3. Februar 2024 Redaktion Sozialismus.de

Wir trauern um Oskar Negt (1.8.1934–2.2.2024)

Zeichnung Amelie Glienke auf dem Umschlag von Heft 3-2002 von Sozialismus, in dem ebenfalls ein Gespräch mit Oskar Negt abgedruckt ist.

Im Alter von 89 Jahren ist Oskar Negt am 2. Februar in Hannover nach langer Krankheit verstorben. Er war einer der einflussreichsten Soziologen und Sozialphilosophen der Bundesrepublik Deutschland. Wir trauern um einen langjährigen Mitstreiter und Diskussionspartner.

Am 1. August 1934 in der Nähe von Königsberg geboren, prägte ein sozialdemokratisches Elternhaus – sein Vater sei »der einzige sozialdemokratische Bauer weit und breit« gewesen – seine spätere wissenschaftlich-politische Vita, auf die wir weiter unten noch zurückkommen.

Während seines Studiums trat Oskar Negt trat 1956 dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) bei. Er engagierte sich für eine Zusammenarbeit der marxistischen Linken mit den Gewerkschaften und wurde mit dem Beginn der 68er-Studentenbewegung einer der Wortführer der Außerparlamentarischen Opposition und später des Offenbacher Sozialistischen Büros. 1972 in gründete er Hannover eine der ersten Reformschulen Deutschlands, die Glocksee-Schule.

Der öffentliche Gebrauch von Vernunft war für Oskar Negt Leitlinie seines wissenschaftlich-politischen Lebens. Seine leitende These erläuterte er in einem Gespräch über blockierte Lernprozesse, gesellschaftliche Urteilskraft und Demokratie als Lebensform unter dem Titel »Warum sind Krisenzeiten selten Erkenntniszeiten?« mit der Redaktion dieser Zeitschrift im Jahr 2011 wie folgt: »Erkenntniszeiten können Krisenzeiten nur dann sein, wenn die Menschen Alternativen zum Bestehenden wahrnehmen. Wenn gewissermaßen eine Kraft oder Organisation vorhanden ist, die ihnen signalisiert, dass das Lernen aus der Krise Folgen haben könnte für die Bekräftigung dieser Alternative. Wenn die Gewerkschaften keine politische, kulturelle und moralische Alternative zum bestehenden System sichtbar machen, dann können an die krisenhafte gesellschaftliche Situation auch keine Lernprozesse anknüpfen, obwohl viele Menschen durchaus von deren Notwendigkeit überzeugt und keineswegs gleichgültig gegenüber dem Ausbleiben eigener wie gesellschaftlicher Lernprozesse sind.«

Die politische Mehrheitsklasse stecke fest – so Negt weiter – in dem Versuch einer Normalisierung der Verhältnisse, ohne dass die aufgelaufenen Probleme aufgegriffen und bewegt worden wären. Der mal offene, mal latente Krisenzusammenhang bleibt. Damit werde im Grunde ist der ganze Begriff des Fortschritts tangiert. »Fortschritt bedeutet für mich heute die Aufarbeitung der ausgegrenzten und liegengebliebenen Probleme unserer Gesellschaft und nicht einfach fortschreitende Modernisierung.«

Und er bezog diese Sichtweise auch auf die Sozialdemokratie, denn dieser »sture Fortschrittsglauben ist die ›Idiotie‹ der Sozialdemokratie, die in Walter Benjamins Thesen ›Über den Begriff der Geschichte‹ (1940) zurecht als »konformistisch« kritisiert wurde – mit der immer noch bedenkenswerten Schlussfolgerung eines veränderten Fortschritts- und Revolutionsbegriffs: ›Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.‹ Notbremse finde ich ein treffendes Bild für das, was heute Fortschritt sein könnte.«

Denn für Negt war die Haltbarkeit unserer Zivilgesellschaft unter den gegenwärtigen Bedingungen absolut in Frage gestellt. Er sah Raum für Verständigung, für Reflexion und damit für mögliche Lernprozesse in den letzten Jahrzehnten in einer Art und Weise geschrumpft, dass in gesellschaftlichen Diskursen die realitätsprüfende Instanz sich immer mehr auf eine bloß betriebswirtschaftliche Rationalität bezieht und eine Normalität, wenn nicht gar Normierung schafft, die einen erschrecken lässt.

Daher die Bedeutung des Benjaminschen Bildes von der Notbremse: »Demoskopische Umfragen zeigen: Rund zwei Drittel der Bevölkerung halten die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse für ungerecht. Es ist im Grunde hier wie bei der Marxschen Analyse der Mehrwertproduktion: Es gibt keinen Betrug beim Äquivalententausch – aber am Ende werden die einen immer reicher und die anderen immer ärmer. Wie kommt so was zustande? Das ist klassische Ideologie, die Verschränkung von wahr und falsch, und hier steckt das große Problem, gesellschaftliche Verhältnisse durchsichtig zu machen.

Dieses Problem ist umso größer, weil sich die Intellektuellen aus ideologiekritischen Analysen mehr und mehr zurückgezogen haben. Hier ist die Verarmung des gesamten Reflexionsspektrums – von kapitalismuskritischen Verlagen bis zu politischen Interventionen – derart groß, dass man in der politischen Aufklärungsarbeit teilweise wieder von vorne anfangen muss.«

Negt hatte sich den intellektuellen Begriffs- und Theorierahmen erworben in einem Studium der Rechtswissenschaften in Göttingen, dann der Soziologie und Philosophie in Frankfurt a.M. bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno; Promotion bei letzterem über den Gegensatz von Positivismus und Dialektik bei Hegel und Comte; Assistent von Jürgen Habermas in Heidelberg und Frankfurt von 1962 bis 1970 mit der Habilitation zur Theorie der Arbeiterbildung; dann der Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Hannover von 1970 bis zur Emeritierung 2002.

Die gewonnen Erkenntnisse setzte er in der politischen Arbeit im SDS ein, wobei für ihn der Bezug zu Marxscher Theorie und Arbeiterbewegung essenziell. Denn nach einem Praktikum in der Bildungsabteilung der IG Metall unter Hans Matthöfer war er nur kurze Zeit faktischer Leiter der DGB-Bundesschule Oberursel. Aufgaben, Themen und Methodik der Bildungsarbeit blieben sein lebenslanges Arbeitsfeld, für die eine seiner bekanntesten frühen Buchveröffentlichung »Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen« Zeugnis ablegt.

Und Oskar Negt hat auch immer wieder versucht, in kritischen Knotenpunkten der Nachkriegsentwicklung in der Sozialdemokratie eine selbstkritische Reflexion anzuregen: in der Zeit des Übergangs von einer Kapitalismuskritik einschließenden und antimilitaristischen Haltung, über die Anerkennung der kapitalistischen Marktwirtschaft, bis hin zur Logik einer Entfesselung des organisierten Kapitalismus im Zeitalter des Neoliberalismus.

Die mit Beharrlichkeit vorgetragenen Hinweise auf den Krisencharakter der Kapitallogik in der bürgerlichen Gesellschaft und die Notwendigkeit eines Utopieüberschusses bei der praktischen Gesellschaftsgestaltung haben allerdings kaum nachhaltige Wirkungen gezeitigt. Das große Werk des politischen Intellektuellen kann in der zu seinem 80. Geburtstag vorgelegten 19-bändigen Werkausgabe im Steidl-Verlag Göttingen nachgelesen werden.

Oskar Negts Fähigkeit zu treffenden Zeitdiagnosen wird in zwei Interviews mit der inzwischen eingestellten »Wiener Zeitung« deutlich und hat eine erstaunliche Aktualität. Am 19. Juni 2014 argumentierte er: »Die gravierende Polarisierung von Arm und Reich lässt sich mit der Situation vor der Französischen Revolution durchaus vergleichen: Wenige haben, damals wie heute, gewaltige Reichtümer angehäuft, viele sind verarmt, der Mittelstand erodiert. Dennoch haben wir es heute mit einer Form des Kapitalismus zu tun, der in die Subjekte buchstäblich übergegangen ist. Die Bindungen der Menschen sind gelockert, Loyalitäten lösen sich auf, ein Phänomen, das sich als kulturelle Erosionskrise umschreiben ließe. Gegenwärtig befinden wir uns in einem Orientierungsnotstand. Trotz intensiver Suchbewegung ist noch nichts Neues in Sicht. Erst wenn Alternativen sichtbar werden, wandeln sich Krisen- zu Erkenntniszeiten.«

Und am 1. November 2016 brachte er seine Sorge über den Aufstieg des Rechtspopulismus zum Ausdruck: »Durch den Aufstieg der AfD ist zum ersten Mal in Deutschland ein faschistisches Potenzial entstanden. Dieser neue Faschismus nutzt demokratische Mittel – wie etwa freie Wahlen –, um sich zu etablieren. Für die Antidemokraten ist die Demokratie nur ein nützliches Vehikel auf dem Weg zur Macht.«

Auf solche Zeitdiagnosen und Warnungen von ihm werden wir in Zukunft verzichten müssen.

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