im Frühjahr 2019 über den Stand der »Transformation« in den Betrieben und speziell zu den künftigen Arbeitsbelastungen erklärten 46% der befragten Betriebsräte, sie sähen die Chance, dass bestehende Belastungen teilweise reduziert werden könnten. Gleichzeitig fürchten 78% der Betriebsräte jedoch, dass die Digitalisierung neue Arbeitsbelastungen für die Beschäftigten bringen wird.[2]

Dass trotz der voranschreitenden Digitalisierung und trotz des Einsatzes von Industrierobotern der Anteil der Beschäftigten mit schwerer körperlicher Arbeit ebenso wie das Arbeiten in ungünstigen Körperhaltungen nicht seltener geworden ist, sondern in den letzten Jahren stabil geblieben ist, geht aus einer Sonderauswertung der Befragung zum DGB-Index Gute Arbeit 2018[3] hervor. Danach leisten insgesamt 30% aller Beschäftigten »sehr häufig« (16%) oder »oft« (14%) körperlich schwere Arbeit. In ungünstigen Körperhaltungen arbeiten insgesamt 52% der Beschäftigten »sehr häufig« (30%) oder »oft« (22%).

Das gilt nicht nur für Beschäftigte, die in der Produktion oder auf dem Bau arbeiten. Auch in vielen Dienstleistungsbereichen ist die Arbeit körperlich belastend. In den Pflegeberufen sind 74% und in Verkaufsberufen 53% der Beschäftigten betroffen. Das Geschlecht spielt dabei kaum eine Rolle. Frauen sind mit 27% fast genauso stark belastet wie Männer mit 33%. Bei Frauen ist die Quote besonders bei den Sicherheits- und Reinigungsberufen höher, wo 36% der Frauen, aber nur 19% der Männer häufig oder oft körperlich schwer arbeiten. Bei der Arbeit in ungünstigen Körperhaltungen (»sehr häufig/oft«) sind die Anteile von Frauen (54%) und Männern (52%) auf einem vergleichbar hohen Niveau.

Die Befragung hat ergeben, dass körperlich schwere Arbeit überproportional von Beschäftigten geleistet wird, die ohnehin schon unter schwierigen Verhältnissen durch Arbeitszeitlage, Beschäftigungsverhältnis (befristet/unbefristet), Qualifikation und Einkommen arbeiten wie beispielsweise Schicht- oder Leiharbeiter*innen. Leiharbeiter*innen sind mit einem Anteil von 53%, Geringqualifizierte mit 52% und Schichtarbeiter*innen mit 50% betroffen. 52% der Beschäftigten mit einem Hauptschulabschluss leisten körperlich schwere Arbeit, hingegen nur 12% der Beschäftigten mit Abitur. Eine erstaunliche Kluft zeichnet sich auch ab, wenn man einen Blick auf das Einkommen wirft: Diejenigen, die zwischen 800 und 2.000 Euro brutto im Monat verdienen, müssen sehr viel öfter (42%) körperlich hart arbeiten als jene, die mehr als 4.000 Euro bekommen (6%).

Die Negativfolgen körperlich harter Arbeit werden potenziert, wenn Stress am Arbeitsplatz hinzukommt. Respektloses Verhalten von anderen, Konflikte und Streitigkeiten beispielsweise mit der Kundschaft gehören auch zum Arbeitsalltag von Arbeitnehmer*innen, die körperlich harte Arbeit leisten und weniger Respekt und Wertschätzung erfahren. So haben in den letzten Jahren besonders psychische Belastungen in der Arbeitswelt zugenommen.

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Arbeitnehmer*innen, die regelmäßig hart arbeiten, ihren Gesundheitszustand schlechter einschätzen als andere. 73% der Befragten, die nie Schwerarbeit leisten, beschreiben ihre gesundheitliche Verfassung als gut oder sehr gut, aber nur 49% derjenigen, die das sehr häufig tun müssen. Laut Arbeitsunfähigkeitsstatistik waren Beschäftigte im Jahr 2017 im Durchschnitt 16,7 Tage krankgeschrieben. Nach Diagnosegruppen hatten den höchsten Anteil Muskel-Skelett-Erkrankungen mit 22,5% der Ausfalltage noch vor psychischen Erkrankungen mit 16%. Dennoch: Die Zahl der Krankentage wegen psychischer Probleme hat sich innerhalb von zehn Jahren verdoppelt – von rund 48 Millionen im Jahr 2007 auf 107 Millionen im Jahr 2017. Das geht aus einer Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag hervor. Für ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Arbeitsleben sind sie mit Abstand die häufigste Ursache.

Die Zahl der Befragten, die davon ausgeht, dass sie unter diesen Bedingungen nicht bis zum Erreichen des gesetzlichen Rentenalters arbeiten können, ist höher als bei jenen, die keiner körperlich schwerer Arbeit nachgehen: Nur 21% der sehr oft körperlich schwer Arbeitenden erwarten, dass sie bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter durchhalten können, während es bei den Arbeitnehmer*innen, die nie körperlich schwerer Arbeit nachgehen, 65% sind.

Diese selbsteinschätzenden Befragungsergebnisse des DGB-Index Gute Arbeit werden durch den im Mai vorgelegten IAQ-Report »Soziale Unterschiede im Mortalitätsrisiko«[4] untermauert. Darin gehen die Autoren Martin Brussig und Susanne Eva Schulz u.a. der Frage nach, wie das »frühere Arbeitsleben die fernere Lebenserwartung« beeinflusst. Nach den von ihnen vorgelegten Ergebnissen haben Personen jenseits des 65. Lebensjahres, die sehr hohen Arbeitsbelastungen ausgesetzt waren, ein deutlich höheres Mortalitätsrisiko als Personen mit sehr niedrigen Arbeitsbelastungen. Arbeitsbelastungen wirken somit über die Erwerbsphase hinaus fort. Dem IAQ-Report ist zu entnehmen, dass beispielsweise Beschäftigte im Bergbau nach Erreichen des 65. Lebensjahres statistisch gesehen noch etwa elf Jahre zu leben haben, Techniker dagegen rund 17 (Männer) oder 20 Jahre (Frauen). Über alle Branchen und Berufsgruppen hinweg liegt die sogenannte ferne Lebenserwartung bei Menschen mit einer sehr niedrigen Arbeitsbelastung knapp zwei Jahre über dem Durchschnitt, bei Menschen mit einer sehr hohen Belastung ein Jahr darunter.



»Jene, die ein höheres Rentenalter fordern, nehmen damit neue Ungerechtigkeiten in Kauf, denn wer früher stirbt, bekommt auch eine kürzere Zeit Rente«, kommentiert Annelie Buntenbach die Ergebnisse. Für das DGB-Vorstandsmitglied steht deshalb fest: Da sich ein Knochenjob nicht bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter durchhalten lässt, muss die Möglichkeit bestehen, ohne Rentenabschläge vorher ausscheiden zu können. Deshalb sei es notwendig, »die Übergänge aus dem Erwerbsleben in die Rente flexibel zu gestalten«.

Aus der Sonderauswertung des DGB-Index Gute Arbeit wird zudem deutlich, dass Entlastung möglich ist und sich positiv auswirkt. So sind 56% der Befragten überzeugt, dass eine positive Veränderung der Arbeitsbedingungen an ihrem Arbeitsplatz dafür sorgen würde, dass sich ihr Gesundheitszustand verbessert. Von den Betroffenen, die unter schlechten Arbeitsbedingungen leiden, sind 82% der Auffassung, dass ihnen mit besseren Arbeitsbedingungen enorm geholfen werden könnte.

Dies anzupacken und eine Verbesserung von Arbeits- und Gesundheitsschutz anzustreben, gehört laut Arbeitsschutzgesetz zu den Pflichten des Arbeitgebers. Kernstück des dort vorgeschriebenen Arbeitsschutzhandelns ist die Gefährdungsbeurteilung, die in einer Mehrzahl der Betriebe entweder gar nicht oder nur unvollständig durchgeführt wird. Aus der Befragung der IG Metall zum »Stand der Transformationsprozesse« geht hervor, dass nur in 38% der Betriebe ausreichende Gefährdungsbeurteilungen stattfinden und in noch weniger Betrieben (28%) auf eine menschengerechte Gestaltung der Arbeitsplätze im Zuge der Digitalisierung der Arbeit geachtet wird. »In der Debatte um die moderne digitale Arbeitswelt kommt das Thema körperliche Belastungen bislang vielfach zu kurz«, kritisiert Hans-Jürgen Urban, geschäftsführendes Vorstandmitglied der IG Metall, zurecht.

Technologisch bedingte Veränderungen in der Arbeitswelt können sehr wohl zur Entlastung beitragen, wenn Roboter oder Assistenzsysteme so eingerichtet sind, dass sie physische Anforderungen verringern. Für eine weitere Entlastung der betroffenen Beschäftigten kann wo immer möglich durch einen Wechsel der Tätigkeit oder durch zusätzliche Pausen gesorgt werden. Gleichzeitig gilt es zu verhindern, dass die Digitalisierung zu einer weiteren Entgrenzung und Verdichtung von Arbeit führt.

Für Urban ergibt sich daraus ein arbeitspolitischer Handlungsauftrag, dem sich die Arbeitgeber und die Politik stellen müssen. Mit Nachdruck plädiert der Gewerkschafter dafür, gerade in der historischen Phase des Umbruchs die Instrumente einer präventiven Arbeitsgestaltung im Sinne eines vorausschauenden Gesundheitsschutzes zu nutzen. Um die Beseitigung unzumutbarer Belastungen voranzutreiben, hat die IG Metall die Initiative »Runter mit der Last« gestartet.


[1] Vgl. Hans-Jürgen Urban: Gute Arbeit in der Transformation. Über eingreifende Politik im digitalen Kapitalismus. Hamburg 2019.
[2] Otto König/Richard Detje: Die Digitalisierung industrieller Arbeit. Der »Transformationsatlas« der IG Metall, Sozialismus 9/2019. Die IG Metall befragte im Frühjahr 2019 über 10.000 Betriebsräte aus 1.964 Betrieben mit rund 1,7 Millionen Beschäftigten und Vertrauensleute, wie stark der Wandel »ihr« Unternehmen erfasst und wie gut es auf die kommenden Veränderungen vorbereitet ist.
[3] »Körperlich harte Arbeit« – so beurteilen die Beschäftigten ihre Belastungen. Ergebnisse einer Sonderauswertung der Repräsentativumfrage zum DGB-Index Gute Arbeit 2018, Institut DGB-Index Gute Arbeit Berlin. Der Bericht basiert auf den Angaben von 8.011 abhängig Beschäftigten. Befragt wurden zufällig ausgewählte Arbeitnehmer*innen aus allen Branchen, Einkommens- und Altersgruppen, Regionen, Betriebsgrößen, Wirtschaftszweigen und Beschäftigungsverhältnissen (außer Auszubildende), gewerkschaftlich Organisierte wie Nicht-Mitglieder.
[4] Martin Brussig/Susanne Eva Schulz: Soziale Unterschiede im Mortalitätsrisiko – Das frühere Arbeitsleben beeinflusst die fernere Lebenserwartung, IAQ-Report 6/2019, Universität Duisburg-Essen.

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