12. April 2022 Otto König/Richard Detje: Der Globale Süden verweigert Sanktionen gegen Russland

»Your enemies are not our enemies«

Geht es nach den Kommentatoren westlicher Leitmedien ist die Sache glasklar: »Die Welt ist geeint gegen Russland«. Doch schiebt man den transatlantischen Vernebelungsvorhang beiseite, sieht die Realität anders aus: Die Bemühungen, Russland zu isolieren, stoßen in Teilen Asiens, Afrikas, Mittel- und Südamerikas nicht auf Zustimmung.

Offizielle Äußerungen schwanken zwischen Befangenheit, Sorge über die Auswirkungen des Krieges auf die Wirtschaft und neuer Kritik an den USA und Europa. Das kann weder als Duldung der russischen Invasion in der Ukraine oder als Feindseligkeit gegenüber dem Westen interpretiert werden, sondern ist ein Zeichen der Zwiespältigkeit gegenüber der sich abzeichnenden neuen Weltordnung.

Am 2. März verurteilten in der UN-Vollversammlung 141 Staaten Russland für seine Invasion in der Ukraine. Fünf Staaten stimmten dagegen, 35 Staaten enthielten sich – darunter China, Indien, Pakistan, Vietnam, Iran, Irak, Südafrika, Simbabwe, Senegal, Tansania, Kuba, Nicaragua. Zwölf weitere Länder waren bei der Abstimmung nicht anwesend.

Aufschlussreich ist die Geografie: 17 von 35 afrikanischen Ländern enthielten sich der Stimme, ebenso wie die meisten zentralasiatischen Länder. Die Weltbevölkerung umfasst derzeit rund 7,9 Milliarden Menschen. Die Bevölkerungszahl jener, die nicht gegen Russland stimmten, liegt bei über 4,18 Milliarden Menschen, das heißt die Repräsentant*innen von weit über der Hälfte der Weltbevölkerung teilen nicht die Position der westlichen Länder.

Die Zahl der Länder, die sich an den westlichen Russland-Sanktionen beteiligen, geht bis heute nicht über 48 hinaus – drei Viertel der 193 UN-Mitgliedstaaten verweigern sich ihnen trotz teils erheblichen Drucks der USA und der EU. Es sind vor allem die Schwellenländer, die die wirtschaftlichen Strafmaßnahmen gegen Russland nicht mittragen. Viele der größten Staaten der Welt – darunter China, Indien, Brasilien, Bangladesch, Pakistan, Indonesien und selbst der Nato-Bündnispartner Türkei – lehnen eine Beteiligung am Wirtschaftskrieg ab.

In Südostasien ist Singapur mit seiner Teilnahme an den Sanktionen isoliert. In Afrika und in Lateinamerika hat bisher kein Land Strafmaßnahmen gegen Russland verhängt; dies trifft zudem auf den Nahen und Mittleren Osten zu. Sie verfahren nach dem Motto von Nelson Mandela: »Your enemies are not our enemies«.

Es sind allen voran große BRICS-Staaten, die sich der »Koalition der Sanktionswilligen« entziehen. Die Volksrepublik China, selbst im Focus von US-amerikanischen Handelssanktionen und der neuen NATO-Strategie im Indo-Pazifik, vermeidet es trotz aller Pressionen – so zuletzt auf dem EU-China-Gipfel –, den Krieg in der Ukraine als Invasion zu bezeichnen, und prangert stattdessen das »unverantwortliche Verhalten« der NATO an. Chinas Außenminister Wang Yi äußerte, sein Land sei »in der Krise keine Partei«, und es wolle sich daher von den US-Sanktionen nicht treffen lassen: »China hat das Recht, seine legitimen Rechte und Interessen zu schützen.«

Indien hat die kategorische Forderung des Westens, Russland zu isolieren, bislang an sich abprallen lassen. Der südasiatische Staat ist bemüht, seine außenpolitische Eigenständigkeit zu bewahren. Einerseits kooperiert es im Machtkampf gegen China eng mit den USA, andererseits ist es um die Bewahrung tragfähiger Beziehungen zu Moskau bemüht. Der indische Staat kauft russisches Erdöl in zunehmendem Umfang; in den knapp vier Monaten dieses Jahres beträgt die Importmenge 13 Millionen Barrel – beinahe so viel wie im Gesamtjahr 2021 (16 Millionen Barrel). Darüber hinaus soll der Import russischer Kokskohle für die Stahlherstellung ausgeweitet werden, während die EU ein Embargo gegen russische Kohle beschlossen hat.

Bislang sind auch alle Versuche erfolglos geblieben, Südafrika zu einer entschiedenen Positionierung gegen Russland zu bewegen. Vor dem Votum der UN-Generalversammlung forderten 24 europäische Botschafter die südafrikanische Regierung in einem Zeitungsbeitrag auf, sich der Verurteilung Russlands anzuschließen. »Was die Welt jetzt braucht«, sei ein klares Ergebnis in der Abstimmung, »um Russland im Lichte seiner militärischen Aggression zu isolieren«, hieß es in dem Text. (FAZ vom 2.3.2022)

Doch Pretoria enthielt sich der Stimme und Präsident Cyril Ramaphosa unterstrich, seine Regierung sei nicht bereit, gegen Moskau Position zu beziehen; man dringe vielmehr darauf, möglichst umfassende Verhandlungen zur Lösung des Konflikts zu führen. In Südafrika ist die Unterstützung der USA sowie weiterer westlicher Staaten für das weiße, rassistische Apartheidregime nach wie vor unvergessen.

Ein ähnliches Unbehagen herrscht in vielen afrikanischen Ländern. Dabei »handelt es sich weniger um eine Zustimmung zur russischen Politik als vielmehr um eine auf dem Hintergrund des Antiimperialismus stehende Ablehnung Europas und des Westens«, so der kamerunische Intellektuelle Paul Simon Handy in einem Interview mit Le Monde (13.2.2022). »Fünf Jahrhunderte lang waren wir Pfande in den Händen kriegsführender europäischer Staaten, deren Ziel es war, Afrikas menschliche und natürliche Ressourcen zu plündern«, sagte Pierre Sané, Präsident des Imagine Africa Institute. »Neutralität bedeutet, dass unsere Herzen weiter für die Opfer militärischer Invasionen und willkürlicher Sanktionen schlagen, die niemals gegenüber NATO-Staaten verhängt werden«, so Sané. (Der Freitag vom 25.3.2022)

In Brasilien kritisieren sowohl der amtierende rechtsradikale Präsident Jair Bolsonaro (PL) als auch sein linker Herausforderer Luiz Inácio Lula da Silva (PT) die Verletzung der Souveränität der Ukraine, beide stehen jedoch Sanktionen ablehnend gegenüber. Ein Grund ist: Russland, einer der größten Düngerproduzenten der Welt, deckte bisher fast ein Fünftel des Bedarfs in Brasilien ab, einem der bedeutendsten Agrarproduzenten weltweit. Durch die Sanktionen gegen Moskau ist die Lieferung von Düngemitteln aus Russland praktisch zum Erliegen gebracht haben.

Brasilien hat mit Argentinien, Paraguay, Uruguay sowie mit Chile und Bolivien die Initiative ergriffen, um eine Befreiung russischer Düngemittellieferungen von den westlichen Sanktionen zu erreichen. Andernfalls drohten nicht nur »ein dramatischer Preisanstieg bei den Nahrungsmitteln weltweit, sondern womöglich sogar Nahrungsmangel und Hunger«, warnt die brasilianische Agrarministerin Tereza Cristina da Costa Dias (GFP 18.3,2022). Ein kürzlich veröffentlichter Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen FAO geht davon aus, dass 8 bis 13 Millionen Menschen zusätzlich unter Hunger leiden könnten. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen sprach von der Gefahr eines »Hurrikans der Hungersnöte«.

Tatsächlich droht in vielen Staaten eine schwere Nahrungsmittelkrise. Etwa 70% der russischen und 40% der ukrainischen Exporte von Weizen, Mais und Sonnenblumenöl gehen in den Nahen Osten und nach Afrika. In Ägypten steigt der Brotpreis derzeit so stark, dass das Land – auch vor dem Hintergrund der Abwertung des ägyptischen Pfunds gegenüber dem US-Dollar um etwa 18% – bereits den Internationalen Währungsfonds (IWF) um Hilfe gebeten hat.

Den meisten Staaten in Lateinamerika ist das Prinzip der Nicht-Intervention heilig, in Mexiko ist es sogar in der Verfassung verankert. Argentinien, Brasilien und Mexiko haben sich deutlich gegen die Russlandsanktionen ausgesprochen. »Wir sind nicht der Ansicht, dass dieser Krieg uns betrifft«, sagte der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador: »Wir werden keine Wirtschaftssanktionen verhängen, denn wir wollen gute Beziehungen zu allen Regierungen.«

Für den argentinischen Außenminister Santiago Cafiero stellen Sanktionen keinen Mechanismus dar, »um Frieden und Harmonie oder die Möglichkeit für einen Dialog zu schaffen, der dazu dient, Leben zu retten.« In Lateinamerika wird den USA angesichts des nach wie vor bestehenden Hegemonie-Anspruchs die Rolle als Verteidiger des Völkerrechts und des in der UN-Charta festgelegten Selbstbestimmungsrechts nicht abgenommen.

Im Nahen Osten verhalten sich die Regierungen vieler arabischer Staaten zurückhaltend. Sie beschränken sich in ihren offiziellen Äußerungen auf Aufrufe zur Deeskalation und betonen die Notwendigkeit eines Waffenstillstands. Nach den US-amerikanischen Interventionen im Irak, Afghanistan und in Libyen offenbart sich im Ukraine-Konflikt für etliche arabische Staaten einmal mehr die »Heuchelei des Westens«, wenn es um den Wert menschlichen Lebens geht. Sie weigern sich, einen Unterschied zwischen George Bushs Invasion im Irak 2003 und Wladimir Putins Invasion in der Ukraine 2022 zu erkennen.

In der aktuellen Auseinandersetzung wollen sie weder ihre Beziehungen zum Westen noch zu Russland gefährden. So sperren sich Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) gegen das Verlangen, ihre Ölförderung stark auszuweiten, um ein globales Ölembargo gegen Russland zu ermöglichen. Für beide Staaten ist es auch künftig wichtig, die Absprachen von OPEC+, der Kooperationsplattform mit Nicht-OPEC-Staaten wie Russland, einzuhalten. Gleichzeitig bauen Riad und Abu Dhabi ihre Zusammenarbeit mit Beijing aus, und Saudi-Arabien plant, Erdölexporte nach China in Zukunft nicht mehr in US-Dollar, sondern in chinesischen Yuan abzuwickeln. Das wäre ein Schlag gegen die Dominanz des US-Dollars (wsj.com 15.3.2022).

Der Iran ist gespalten, da das Land befürchtet, dass die Ukraine-Frage den erfolgreichen Abschluss des Atomabkommens, über das derzeit verhandelt wird, stören könnte. Das NATO-Mitglied Türkei, das die russische Invasion verurteilt und Drohnen an die Ukraine liefert, will dennoch keinen Keil zwischen sich und Russland treiben lassen.

Von einer weltweiten Isolation Russlands kann also keine Rede sein. Im Gegenteil: Wenn so große Volkswirtschaften wie China, Indien, Brasilien, Indonesien und Südafrika weiterhin Geschäfte mit Russland machen, verfehlen Sanktionen ihr Ziel. Die Ukraine-Krise kann sogar mittelfristig zu einer Stärkung der Staaten im Süden führen.

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