4. März 2020 Otto König/Richard Detje: China im Visier der Münchner Sicherheitskonferenz

»Westlessness« oder die Desorientierung der Nato

Foto: Alexander Stirn/flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)

In welchem Maße die Welt aus den Fugen geraten ist, bestätigt sich in diesen Tagen. Lassen wir sie kurz Revue passieren:

Nachdem islamistische Rebellenverbände mit Rückendeckung türkischer Einheiten am Donnerstag vergangener Woche die strategisch wichtige Stadt Saraqib in der nordsyrischen Provinz Idlib von der syrischen Armee zurückerobert hatten, ließ die Antwort keine 24 Stunden auf sich warten. 34 türkische Soldaten fielen Angriffen russischer Luftstreitkräfte zum Opfer, worauf die Türkei eine neue Offensive startete. Umgehend flackerte der Konflikt zwischen der Türkei und Russland wieder auf, in dem die Türkei jedoch ohne Aussicht auf Machtgewinn ist. Bei der Europäischen Union und deren Nato-Mitgliedstaaten sieht das schon anders aus. Ihnen gegenüber zog der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Trumpfkarte, indem er die Vereinbarung aufhob, Flüchtlinge in der Türkei an der Weiterreise nach Griechenland und Bulgarien zu hindern. Daraufhin schrillten in Brüssel und in den EU-Hauptstädten die Alarmglocken. Umgehend wurde über 50 Schiffe der griechischen Küstenwache und Marine mit Unterstützung der EU-Operation Frontex im Osten der Ägäis zum Einsatz gebracht.

Dass die Türkei als Nato-Mitgliedstaat Beistand einfordert, war nicht mehr als eine Volte. Aber eine überlegte: Die Position des »Westens« wurde eingeklagt, und die USA reagierten umgehend mit Unterstützungsangeboten. Rückendeckung im Syrienkonflikt, aber nicht minder wichtig mit Blick auf die Auseinandersetzungen in Libyen (ein Staat, der längst aufgehört hat, zu existieren), wo die Türkei nicht minder offensiv ihr Interesse verfolgt, den Zugriff auf die Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer abzusichern.

Und schließlich: Wie erwartet haben sich die USA in Afghanistan mit den Taliban darüber verständigt, dass »innerhalb von 14 Monaten alle ausländischen Truppen das Land verlassen«. Trump ist im Wahlkampfmodus – er holt die Truppen zurück.

Was heißt das für die westliche Sicherheitsarchitektur? Eine falsch gestellte Frage: Architektur erfordert Statik und die hat die Nato nicht zu bieten. Deshalb war die 56. Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) zumindest in diesem Punkt einmal klar: »Westlessness«, die Nicht-Existenz einer einheitlichen Strategie des Militärsystems des »Westens« war das Thema. Schauen wir uns an, was im Hotel Bayerischer Hof im München an strategischen Herausforderungen und Zielen Mitte Februar diskutiert wurde.

Dazu ein kurzer Rückblick. Genau sechs Jahre ist es her, dass auf der MSC 2014 Bundespräsident Joachim Gauck, Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) unisono forderten, Deutschland müsse mehr Verantwortung und ein stärkeres militärisches Engagement übernehmen. Auf der diesjährigen Konferenz klagte die Oberbefehlshaberin der Bundeswehr, Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU): »Wir haben das Versprechen von 2014 noch nicht vollständig eingelöst«, deshalb müsse »aus dem Münchner Konsens der Worte ein Münchner Konsens des Handelns werden.«

Willen zum Handeln heißt: mehr Auslandseinsätze, mehr Waffenexporte, weitere Aufrüstung und stärkere Militarisierung der EU. Dazu sind im Gespräch ein Luftwaffeneinsatz über Libyen, die Ausweitung der Bundeswehroperationen im Sahel sowie eine mögliche Marineintervention an der Straße von Hormuz. Außenminister Heiko Maas griff ein altes Motto sozialdemokratischer Militärpolitik auf: Die Sicherheit der Deutschen werde heute nicht mehr nur »am Hindukusch« (dort ist das Thema durch), sondern auch »im Irak, in Libyen und im Sahel« verteidigt. Angesichts des »vermeintlichen« Rückzugs der USA aus internationalen Konflikten plädierte der SPD-Politiker für einen »Aufbau einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion als starken, europäischen Pfeiler der Nato«. Zuvor hatte Bundespräsident Steinmeier erklärt, für Deutschland sei »die Entwicklung einer verteidigungspolitisch handlungsfähigen EU ... unabdingbar«.

MSC-Veranstalter Ischinger hatte die 56. Sicherheitskonferenz[1] mit dem Begriff der »Westlessness« überschrieben. Die Wortkreation soll die tiefe Verunsicherung über die Erosion alter geostrategischer Gewissheiten ausdrücken. So wird wohl bewusst in der offiziellen Konferenzbroschüre, dem »Munich Security Report 2020«[2], gleich im ersten Absatz Oswald Spenglers »Untergang des Abendlandes« zitiert. Schließlich sehe sich die westliche Werte- und Sicherheitsgemeinschaft sowohl mit einem wiedererstarkten Russland und einem immer selbstbewusster agierenden China konfrontiert als auch von innerer Zersetzung bedroht.

Heiko Maas bedauerte, dass »die Ära des omnipräsenten amerikanischen Weltpolizisten für alle sichtbar zu Ende geht«. In diese geopolitische Lücke, vor allem im Nahen und Mittleren Osten, würden Länder wie Russland, die Türkei und der Iran drängen. Damit wiederholte er die Klage von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, dass die Politik der Vereinigten Staaten bereits seit Jahren »einen gewissen Rückzug und ein Überdenken ihrer Beziehung zu Europa« beinhalte. Als Konsequenz, so Macron, müsse sich die EU zu einer »strategisch-politischen Macht« entwickeln, um sich selbst zu schützen. Dazu gehöre auch ein eigener atomarer Schutz. »Wir brauchen einen strategischen Dialog mit allen Partnern, die das wünschen, auch im atomaren Bereich«. Das sei »kein Projekt gegen die Nato oder eine Alternative zur Nato«.

Die nach München gereisten US-amerikanischen Politiker wiesen jedoch jeden Gedanken an eine Schwächung des Westens zurück. Er könne das Motto von der »Westlessness« nicht nachvollziehen, im Gegenteil: Er sei glücklich, mitteilen zu können, »dass der Tod des transatlantischen Bündnisses eine krasse Übertreibung ist«, sagte US-Außenminister Mike Pompeo und schmetterte ins Publikum: »Der Westen gewinnt, und wir gewinnen gemeinsam.« Immer mehr Menschen weltweit und mehr Länder würden dem westlichen Modell folgen und dieses anstreben.

In den Debatten auf der MSC wurden vor allem Feindbilder aktiviert: das alte Feindbild Russland und das neue Feindbild China. Aus der Sicht von Nato-Generalssekretar Jens Stoltenberg reagiere das Bündnis nur auf den Versuch Russlands, »seinen Einfluss in der Welt zu stärken und eine Welt der Einflusssphären wieder zu schaffen«. Manöver wie »Defender Europe 2020« und einsatzbereite Truppen in Polen und in den baltischen Staaten seien ein starkes Signal: »Die Nato ist da«. Was den russischen Außenminister Sergej Lawrow zu der Replik veranlasste, der Ausbau der militärischen Infrastruktur der Nato in Richtung Osten, das beispiellose Ausmaß an Übungen an den russischen Grenzen, das unermessliche Aufpumpen von Verteidigungsbudgets – all dies führe zu neuer Unberechenbarkeit und Unsicherheit. Im Kern werde »die Struktur der Konfrontation des Kalten Krieges wiederbelebt«.

Währenddessen definierten die in München anwesenden Politiker der Washingtoner Trump-Administration den Westen fast ausschließlich als Bollwerk gegen die Volksrepublik China. Außenminister Mike Pompeo und US-Verteidigungsminister Mark Esper erklärten den Verbündeten und dem Rest der Welt, worin sich US-Kongress und Regierung einig seien und wo es langzugehen habe: »Wir befinden uns ... in einer Epoche der Großmachtkonkurrenz, und unsere wichtigsten Herausforderer sind China und dann Russland« (Esper), weshalb es umso mehr erforderlich sei, sich in einer hegemonialen Auseinandersetzung gegen beide auch militärisch in Stellung zu bringen. Während die USA »das Gerede von der Aufgabe ihrer Führungsrolle« Lügen strafen würden, gingen Washingtons Kritiker den Feinden auf den Leim: den Iranern, die sie sich zu Opfern erklärten; den Russen, die die Gasleitung Nord Stream 2 als rein ökonomisches Projekt verklärten; den Chinesen, wenn sie Huaweis 5G-Technik einfach als gutes Angebot verkauften.[3]

Dass die USA nahezu den gesamten Orient in Brand gesteckt und Lateinamerika wieder verschärft ins Visier genommen haben, verstörte kaum jemanden der 150 führenden Regierungsvertreter*innen aus aller Welt, die sich in der bayerischen Landeshauptstadt gegenseitig ihre Friedfertigkeit bestätigten, während weltweit das Geschäft mit Rüstungsexporten boomt. Laut einer aktuellen Studie des »Internationalen Instituts für Strategische Studien« (IISS) sind die weltweiten Rüstungsausgaben 2019 um 4% gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Das meiste Geld haben die USA, China, Saudi-Arabien, Russland und Indien für Rüstung ausgegeben.

Deutschland liegt mit 48,5 Milliarden US-Dollar an neunter Stelle nach Japan und vor Südkorea. China investierte 2019 rund 181 Milliarden in das Militär. Die USA hatten mit 6,6% Mehrausgaben den höchsten Zuwachs in den letzten zehn Jahren und geben damit dreieinhalb Mal so viel für das Militär wie China aus – 704,6 Milliarden US-Dollar im Jahr 2020 (Telepolis 17.2.2020). Auch deshalb ist für die Rüstungsindustrie die MSC ein ausgezeichneter Ort zur Geschäftsanbahnung, denn dort sitzen die Sponsoren der Konferenz und die Profiteure der gegenwärtigen Aufrüstungspolitik mit am Tisch – unter vielen anderen die Rüstungskonzerne Airbus, Lockheed Martin, Raytheon und Rheinmetall sowie Krauss-Maffei Wegmann, Hensoldt, BAE Systems und MBDA. Also jene, die mitverantwortlich sind für weltweite Kriege, millionenfaches Flüchtlingselend und Umweltzerstörung.

Führende Atomwissenschaftler der Welt haben mittlerweile verkündet, dass sie sich dazu entschlossen haben, die Atomkriegsuhr (Doomsday Clock)[4] auf 100 Sekunden vor zwölf Uhr zu stellen. Die Forscher nennen drei Hauptgründe, warum die Gefahr für die Existenz der Menschheit gewachsen sei: Atomwaffen, Klimawandel und Cyber-Informationskriege. Das heißt: Gefragt sind jetzt keine Großmachtphantasien, sondern Initiativen für kollektive Sicherheit und Rüstungskontrolle. Abrüstung ist das Gebot der Stunde.

Dass die MSC damit nichts anzufangen weiß, ist klar. Die in München geführten strategischen Debatten gingen weit an den realen Konfliktherden vorbei, wie das vergangene Wochenende gezeigt hat. Die Konferenz verdeutlichte damit erneut: Sie ist so überflüssig wie ein Kropf.


[1] Die Organisatoren der Sicherheitskonferenz bezeichnen diese als »politisch unabhängige internationale Dialogplattform«. Das Treffen wird von der Stiftung Münchner Sicherheitskonferenz organisiert. Die Kosten der Zusammenkunft in Höhe von etwa zehn Millionen Euro tragen jedoch vor allem der Freistaat Bayern und die Bundesregierung, letztere ist seit diesem Jahr über die Stiftung auch institutionell mit der SiKo verbunden. Zwei Millionen Euro zahlte das Verteidigungsministerium als »einmalige Zustiftung«. Hinzu kommen 600.000 Euro Projektförderung für das aktuelle Event – 100.000 Euro mehr als im Vorjahr. Das geht aus der Antwort des Verteidigungsministeriums auf eine schriftliche Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke von den LINKEN hervor.
[2] »Westlessness«, Munich Security Report 2020, Januar 2020.
[3] Die USA haben die Münchner Sicherheitskonferenz genutzt, um einen erneuten Generalangriff auf die EU in Sachen Huawei zu starten. Nach der Entscheidung der britischen Regierung wie auch der EU, Huawei-Technologie nicht prinzipiell vom Aufbau ihrer jeweiligen 5G-Netze auszuschließen, drohten die US-Minister für Äußeres und für Verteidigung in München mit Konsequenzen. Mark Esper sagte »Störungen, Manipulation und Spionage« voraus und behauptete, die Nutzung von Huawei-Technologie bei 5G könne »das erfolgreichste Militärbündnis der Geschichte – die NATO – gefährden«. Mike Pompeo, dessen Land durch den Kauf einer schweizerischen Verschlüsselungsfirma durch den CIA gemeinsam mit dem BND über Jahrzehnte Regierungen aus rund 130 Ländern abgehört hat, nannte Huawei ein »trojanisches Pferd für die chinesischen Geheimdienste«. Chinas Außenminister Wang Yi sprach von einer »Schmierenkampagne« der USA.
[4] Die »Doomsday Clock« ist eine symbolische Uhr des Bulletin of the Atomic Scientist, sie soll verdeutlichen, wie hoch das aktuelle Risiko einer globalen Katastrophe ist. 1947 startete sie mit den Zeigern auf »sieben Minuten vor Zwölf«. Dem Gremium, das darüber entscheidet, wie die Uhr steht, gehören namhafte Wissenschaftler, darunter viele Nobelpreisträger, aus aller Welt an.

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