2. März 2020 Harald Wolf: Strategiedebatte der LINKEN

Wir leben in einer Zeitenwende

Foto: Martin Heinlein (flickr.com/photos/die_linke)

Wir leben in Zeiten des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs. Die Volksparteien erodieren. Sie sind nicht mehr in der Lage, die auseinanderstrebenden gesellschaftlichen Kräfte zu integrieren.

Die SPD befindet sich in der Dauerkrise. Die Union ist nicht nur in einer Führungs-, sondern auch in einer tiefen Orientierungskrise angesichts der auseinanderstrebenden Flügel. Allein die Grünen erscheinen mit ihrem Konzept eines sozial und ökologisch moderierten Kapitalismus als Partei mit Antworten auf die Zukunftsfragen. Auf dem Gegenpol hat sich mit der AfD eine rechtsextreme Partei mit einem offen faschistischen Flügel etabliert und liefert die Stichworte für den rechten Terrorismus.

Und ein Blick über die nationalen Grenzen macht deutlich: die alte Ordnung ist nicht nur in Deutschland in Auflösung: Aufstieg des Rechtsextremismus, autoritärer Nationalismus, wachsende geopolitische Konflikte und zunehmende Kriegsgefahr, Handelskriege, Schwächung multilateraler Institutionen, die dramatische Beschleunigung des Klimawandels. Millionen Menschen sind vor Kriegen, Armut und Hunger auf der Flucht … All dies zeigt: Die Welt ist im Umbruch. Wir leben in einer Zeitenwende, an einem Wendepunkt von historischer Dimension.

Spätestens mit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 ist das neoliberale Wirtschaftsmodell in die Krise geraten. Die lange Erholungsphase nach 2009 kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Krisenpotenziale weiter angewachsen sind: Die Weltbank warnt vor einer exzessiv gestiegenen weltweiten Verschuldung und Überakkumulation von Finanzvermögen, die das Niveau von 2008 weit übersteigt. Die neoliberale Umverteilung von Arbeit zu Kapital und die Nullzinspolitik der Zentralbanken hat nicht zu neuen Investitionen in Fabriken und Anlagen geführt.

Stattdessen fließt das Geld in die Dividende der Aktionäre, in Finanzanlagen und Immobilienspekulation, während die entwickelten kapitalistischen Länder unter einer langanhaltenden Schwäche öffentlicher und privater Investitionen leiden. Die Party an der Börse hat sich damit schon seit langem vom realen wirtschaftlichen Wachstum abgekoppelt. Angesichts dieser Wachstumsschwäche nehmen die protektionistischen Auseinandersetzungen und Handelskriege um die Sicherung von Absatzmärkten und Technologieführerschaft zu. Allein die Zentralbanken verhindern gegenwärtig mit ihren lebenserhaltenden Maßnahmen einen neuen crash.

Der Chefkommentator der Financial Times, Martin Wolf, stellt fest: Wir haben einen »zunehmend instabilen Rentierkapitalismus, einen geschwächten Wettbewerb, ein schwaches Produktivitätswachstum, eine hohe Ungleichheit und nicht zufällig eine zunehmend deformierte Demokratie«. Und er kommt zu dem Schluss: »Die Funktionsweise unserer wirtschaftlichen und politischen Systeme muss sich ändern, sonst gehen sie zugrunde.« So ist es!

Aber nur von einer Krise der Ökonomie zu reden, greift zu kurz. Wir haben es mit einer ökonomisch-ökologischen Doppelkrise zu tun. Das kapitalistische Wachstum hat einen Punkt erreicht, wo der immer weitere Ressourcenverbrauch, die Nutzung fossiler Energien an natürliche Grenzen stößt. Die kapitalistische Ausbeutung und Verwertung der Natur droht nicht nur ihre eigene Grundlage zu untergraben. Sie bedroht die menschliche Zivilisation insgesamt. Der Weltklimarat warnt: In nur zehn Jahren müssten die weltweiten CO²-Emmissionen auf die Hälfte reduziert werden, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen und ein katastrophisches Szenario – das Abschmelzen der Polkappen und das Auftauen der Permafrostböden – noch abzuwenden.

