14. August 2024 Friedrich Steinfeld: Die brisanter gewordene Lage im Nahen Osten
Zeit für einen Waffenstillstand
Die israelische Regierung lässt Führer von politischen Feinden gezielt – auch außerhalb der eigenen Landesgrenzen – ermorden, äußert sich dazu aber öffentlich nicht. Anfang August wurden binnen weniger Stunden erneut zwei hochrangige Führungspersonen der irangeführten israelfeindlichen »Achse des Widerstandes« umgebracht.
Als Folge davon muss neben den fortgesetzten Raketenangriffen der Hizbullah mit einem direkten iranischen Luftangriff auf Israel gerechnet werden. Der Raum für das Wechselspiel von kontrollierten militärischen Schlägen und Gegenschlägen in Nahost wird jedoch immer kleiner. Der Schattenkrieg zwischen Israel und Iran droht in einen offenen Krieg umzuschlagen. Die geo-politischen Risiken, die von dieser Region ausgehen, verschärfen sich weiter.
Die von Iran militärisch und finanziell unterstützte schiitische Hizbullah-Miliz im Libanon musste einen demütigenden tödlichen Angriff Israels gegen Fuad Shukr, einen ihrer wichtigsten militärischen Führer, hinnehmen. Mindestens vier Personen, zwei Frauen und zwei Kinder, wurden mit ihm ermordet.
Beim (mutmaßlich vom israelischen Auslandsgeheimdienst Mossad ausgeführten) Sprengstoffanschlag im Gästehaus des iranischen Präsidenten, starben Ismael Haniyeh, der politische Chef der Hamas und Gast des iranischen Regimes sowie sein Bodyguard. Haniyeh wurde 1963 im Flüchtlingslager al-Schati im Gazastreifen geboren und stieg nach der Tötung früherer Hamas-Führer durch Israel in die Inlandsführung der Hamas auf.
Seine politische Stunde schlug, als die Hamas 2006 überraschend die Wahl zum Autonomierat in den palästinensischen Gebieten mit ihm als Spitzenkandidat gewann. Er wurde daraufhin vom Vorsitzenden der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), Mahmud Abbas, mit der Regierungsbildung beauftragt. Haniyeh lehnte die Anerkennung Israels und die Einstellung des bewaffneten Kampfes weiter ab. Die Einheitsregierung war nur von kurzer Dauer. In einem blutigen Coup riss die Hamas 2007 die Macht in Gaza an sich. Haniyeh regierte dort als vom Ausland nicht anerkannter Ministerpräsident. Unter ihm lehnte sich die Hamas noch stärker Iran an.
Haniyeh galt als moderater als der militärische Chef der Hamas, Yahya Sinwar, und war bis zu seinem Tod ein wichtiger Akteur der indirekten Verhandlungen zwischen der Hamas und der israelischen Regierung. Inzwischen wurde Sinwar neuer Leiter des politischen Büros der Hamas. Der ebenfalls in einem Flüchtlingslager in Gaza Geborene gilt als Organisator des Terrorangriffs der Hamas vom 7. Oktober 2023 und agiert offenbar noch immer vom Tunnelsystem unter Gaza aus.
Mit dem Ersatz ihres Politbüro-Chefs Haniyeh durch Sinwar beendet Hamas die bisherige Trennung zwischen der politischen Führung im Exil und der militärischen in Gaza. Über Konflikte innerhalb der Führungsriege der Hamas dringt wenig nach außen. Während die Exilführung um Haniyeh zu gewissen Kompromissen bereit war, gab sich Sinwar stets unnachgiebig. Seine Ernennung zum politischen Führer ist ein politisches Signal an Israel: Der bewaffnete Kampf wird fortgesetzt. Laut US-Außenminister Antony Blinken soll Sinwar bereits in seiner vorherigen Rolle als Leiter des militärischen Arms der Hamas großen Einfluss in den Gesprächen über ein Abkommen zur Waffenruhe gehabt haben, und weist ihm Schlüsselrolle auch für zukünftige in den Verhandlungen zu.
Steigende geo-politische Risiken
Der Anschlag auf Haniyeh ist nicht nur für die Hamas eine besondere Demütigung, sondern auch für den Iran, da er auf iranischem Gebiet erfolgte und die Revolutionsgarden offenkundig nicht in der Lage waren, den Hamas-Führer zu schützen. Insofern muss damit gerechnet werden, dass Iran zu einem neuen direkten Gegenschlag gegen Israel ausholen wird. Beim ersten direkten iranischen Angriff auf Israel im April war dieser zuvor angekündigt worden, sodass die allermeisten der über 300 Drohnen und Raketen durch Israel im Verbund mit den USA und einigen arabischen Nachbarstaaten abgeschossen werden konnten und der Schaden für Israel gering blieb. Wann und wie der jetzt erwartete Gegenschlag erfolgen wird, lässt Iran offen.
Der Spielraum für kontrollierte militärische Operationen und Gegenmaßnahmen wird im geo-politischen Pulverfass Nahost immer geringer. Sollte es tatsächlich zu einem erneuten direkten militärischen Angriff Irans und seiner Verbündeten auf Israel kommen, droht eine unkontrollierbare Eskalation mit weitreichenden geo-ökonomischen und –politischen Folgen.
Die USA haben ihre militärische Präsenz im östlichen Mittelmeer durch Entsendung eines weiteren Flugzeugträgers mit Begleitschiffen sowie eines atomgetriebenen U-Bootes mit Lenkraketen verstärkt und bemühen sich gleichzeitig auf diplomatischem Weg, die drohende Eskalation zu vermeiden. Unterdessen hat Iran eine Vertiefung seiner Beziehungen mit Russland angekündigt. Russland soll, so berichtet die New York Times, bereits mit der Lieferung von modernen Radaranlagen und Ausrüstung zur Luftraumverteidigung an Iran begonnen haben.
Zugleich soll der russische Präsident Wladimir Putin dem iranischen Revolutionsführer Khamenei die Botschaft übermittelt haben, dass er jeden Angriff, bei dem israelische Zivilisten getötet würden, scharf verurteilen werde. Iran hat Russland in dessen Krieg gegen die Ukraine bisher massiv mit der Lieferung von Drohnen und Raketen unterstützt. Der Iran ist also ein Schnittpunkt zwischen beiden Kriegen, was die Konfliktlagen im Nahen und Mittleren Osten immer verwickelter und die möglichen Konsequenzen eines offenen Krieges immer unkalkulierbarer macht.
Andererseits können weder Israel noch der Iran Interesse an einem großen Krieg haben. Die neue iranische Regierung ist erst seit Kurzem im Amt, die wirtschaftliche Lage massiv angespannt und die soziale Lage der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung äußerst prekär. Das Mullah-Regime wird von einer großen Mehrheit der Iraner*innen abgelehnt. Auch Israel kann sich keinen weiteren Krieg leisten. Die israelische Wirtschaft leidet schon jetzt massiv unter dem Krieg in Gaza, außerdem ist die israelische Gesellschaft weiterhin zerrissen und stark polarisiert.
Netanjahus verhängnisvolle Rolle
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welchen strategischen Sinn die Ermordung Haniyehs macht. Der militärische Nutzen solcher Operationen muss bezweifelt werden, da solche Tötungen kaum negative Auswirkungen auf die militärische Schlagfähigkeit der Hamas haben, wie sich in der Vergangenheit immer wieder gezeigt hat. Umgekehrt stärken sie den Märtyrer-Mythos der getöteten Führer und befördern die Rekrutierung für sie.
Die erneuten tödlichen Angriffe Israels müssen in den Kontext der zurzeit laufenden Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas in Doha über einen Waffenstillstand in Gaza und der Freilassung der von der Hamas immer noch festgehaltenen über 100 israelischen Geiseln gestellt werden. Über einen Waffenstillstand und eine Freilassung von Geiseln verhandeln zu sollen und gleichzeitig den politischen Führer der anderen Kriegspartei ermorden zu lassen, der dazu noch an den Verhandlungen beteiligt ist, legt die Vermutung nahe, dass die israelische Regierung zumindest derzeit kein substantielles Interesse an einer Einigung hat.
Das Interesse des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahus besteht einerseits in der Sicherung seines politischen Überlebens, was nur durch Aufrechterhaltung der rechtsextremen Regierungskoalition möglich ist. Jeder denkbare Verhandlungskompromiss ist zugleich mit der Drohung der Aufkündigung der Koalition durch die extrem nationalistisch-religiösen Koalitionspartner belegt. Andererseits ermöglicht das Verschleppen einer Einigung auch das Schinden von Zeit, bis sich eine neue Gelegenheit für die Durchsetzung israelischer Maximalpositionen ergibt, z.B. bei einem Sieg Donald Trumps in US-Präsidentschaftswahlen, der sich zwar für ein schnelles Ende im Gaza-Krieg ausspricht, Netanjahu aber die volle Solidarität zusichert.
Die USA haben ihren engen Verbündeten vor und nach dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober militärisch massiv unterstützt. Über das gegenüber der palästinensischen Zivilbevölkerung rücksichtslose militärische Vorgehen in Gaza hat es immer wieder Differenzen zwischen der Biden-Administration und der israelischen Regierung gegeben.
US-Präsident Joe Biden warf Netanjahu jüngst vor, mit der gezielten Tötung der feindlichen Führungspersonen die Verhandlungen zwischen der Hamas und Israel zu unterlaufen und die Spannungen in der Region weiter anzuheizen. Die Gespräche mit der Hamas stecken fest, seit Netanjahu neue Bedingungen aufgestellt hat. Dabei geht es u. a. um die fortgesetzte Präsenz israelischer Truppen im Gazastreifen auch nach dem Eintritt einer Waffenruhe.
Auch in Israel selbst wird die Kritik am Vorgehen Netanjahus immer lauter. Die Chef-Unterhändler sehen sich politisch missbraucht, da es mit den von ihm aufgestellten Bedingungen keine Einigung mit der Hamas geben könne. Auch die seit Langem bestehenden Spannungen zwischen Netanjahu und Verteidigungsminister Yoav Gallant verschärfen sich. Gallant hatte sich gegenüber Abgeordneten für einen Geiseldeal ausgesprochen und Netanjahus Idee eines »totalen Sieges« kritisiert, woraufhin ihm dessen Büro vorwarf, er bediene ein »antiisraelisches Narrativ«. Auch aus dem Kreis der Angehörigen der verschleppten Geiseln kommt massive Kritik am Regierungschef.
Arabische Nachbarstaaten, die ihre Beziehungen zu Israel teilweise normalisiert haben, gehen ebenfalls zunehmend auf Distanz, weil sie unter dem Druck ihrer jeweiligen Bevölkerungen stehen. Der jordanische Außenminister nannte das Attentat auf Haniyeh ein »Verbrechen« und forderte die internationale Gemeinschaft auf, Israel einzudämmen, sonst werde »es die Region in weitere Kriege und Zerstörung treiben«.
Auch die Führung der Vereinigten Arabischen Emirate übte massive Kritik: »Wir können noch so viel über Netanjahus Motive spekulieren, aber am Ende macht dies Israel zu einem Schurkenstaat.« Der Ministerpräsident von Katar, der maßgeblich zwischen Israel und der Hamas vermittelt, brachte seine Kritik auf den Punkt: »Politische Attentate und der fortgesetzte Beschuss von Zivilisten im Gazastreifen während der laufenden Gespräche lassen uns fragen, wie eine Vermittlung gelingen kann, wenn eine Seite den Verhandlungsführer der anderen Seite ermordet.«
Netanjahu gibt sich zwar unbeirrt und bekräftigt das strategische Ziel, die Hamas komplett zu zerschlagen. Nach wie vor sterben dabei enorm viele palästinensische Zivilisten. Das Ziel seiner Regierung ist ebenso wenig realistisch wie das Ziel der Hamas, durch Terror einen palästinensischen Staat zu errichten. Letztlich fehlt beiden eine langfristige Exit-Strategie aus dem Krieg, denn allein mit militärischer Gewalt wird keine Kriegspartei den Konflikt beenden können.
Zweistaatenlösung wieder in weite Ferne gerückt
Eine Zweistaatenlösung, eine Möglichkeit der nachhaltigen Konfliktlösung, ist nicht in Sicht. Die Knesset, das israelische Parlament hat sich erneut gegen die Gründung eines palästinensischen Staates und damit gegen eine Zweistaatenlösung ausgesprochen, »lehnt die Gründung eines palästinensischen Staates westlich des Jordans entschieden ab. Die Gründung eines palästinensischen Staates im Herzen des Landes Israel würde eine existenzielle Gefahr für den Staat Israel und seine Bürger darstellen«, heißt es in dem Beschluss. »Es wird nur eine Frage kurzer Zeit sein, bis die Hamas den palästinensischen Staat übernimmt und ihn in eine radikale islamische Terrorbasis verwandelt. Die Idee eines palästinensischen Staates zum jetzigen Zeitpunkt zu fördern, wäre eine Belohnung für Terrorismus.«
68 der 120 Abgeordneten stimmten für diesen Beschluss. Darunter die Parteien der rechtsextremen Regierung sowie die Mehrheit der Abgeordneten der Oppositionspartei von Benny Gantz. Neun Mitglieder von arabischen Parteien stimmten dagegen, 43 waren abwesend oder enthielten sich. Das Votum, mit dem die Zweistaatenlösung noch weiter in die Ferne rückt, bestätigte die bisherige Haltung des Parlaments; es hat keine konkreten Konsequenzen, zeigt aber die politischen Machtverhältnisse in der Knesset.
In diesem Jahr haben mehrere Staaten, darunter Spanien, Irland und Norwegen, die palästinensischen Gebiete als Staat anerkannt. Deutschland betont dagegen bislang, ein palästinensischer Staat müsse im Rahmen von Friedensverhandlungen mit Israel vereinbart werden. Da diese schon seit etlichen Jahren brachliegen, erweist sich diese Haltung immer mehr als Illusion.
»Es ist an der Zeit«
verkünden der Präsident der USA, der Emir von Katar und auch Ägyptens Machthaber Al-Sisi, »sowohl der leidgeprüften Bevölkerung von Gaza als auch den leidgeprüften Geiseln und ihren Familien unverzüglich Erleichterung zu verschaffen«. (FAZ vom 10.8.2024) Diese Regierungen vermitteln seit Monaten, um eine solche Vereinbarung zwischen Israel und der Hamas zustande zu bringen. Jetzt liege ein Entwurf auf dem Tisch, heißt es in dem Statement mahnend. Nur noch »Einzelheiten der Umsetzung« müssten geklärt werden, es gebe »keine Zeit mehr zu verlieren und keine Ausreden für weitere Verzögerungen«.
Netanjahu ließ umgehend verkünden, er werde seine Unterhändler zu dem vorgesehenen Termin am 15. August in Doha oder Kairo schicken. Störfeuer kam, wie nicht anders zu erwarten, von seinem Koalitionspartner und Finanzminister Bezalel Smotrich. Es sei »nicht an der Zeit« für ein »Kapitulationsabkommen«, das Israel diktiert werden solle, schrieb er auf X. Die Hamas teilte mit, dass eine unterschriftsreife Vereinbarung seit Anfang Juli auf dem Tisch liege. Die Vermittler sollten einen »Umsetzungsplan« vorlegen und Israel verpflichten, diesen zu akzeptieren, anstatt neue Vorschläge zu erörtern. