11. August 2021 Bernhard Sander: Proteste in Frankreich gegen Gesundheitspass

Widerstand gegen Macron mutiert zur RN-Variante

Das vierte Wochenende in Folge sind in Frankreich an die 237.000 Menschen auf die Straßen gegangen, um gegen den mittlerweile vom Parlament und den Verfassungsrat (Verfassungsgericht) abgesegneten Gesundheitspass zu protestieren.

Das sind die amtlichen Zahlen, und sie sind – wie immer in den letzten Jahren – ebenso maßlos untertrieben, wie die Angaben der Organisatoren, die sich hie und da auf das Fünffache summieren, übertrieben sind. Die Zahl der Demonstrierenden liegt damit durchaus auf der Höhe der Gelbwesten- oder der letzten Gewerkschaftsproteste. Berücksichtigt man, dass wir uns in der Hauptferienzeit befinden, ist das umso beachtlicher.

Das neue Gesetz sieht die Einführung eines Gesundheitspasses vor, der eine Impfung, den Nachweis einer Genesung oder einen negativen Test mit einem EU-weit gültigen QR-Code bescheinigt. Dieser wird nun für den Zutritt zu Restaurants, Bars, Fitnesszentren, Museen, Theatern oder Kinos benötigt sowie für längere Bahn- und Flugreisen. Besonders umstritten sind die Passkontrollen, die – außer in medizinischen Notfällen – auch für den Zugang zu Krankenhäusern, Kliniken und Pflegeheimen verlangt werden. Für Krankenhauspersonal gilt vom 15. September an zudem eine Impfpflicht.

Als nicht vereinbar mit der französischen Verfassung sah der Conseil Constitutionnel lediglich die vorgesehene obligatorische Isolierung von positiv Getesteten an. Auch sollen befristete Arbeitsverträge nicht, wie von der Regierung vorgesehen, vorzeitig beendet werden können, wenn Angestellte keinen Gesundheitspass vorweisen.

Die Wut richtet sich nicht nur gegen die autoritäre Art des Staatspräsidenten, Maßnahmen per Notverordnung durchzusetzen. Die Zahl der Gesetzestexte, die dem Parlament unterbreitet wurden, lag in der Amtszeit von Sarkozy bei 196, bei Hollande waren es 238 und bei Macron 180. Die Zahl der Ordonnanzen (Verordnungen mit Gesetzes-Status, aber verkürztem parlamentarischen Verfahren) lag in der Amtszeit von Sarkozy bei 117, bei Hollande bei 190 und stieg unter Macron auf 291 (davon 91 mit COVID-Bezug). Dem Zerfall des Parteiensystems folgte die Entwertung des Parlaments.

Die Wut der Bürger:innen richtet sich gegen den Gesundheitspass. Die Pandemielage ist kompliziert. Nachdem die Intensivstationen schon im April wieder vollliefen, stieg das Impftempo in Frankreich deutlich an. Die Quote der Geimpften liegt hoch, aber gewisse Teile der Bevölkerung verweigern sich dieser Hygienemaßnahme, obwohl die Intensivstationen jetzt wieder an die Triage-Grenze herankommen. In den Überseegebieten (Guadeloupe, Reunion usw.) herrscht bereits der Notstand, der Mittelmeerraum als ein Haupt-Feriengebiet gilt in Frankreich schon lange als Hochrisikogebiet.

Die Quote liegt Anfang Juli mit 40% in Europa eher im hinteren Bereich. Macron will vor allem bei den Menschen in den Humandienstleistungen die Impfquote erhöhen, da er das Bildungswesen offenhalten will. In Rede stehen etwa 1,5 Mio. Erwachsene. Es geht im verabschiedeten Gesetz nun auch um Kund:innen und Beschäftigte in Hotels und Gaststätten und die prekären Jobs in den Großsupermärkten mit 20.000 qm. Man könne »je nach Entwicklung der Lage die Frage einer Impfpflicht für alle Franzosen stellen«, sagte Macron in einer Fernsehansprache im Juli.

Die Drohung mit »Aussetzung des Arbeitsvertrages«, Lohn- und Arbeitssperren von vier bis sechs Wochen für diejenigen, die nicht geimpft sind, sich Kontrollen entziehen und Impfungen verweigern, provoziert Widerstand. Zwar sind die Verfahren zur Entlassung in Frankreich schwierig und der Rechtsanspruch, sich persönlich Anordnungen des Arbeitgebers widersetzen zu können, gilt noch immer. Doch werden mit dem »pass sanitaire« die Grundsätze der Gleichheit verletzt, argumentieren Gewerkschafter:innen.

Zur selben Zeit beunruhigen Berichte über Nebenwirkungen der Impfungen. »Viele Frauen berichten über vorübergehende Menstruationsstörungen infolge der Impfung gegen Covid-19. Die Nationale Agentur für Arzneimittelsicherheit beabsichtigt, dieses ›potenzielle Signal‹ auf europäischer Ebene zur Diskussion zu stellen, doch fehlt die Arbeit zum Abschluss. In ihrer Pharmakovigilanz-Erhebung vom 30. Juli hat die Nationale Agentur für die Sicherheit von Arzneimitteln und Gesundheitsprodukten (ANSM) diese Störungen erstmals als ›potenzielles Signal‹ im Zusammenhang mit der Injektion bezeichnet.« (Le Monde 6.8.2021)

Die Menschen auf den Demonstrationen haben ihr Urteil schon längst und unabhängig von wissenschaftlichen Erkenntnissen gefällt. Libération zitiert einen Rentner: »Artikel 2 der Verfassung macht uns zu freien und gleichberechtigten Bürgern. Und wenn wir uns die Rechte nehmen, sind wir nicht mehr gleich. … Es ist nicht gegen den Impfstoff. … Ich protestiere gegen alles, was Macronien repräsentiert. Meine Anwesenheit ist Teil eines ziemlich tiefgreifenden Protestes seit 20 oder 30 Jahren gegen die Zerstörung der Nation, also eine Anfechtung der Europäischen Union und der Globalisierung.« Allein die letzte Demonstration, die der Abtrünnige des Rassemblement National (RN) Florian Phillipot anmeldete, vermeldete 17.000 Teilnehmer:innen in Paris. Le Monde titelt: »In Toulon steht die nationalistische Rechte an erster Stelle der Mobilisierungen.« Hier sind es offiziell 19.000 Demonstrierende.

Vor allem der RN, die protektionistisch-fremdenfeindliche Rechte von Marine Le Pen, artikuliert den Protest. Es sei brutal, den Beschäftigten, denen man im vergangenen Jahr noch applaudiert habe, nun auf diese Weise Schuldgefühle zu machen. Macron solle auf die legitimen Sorgen der Franzosen eingehen und das Gesetz zurückziehen. Eine Abgeordnete wurde aus der LREM-Fraktion Macrons ausgeschlossen, weil sie sich der »defätisitischen Randgruppe« (so der Regierungssprecher) angeschlossen und zu Protesten in den Bürgerbüros der Abgeordneten aufgerufen hat. Die gesamte politische rechtsaußen Szene ist auf den Beinen, spricht von »Gesundheitsdiktatur«, »Staatsstreich« und zeigt Macron mit Hitlerbärtchen. Es kommt zu Brandanschlägen auf Impfzentren. Gleichwohl steigt die Zahl der Impfwilligen und die Zustimmung zu Macrons Maßnahmen ist hoch.

Gegen den »Impfzwang«, den die Regierung ihnen angeblich auferlegt, haben sich Menschen jeglichen Alters mobilisieren lassen. Zwischen Corona- und Impfstoff-Skeptiker:innen, Gelbwesten und grundsätzlichen Impfgegner:innen marschieren Familien mit Kindern und ältere, adrett gekleidete Frauen mit Handtaschen am Arm. Der Grundsatz der Freiheit von 1789 wird von den Gegnern Macrons zum Schlachtruf gemacht, die sich nicht als Mitglied einer Gesellschaft, sondern als Individuen, als »Versuchskaninchen« und als Verfolgte einer Überwachungsdiktatur wahrnehmen.

»Wir haben Cluster an Orten gesehen, die einen Gesundheits-Pass erforderten. Ich glaube, wir haben auch eine Krise der Repräsentativität. Ich sehe nicht, dass der Bürger in die Entscheidungsfindung einbezogen wird«, sagt ein Demonstrant und ein anderer wird von Libération zitiert mit den Worten: »Ich bin hier, um die Freiheit eines jeden zu bewahren. (Die Leute) würden lieber warten, aber sie erleiden eine verschleierte Verpflichtung, die skandalös ist. Ich habe damals an den Gelbwesten-Protesten teilgenommen. Das ist eine Kontinuität. Wir sind auf dem Weg zu einem diktatorischen Regime.«

Da sich der institutionelle Rahmen der Verfassung von Beginn der 5. Republik an als instabil und als »Staatsstreich in Permanenz« (Francois Mitterand) erweist, ist Macron mehr als in anderen demokratischen Verfassungen auf die unmittelbare Zustimmung des Volkes angewiesen. Aber die Kluft zwischen Regierten und Regierung, so der Politologe Peter Schöttler, hat ihren Grund darin, »dass diese Regierung gar nicht so genau wissen will, warum etwas in der Gesellschaft passiert« (FAZ 24.2.2021). Stattdessen werden in der politischen Klasse Scheindebatten über den Islamo-Gauchismus geführt.

»Macron ist nicht der erste unpopuläre Präsident, aber vielleicht zum ersten Mal manifestiert sich diese Unbeliebtheit nicht nur in Umfragen, sondern auch auf der Straße immer wieder«, sagt Jérôme Fourquet vom Ifop. »Das Land befindet sich seit 2017 in einem Zustand ständiger Spannung.«

Für viele Beobachter:innen erntet der Präsident jetzt zum Teil das, was er selbst gesät hat. Er nahm eine bonapartistische Haltung ein – schon am Abend seines Amtsantritts im Louvre – und pflegte die Vertikalität in seiner Machtpraxis und seinem Verhältnis zu den Bürger:innen Frankreichs. Indem Macron eine schwache Regierung – ohne politisches Gewicht – ernennt und die Zwischenkörper umgeht, hat Macron auch seine eigene Einsamkeit organisiert und ein persönliches Gespräch mit dem Volk aufgebaut, auf die Gefahr hin, dass es sich gegen ihn wendet.

Die Regierung und der Präsident sehen sich einem permanenten Volkszorn gegenüber, der sich diesmal am Gesundheitspass entzündet hat, aber die gesamte Amtszeit Macrons durchzieht. Die Zersetzung der sozialen Bürgerrechte kennzeichnet seine Amtszeit, ohne dass er eine überzeugende Integrationsperspektive im Zuge einer Modernisierungsstrategie hat anbieten können. Die Verhandlungsposition der Gewerkschaften wurde zugunsten von Betriebsvereinbarungen geschwächt.

Die Altersversorgung, die bisher auf den fünf bestbezahlten Jahren basierte, wird durch ein undurchschaubares Punktesystem ersetzt, das vor allem die sich ausbreitende prekäre Beschäftigung bestraft. Der Arbeitsmarkt wird durch ein System des Förderns und Forderns flexibilisiert. Die positiven Signale einer rückläufigen Arbeitslosenquote (die Zahl der Arbeitsverhältnisse hat das Vorkrisenniveau erreicht) oder des 100 Mrd.-Euro-Umbau-Programms schlagen sich nicht zu Macrons Gunsten nieder.

Antoine Bristielle, Direktor des Observatoriums der Öffentlichen Meinung in der Fondation Jean-Jaurès, untersucht die Mobilisierung gegen die Gesundheitspolitik der Regierung. Für diesen Sozialwissenschaftler ist die Opposition gegen den Gesundheits-Pass der kleinste gemeinsame Nenner, der die Demonstranten vereint. Aber das Misstrauen gegenüber den Institutionen ist ein entscheidendes Kriterium (Libération 6.8.2021).

Die politische Linke ist unfähig, dieses Misstrauen für sich zu mobilisieren. Mit Blick auf die Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr ist die Ausgangslage ähnlich wie 2017, sagt der Historiker Gilles Richard. »Die linken Parteien sind orientierungslos, gespalten und sehr geschwächt. Ein großer Teil der Arbeiterklasse geht nicht mehr wählen – außer jene, die zum Rassemblement national übergelaufen sind. Diese hat es in den letzten 20, 30 Jahren geschafft, die nationale Frage aufzubringen und zu einem dominanten Thema zu machen. Die Spaltung verläuft nun weniger zwischen rechts und links, sondern zwischen den neoliberalen Europafreunden und den nationalistischen Identitären. In der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen 2017 wurden diese Pole von Emmanuel Macron und Marine Le Pen verkörpert.

Nach wie vor ist eine Mehrheit der Franzosen eher links und gegen den Kapitalismus. Aber viele von diesen gehen nicht mehr wählen, weil sie nicht daran glauben, dass die Wahl etwas nützt. Die französische Linke befindet sich seit 30 Jahren auf dem Abstieg. Sie basierte einst auf einer starken kommunistischen Partei und der Gewerkschaft CGT. Heute hat die CGT aber weniger Mitglieder als 1914, und die Kommunisten kommen gerade noch auf 2% der Stimmen. Der Parti socialiste (PS) ist seit der Ära Mitterrand eine Verwalterpartei geworden und keine wirklich linke Partei mehr, weil sie den Kapitalismus akzeptiert hat. Die linken Wähler haben die Orientierung verloren.«

RN hat zwar die Republik akzeptiert, doch nur, weil extreme Rechte erkannte, dass die Verfassung eine Basis bietet für eine autoritäre, identitäre, nationalistische Republik und damit für eine xenophobe Politik: Schutz der Grenzen, die Ablehnung der Zuwanderung und die Forderung, dass Frankreich seine Wurzeln und seine Kultur wiederfinden müsse. Der Staatspräsident verfügt über keine vergleichbar schlichte Botschaft und über keine schlagkräftige Parteiorganisation. »Wir sind die vierte Welle« skandiert die Straße und man schwenkt die blau-weiß-rote Fahne der Nation.

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