6. Dezember 2022 Otto König/Richard Detje: Erdoğan bombardiert, der Westen schweigt

Westliche Doppelmoral

Seit den späten Abendstunden des 19. November wurden die seit Jahren schwersten Luftangriffe auf die Selbstverwaltungsregion in Nord- und Ostsyrien geflogen. Die Luftoffensive »Klauenschwert« richtete sich unter anderem gegen Kobani sowie Derik und die Schahba-Region nördlich von Aleppo.

Auch auf das Asos- sowie das Kandil-Gebirge im Nordirak erfolgten Angriffe der türkischen Luftwaffe. Den Bombardements fielen zahlreiche Zivilisten zum Opfer. Zivile Infrastruktureinrichtungen wie Krankenhäuser, Schulen und die Versorgung mit Wasser, Strom und Gas wurden gezielt zerstört. »Die Kontrolle über Wasserzufuhr, Gebietsbesetzungen und die Unterstützung islamistischer Milizen bedeuten eine existentielle Bedrohung der Menschen in der Region und zielen auf die Schwächung der autonomen Selbstverwaltung in Nordostsyrien«, so Anita Starosta, Referentin von medico für Syrien, die Türkei und den Irak.

Nach den Luftangriffen erklärte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan: »In kürzester Zeit werden unsere Panzer alle dort mit Stumpf und Stiel ausrotten.« Erklärtes Ziel des Autokraten ist weiterhin, eine Pufferzone im Norden Syriens zu errichten, das kurdische Autonomiegebiet Rojava auszulöschen, die dortige Bevölkerung zu vertreiben, um einen Teil der syrischen Geflüchteten anzusiedeln, die in der Türkei leben.

Die sogenannte Sicherheitszone, die bis zu 30 Kilometer tief nach Rojava hineinreichen soll, existiert schon teilweise. 2017, 2018 und 2019 haben die türkische Luftwaffe sowie Spezialeinheiten gemeinsam mit islamistischen syrischen Milizen, die in vielen Fällen zuvor als Kämpfer des Islamischen Staates (IS) aktiv waren, in drei blutigen Militäroperationen mehrere Gebiete angegriffen und erobert. Was das bedeutet, zeigt die Region Afrin, die seit 2018 unter türkischer Besatzung steht. Es kam zur gewaltsamen Vertreibung von weit über 150.000 kurdischsprachigen Syrern. Beobachter sprechen von einer gezielten Kampagne zur »Türkisierung« Nordsyriens.

Mit Unterstützung durch dschihadistische Söldnertruppen, tödlichen Drohnen- und Raketenangriffen, Landnahmen, Vertreibungen, ethnischen Säuberungen und Zwangsumsiedlung von Flüchtlingen handelt die Türkei zweifellos völkerrechtswidrig. Die »Verstöße gegen das Gewaltverbot« der UN-Charta, so der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags, geschehen ohne jede Bedrohungslage, ohne Selbstverteidigungssituation.

Wer also Russlands Invasion in die Ukraine als völkerrechtswidrig geißelt, muss auch die Kriegsangriffe der Türkei gegen Kurden in Nordsyrien und Nordirak klar und deutlich verurteilen und als das benennen, was sie sind: systematische völkerrechtswidrige Angriffe eines NATO-Mitglieds auf souveräne Staaten und ihre Zivilbevölkerung. Alles andere ist Doppelmoral.

Wie zu erwarten war, nimmt die türkische AKP/MHP-Regierung das Attentat in Istanbul am 13. November zum Anlass, um die Militärinterventionen in Nordsyrien und dem Nordirak durchzuführen. Die PKK sowie die kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG würden hinter dem Attentat stecken, hieß es umgehend. Es sei die »Zeit der Abrechnung: Die Niederträchtigen werden für ihre verräterischen Angriffe zur Rechenschaft gezogen«, twitterte der Sprecher des türkischen Präsidenten, Ibrahim Kalin.

Beweise für eine Beteiligung der YPG in Nordsyrien oder der PKK im Nordirak gibt es bislang nicht, dafür aber jede Menge Merkwürdigkeiten und Ungereimtheiten, auch dahingehend, dass der Anschlag möglicherweise fingiert wurde. »Die Explosion kurz vor den Angriffen der türkischen Luftwaffe auf Stellungen der Kurdenmiliz YPG sind kein Zufall«, stellt Pervin Buldan, Co-Vorsitzender der pro-kurdischen HDP, fest. Es gebe viele Fragezeichen, die aufgeklärt werden müssten.