Zudem stehen wir vor einem massiven Strukturwandel – der Ausstieg aus den fossilen Energien und die technologische Revolution der Digitalisierung wird zu gravierenden Veränderungen ganzer Branchen, einschließlich von Schlüsselbranchen wie der Automobilindustrie, der Industrie- und Beschäftigtenstrukturen, auf dem Arbeitsmarkt und der Lebensweisen führen. Die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, dass die herrschende Politik Schlüsselbereiche des gesellschaftlichen Lebens, wie bezahlbares Wohnen, Gesundheitsversorgung, Pflege, Mobilität im ländlichen Raum nicht mehr gewährleistet, produziert Verunsicherung und Ängste.

Zwei Drittel der Bevölkerung werfen der Politik Führungs- und Planlosigkeit vor. Hier liegt auch der Nährboden für Rechtspopulismus und Rechtsextremismus und autoritäre Lösungen. Das Vertrauen in die Fähigkeiten mit den herkömmlichen politischen Mitteln die Probleme zu lösen sinkt. Demagogisch kann so von der extremen Rechten den Gegensatz zwischen dem (deutschen) Volk und den korrupten Eliten inszeniert werden. Wir haben es also auch mit einer Krise der Demokratie, einer Krise der Repräsentation zu tun.

Das alles sind die Kennzeichen einer historischen Phase, die der italienische Marxist Antonio Gramsci als Interregnum charakterisierte: Eine Phase, in der sich immer größere Teile der Bevölkerung von den »traditionellen, bislang dominierenden Ideologien entfernt« und nicht mehr an das glauben, »woran sie zuvor glaubten«. Die Krise bestehe gerade darin, so Gramsci, »dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: In diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen.«

Angesichts dieser Krisenerscheinungen ist es nicht die Frage, ob sich ein Richtungswechsel der Politik vollzieht, sondern in welche Richtung er geht. Ich sehe grob gesagt drei Varianten:

Erstens: Der Versuch eines »Weiter so«, eines Durchmogelns – ein bisschen Klimaschutz, ein bisschen soziale Abfederung. Keines der gesellschaftlichen Probleme wird damit gelöst, durch kleine Korrekturen soll dem überlebten neoliberalen Gesellschaftsmodell Zeit erkauft werden. Für diese Politik steht die gegenwärtige Regierung Merkel, dafür steht Armin Laschet – und mit ein paar mehr ökologischen Modernisierungen eine mögliche schwarz-grüne Regierung.

Die zweite Variante ist ein autoritärer Kapitalismus. Darauf orientiert die Offensive der Rechten. Sie nutzen die Unzufriedenheit mit der Politik des »Weiter so«, verbinden ein Schutzversprechen nach innen mit ökonomischen Standortnationalismus und einer Abschottung nach außen. Politisch würde dieser Option eine wie auch immer geartete Allianz von Rechtspopulismus und bürgerlicher Mitte entsprechen. Dass ein solcher autoritärer Kapitalismus mit all seinen Angriffen auf die emanzipatorischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte möglich ist, zeigen die Regierung Orban in Ungarn, die PiS-Regierung in Polen und Trump in den USA.

Eine dritte Option ist im Entstehen – die Option eines sozialökologischen Richtungswechsels. Gegen die Politik des »Weiter so« und das Erstarken der Rechten haben sich starke Gegenbewegungen gebildet: die Mobilisierungen gegen TTIP, die Seebrückenbewegung, die grandiose Mobilisierung von #unteilbar, die massiven Proteste gegen rechts, Fridays for future und Ende Gelände, gegen Militarisierung und Aufrüstung. Die Mieter*innenbewegung fordert weitgehend Eingriffe in die Eigentumsrechte bis hin zur Vergesellschaftung von Immobilienkonzernen, die Ablehnung von Privatisierungen und die Überzeugung, dass die öffentliche Daseinsvorsorge und grundlegende Infrastrukturen in die öffentliche Hand gehören, ist anders als in den Hochzeiten des Neoliberalismus gesellschaftlich mehrheitsfähig …

Bei den nächsten Bundestagswahlen wird es um eine grundlegende Richtungsentscheidung gehen. Mit diesen Wahlen werden die Weichen für die Zukunft gestellt. Es geht darum, welche politischen Kräfte, welche gesellschaftlichen Bündniskonstellationen in den nächsten Jahren bestimmend sein werden.

Die Situation ist offen – sowohl ein Richtungswechsel nach rechts, als auch nach links ist möglich. In der Offenheit der Situation liegt sowohl eine Gefahr – als auch eine Chance für linke Politik. Und es könnte sein, dass diese Bundestagswahlen die letzte Chance für Jahre sind, die Weichen für einen sozialökologischen Richtungswechsel zu stellen. Das ist die neue strategische Situation, der sich DIE LINKE stellen muss.

In den Hochzeiten des Neoliberalismus mussten wir vor allem Abwehrkämpfe führen, die sozialen Interessen verteidigen, Kämpfe um Einzelforderungen führen. Jetzt, wo die verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte und Klassenfraktionen sich neu sortieren, wo sie um eine Neuausrichtung der Politik, eine neue Regulationsweise ringen, muss DIE LINKE in die Offensive gehen: In Zeiten tiefgreifender ökonomischer, ökologischer und sozialer Veränderungen müssen wir das Ganze eines Richtungswechsels auf die politische Tagesordnung setzen.

DIE LINKE muss zur Vorkämpferin im Kampf um linke Mehrheiten werden. Und das ist mehr als der Kampf um numerische Mehrheiten von SPD, LINKEN und GRÜNEN. Rot-rot-grün muss zuvorderst ein gesellschaftliches Bündnis, eine gesellschaftliche Mobilisierung der Gewerkschaftsbewegung, der Ökologie- und der feministischen Bewegung, der Flüchtlingssolidarität, der Friedensbewegung und der Bewegung gegen rechts sein. Nur so können die Kräfteverhältnisse nach links verschoben werden und nur so können auch SPD und Grüne vor die Entscheidungsfrage gestellt werden: Wollt ihr ein wie auch immer geartetes »Weiter so« oder seid ihr bereit, die Auseinandersetzung für eine wirkliche sozial-ökologische Wende aufzunehmen.

DIE LINKE muss dafür kämpfen, dass aus all diesen Bewegungen ein zukunftsorientiertes Gesamtprojekt der sozialökologischen Umgestaltung entsteht. Verbindende Klassenpolitik muss heißen, das Gemeinsame all dieser Bewegung herauszuarbeiten und zu stärken und sich nicht in eine Diskussion über Haupt- und Nebenwidersprüche zu verlieren. Es heißt zugleich die Verschiedenheit, die unterschiedlichen Rollen und Schwerpunktsetzungen der unterschiedlichen Bewegungen und der Parteien jenseits der Union zu akzeptieren und diese Vielfalt in ein gemeinsames Projekt eines grundlegenden Politikwechsels einzubringen.

Voraussetzung ist eine breite gesellschaftliche Mobilisierung. DIE LINKE sollte spätestens nach dem Bundesparteitag die Initiative für einen breiten gesellschaftlichen Diskussionsprozess um die Ziele eines grundlegenden politischen Richtungswechsels ergreifen: Für die Stärkung des Öffentlichen, Umverteilung und ein umfassendes Investitionsprogramm in den sozial-ökologischen Umbau, für soziale Garantien und gegen die Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme, Überwindung der Prekarität und Arbeitszeitverkürzung, Demokratisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse, Geschlechtergerechtigkeit und eine neue Friedenspolitik.

Und es ist die spezifische Aufgabe der LINKEN deutlich zu machen: Eine wirkliche neue Entwicklungslogik verlangt die Bereitschaft über kapitalistische Verwertungsinteressen und Eigentumsordnung hinauszugehen. Das ist der Kampf, den wir aufnehmen sollten. Wir müssen von der Defensive in die Offensive übergehen.

Naomi Klein beendet ihr Buch »Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima« mit einer Frage, die sie uns allen stellt. Die Frage lautete: »Die Geschichte hat an Ihre Tür geklopft, haben sie geöffnet?« Wir sollten zumindest den Versuch unternehmen, die Tür zu öffnen.

Anmerkung

Harald Wolf ist Bundesschatzmeister der Partei DIE LINKE, von 2002 bis 2011 war er einer der beiden Stellvertreter des Regierenden Bürgermeisters von Berlin und Senator für Wirtschaft, Technologie und Frauen. In seinem Buch Rot-Rot in Berlin zieht er eine (selbst)kritische Bilanz. Mit diesem Beitrag eröffnete er die Strategiekonferenz der LINKEN am 29.2. in Kassel.

Zurück