1. Dezember 2014 Otto König/Richard Detje: Die Sanktionen gegen Russland

Wirtschaft als Waffe

Nach dem Ende des Kalten Krieges waren die westeuropäischen Staaten und Russland auf dem Weg zu friedlich-nachbarschaftlichen Beziehungen. Der Konflikt um die Ukraine und der verbale und wirtschaftliche »Straffeldzug« gegen Russland lassen dies in Vergessenheit geraten. Die Entspannungspolitik, die über Jahrzehnte die deutsche Außenpolitik gegenüber den osteuropäischen Staaten geprägt hat, ist Konfrontationen gewichen.

»Es wird geistig mobil gemacht gegen alles, was gestern noch als Voraussetzung für ein friedliches Miteinander in Europa galt: Die Worte, Dialog, Interessenausgleich, Verständigung, die Verben verstehen, zuhören, austarieren scheinen auf einmal kontaminiert« (Gabor Steinert).

Die USA und die EU »bestrafen« Russland mit Sanktionen, da die Weltgemeinschaft die »Annexion der Krim« und die vermeintliche Unterstützung der Separatisten in der Ost-Ukraine durch Russland nicht hinnehmen könne. Lassen wir dahingestellt, mit welchem Recht die EU- und NATO-Staaten, und eben nicht die Weltgemeinschaft, die Deutungshoheit über die Ursachen des Konflikts reklamieren. Tatsächlich entwickelt sich die Auseinandersetzung um die Ukraine zu einem Machtkampf, in dem der Westen seine Stärke demonstriert.

Das selbsterklärte Ziel der US-Administration ist es, Russland auf Rang und Gewicht einer »Regionalmacht«, wie Barack Obama es formuliert, zurückzuwerfen. Damit wird in West- und Osteuropa ein neues Ranking angestoßen. Deutschlands »halbhegemoniale« Rolle in Europa (Habermas) scheint die Bundeskanzlerin zur Arbeit der Zuspitzung zu treiben, Russland stelle »nach den Schrecken zweier Weltkriege und dem Ende des Kalten Krieges die europäische Friedensordnung insgesamt in Frage.«[1]

Statt den G20-Gipfel, auf dem Merkel dies zum Abschluss formulierte, als Forum der Verständigung zu nutzen, werden Vorhaltungen ausgetauscht. Auch wenn immer wieder das hohe Lied der Diplomatie angestimmt wird, werden doch tatsächlich außenpolitische und militärische Einflusssphären neu abgesteckt: Wo soll die östliche Grenze der EU liegen, wo die westliche Grenze des russischen Einflussgebiets.[2]

Über die Ursachen des Konflikts und seine wechselseitige Eskalation findet keine Debatte statt. Für den US-amerikanischen Politikwissenschaftler John J. Mearsheimer begann er nicht mit dem russischen Einmarsch auf der Krim: »Die Hauptschuld an der Krise tragen die USA und ihre europäischen Verbündeten. An der Wurzel des Konflikts liegt die NATO-Osterweiterung, Kernpunkt einer umfassenden Strategie, die Ukraine aus der russischen Einflusssphäre zu holen und in den Westen einzubinden«.[3]

Dabei ist es sehr aufschlussreich, näher zu hinterfragen, ob statt der Außenpolitik nicht sehr viel mehr die sozialökonomische Entwicklung in Russland selbst die Politik Putins bestimmt.[4] Und insbesondere in Richtung des Halbhegemon Deutschland zu hinterfragen, weshalb die EU mit einer Politik des Entweder-Oder in der Frage der neuen wirtschaftlichen Blockbildung in Osteuropa agierte.

Bis 2013 ist die Ukraine auf Platz 83 des Human Development Index zurück gefallen – hinter Kasachstan, Aserbaidschan und Georgien. Klar war, dass die Verlockungen des Assoziierungsabkommens mit der EU im Westen der Ukraine das Land faktisch spalten mussten. Aber ebenso klar ist auch, dass die EU den frei gesetzten Erwartungen nicht gerecht werden wird; der Internationale Währungsfonds hat mit der Forderung nach Rentenkürzungen und Einschnitten in weitere Sozialleistungen ganz im Sinne seiner Politik der »Strukturreformen« die weitere Richtung vorgegeben.

Laut der Zentralbank in Kiew stürzt die nationale Reichtumsproduktion in diesem Jahr um rund 10% ab; ohne die Regionen Donezk und Luhansk, die knapp 30% der devisenträchtigen Außenwirtschaft repräsentieren, ist eine Erholung schwer vorstellbar, ebenso wenig wie ohne Wirtschaftsbeziehungen mit Russland.

In dieser komplexen Lage von sozialem und wirtschaftlichen Niedergang, Staatskrise und Staatszerfall sowie militärischen Auseinandersetzungen setzen die EU-Regierungschefs auf Sanktionen, eine Politik der wirtschaftlichen Schädigung, die auf der politischen Hypothese basiert: Der Schlüssel für Frieden und Entspannung in Europa liege in Moskau und mehr noch bei der politischen Zentralfigur Putin. Nur die aktuelle russische Führung könne die ukrainischen Separatisten stoppen und an den bereits aufgestellten Verhandlungstisch zwingen.[5] Doch der gemeinsam mit den USA begonnene »Wirtschaftskrieg« brachte bisher keinerlei politische Bewegung in die West-Ost-Konfrontation – Die Sanktionen zeigen gleichwohl Wirkung.

Was die Bundesregierung vor allem ärgert, ist der Protest aus Reihen deutscher Exportunternehmen. Der Vorsitzende des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, Eckhard Cordes, warnte, dass 60.000 Jobs gefährdet sein könnten. Das bilaterale Handelsvolumen ging im ersten Halbjahr 2014 um 6,3% zurück. Von Januar bis August verringerten sich die Ausfuhren um 16,6% und im Monat August, in dem die Sanktionen in Kraft traten, sanken die Exporte nach Russland laut Statistischen Bundesamt im Vergleich zum Vorjahr um 26,3%. Dies ist der stärkste Einbruch seit der Finanzkrise 2009. Es wird geschätzt, dass sich im Jahr 2014 die Verluste auf sieben Milliarden Euro belaufen.

Die bundesdeutschen Maschinenbauer gehen von Einbußen in Höhe von 40-50% im laufenden Jahr aus – so sind insbesondere die Hersteller von Landmaschinen und die Bergbau-Zulieferer als Ausrüster des russischen und ukrainischen Kohlebergbaus betroffen. Auch die Automobilproduzenten haben die Produktion in ihren russischen Werken spürbar zurückgefahren. Maßnahmen, die sowohl auf die Sanktionen als auf den damit verbundenen Verfall des Rubels zurückzuführen sind.

Nach den bisher unter Verschluss gehaltenen Schätzungen, über die das Wall Street Journal berichtete, dürften die Sanktionen das Wirtschaftswachstum in der EU in diesem und im kommenden Jahr um 0,2-0,3 Prozentpunkte dämpfen. »Für Länder wie Italien oder Frankreich, die bereits jetzt große Konjunktursorgen haben, könnte dies einen Rückfall in die Rezession bedeuten«, schreibt die tageszeitung am 31.10.2014.

Deshalb »ist (es) ein schwerer politischer Fehler, Russland zu isolieren und damit tiefer in die aktuelle wirtschaftliche und politische Krise hineinzutreiben«, so Axel Troost, finanzpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion der Linken. Seine Einschätzung wird in der bundesdeutschen Bevölkerung geteilt, die sich »gegen einen allzu harten Kurs gegenüber Russland« ausspricht. Nur eine Minderheit von 19% ist laut »Deutschlandtrend« dafür, die Strafmaßnahmen auszuweiten. 43% halten die derzeitigen Sanktionen der USA und der EU für angemessen. Rund ein 27% plädieren für deren Aufhebung.

Der Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart warnte schon im Sommer die großkoalitionären Politiker in Berlin und die Journalisten der bundesdeutschen Leitmedien, »auch 100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges fällt es offenbar schwer, die Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen – als Gewalt immer mit Gegengewalt erwidert wurde«. Recht hat er: Die brisante politische Lage in Mittel- und Osteuropa darf kein Terrain für Scharfmacher, Eiferer und Rechthaber sein – und kein Terrain für Mittelmacht-Phantastereien.

[1] »Die Tatsache, dass die aktuell bestimmt kritikwürdigen gesellschaftlichen Strukturen in Russland vom ›Westen‹ heute um ein Vielfaches stärker attackiert werden als die chaotischen Zustände unter Boris Jelzin oder gar die völlig totalitären Strukturen unter Breschnew, trifft die Mehrheit der Russen in ihrem Selbstwertgefühl und führt zu einer stärkeren Solidarisierung mit ihrem Präsidenten. Denn trotz aller Defizite und Auswüchse im System Putin ist in den Augen der Menschen die Situation um ein Vielfaches besser als in den früheren Jahrzehnten.« (Dieter Spöri, KONTEXT Wochenzeitung v. 14.8.2014)
[2] Die US-amerikanische Regierung von Bill Clinton forcierte ab Mitte der 1990er Jahre die NATO-Osterweiterung. In der ersten Erweiterungsrunde wurden 1999 die Tschechische Republik, Ungarn und Polen integriert. In der zweiten folgten 2004 Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien. Die Russen protestierten von Anfang an aufs Schärfste, waren damals jedoch zu schwach, um die NATO-Osterweiterung zu verhindern ‒ die ohnehin nicht sonderlich bedrohlich wirkte, da abgesehen von den winzigen baltischen Staaten keines der neuen Mitgliedsländer an Russland grenzte.
[3] John J. Mearsheimer: Putin reagiert. Warum der West an der Ukraine-Krise schuld ist, in: Internationale Politik und Gesellschaft, www.ipg-journal.de/kommentar/artikel/putin-reagiert-560/
[4] Vgl. sehr aufschlussreich: Felix Jaitner: Das Verhältnis von Demokratie und herrschender Klasse in Russland, in: Sozialismus 12/2014, S. 59-63.
[5] Joachim Bischoff/Björn Radke: Der Krieg in der Ukraine und der Westen. Die Sanktionen – kein Schritt vorwärts!, SozialismusAktuell vom 30.7.2014.

 

 

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