Die Luftangriffe und die Drohungen mit einer erneuten Invasion in Nordsyrien sollen von den innenpolitischen Problemen der Machthaber in Ankara ablenken. Vergeltung war für Erdoğan immer ein probates Mittel, um der türkischen Bevölkerung zu zeigen, welch starker Potentat er sei. Immer dann, wenn die »Schminke für die desolate Wirtschaft« (Bülent Mumay) nicht mehr reicht, setzt er auf Militarismus und Chauvinismus.

Angesichts des harten Wahlkampfes, den er 2023 vor sich hat, appelliert Erdoğan wieder einmal an die nationalen Gefühle mit der Botschaft: Wenn es auf türkischem Boden zu einem Anschlag kommt, seien alle anderen Probleme nachrangig – ob Inflation, die hohe Arbeitslosigkeit oder Korruptionsvorwürfe. Und die Opposition hält sich zurück. Lediglich die HDP spricht von einem Wahlkampfmanöver. Da die AKP-MHP-Allianz befürchte, stärkere Verluste hinnehmen zu müssen, »habe deren Wahlkampf mit Kriegspolitik begonnen«, so Buldan.

Auffallend sind die zurückhaltenden Reaktionen in den Hauptstädten der NATO-Bündnis-staaten. So wird zwar die türkische Regierung »zur Besonnenheit« aufgerufen, aber scharf formulierte Warnungen an die Adresse Ankaras werden tunlichst vermieden. Bezeichnend ist auch das Schweigen der grünen Außenministerin Annalena Baerbock zur Bombardierung der überwiegend von Kurden bewohnten Stadt Kobani, Hauptstadt des Distrikts Ain al-Arab in der Region Aleppo.

Ihr Sprecher Christofer Burger formulierte vorsichtig: »Wir fordern die Türkei auf, verhältnismäßig zu reagieren und dabei das Völkerrecht zu achten.« Auch das Recht auf Selbstverteidigung beinhalte kein Recht auf Vergeltung. Bundesinnenministerin Nancy Faeser übernahm bei ihrem Türkei-Besuch bereitwillig Erdoğans Terrorismus-Narrativ und forderte die Regierung lediglich zu einem »Vorgehen mit Augenmaß« auf.

Damit setzt die Bundesregierung ihre bisherige Politik fort, den völkerrechtswidrigen Einmarsch der Türkei in Nordsyrien und die Eingliederung einiger Gebiete in türkische Verwaltungsstrukturen zu dulden. Die viel beschworenen westlichen Werte spielen dann keine Rolle, wenn es um den türkischen Krieg gegen die Kurden geht. Die »feministische Außenpolitik« wird je nach Belieben an- und ausknipst. So wie es gerade passt.

Die Türkei ist mit der zahlenmäßig größten Armee ein bedeutsamer NATO-Partner und darüber hinaus eine wichtige Brücke in den Nahen und Mittleren Osten und nach Zentralasien. Aufgrund ihrer geostrategischen Bedeutung für das westliche Militärbündnis darf die AKP/MHP-Regierung ungestraft einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Zivilbevölkerung führen und Präsident Erdoğan die geplante NATO-Norderweiterung als Hebel nutzen: Im Gegenzug zu einer etwaigen türkischen Zustimmung zum Beitritt Finnlands und Schwedens verlangt er Zugeständnisse für seinen Kampf gegen kurdische Organisationen. Und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg wiegelt lediglich ab: »Wir müssen uns in Erinnerung rufen und verstehen, dass kein NATO-Verbündeter mehr Terrorangriffe erlitten hat als die Türkei.«

Tatsächlich stützt der Westen mit seinem Schweigen ein Regime, das innenpolitisch aktuell auf schwachen Beinen steht. Statt die demokratischen Kräfte zu stärken, unterstützen die NATO-Staaten Erdoğan bei einem Wahlkampf, der aus Krieg und ethnischen Säuberungen besteht. »Den Preis dafür zahlt die kurdische Bevölkerung – in allen Gebieten, wo sie lebt«, so die Politikwissenschaftlerin Dastan Jasim. Es wären dringend internationale Maßnahmen notwendig, um die Völkerrechtsverstöße zu beenden, Kriegsverbrechen unabhängig aufzuklären und zu ahnden sowie die türkische Regierung für die Kriegsfolgen und Zerstörungen haftbar zu machen.

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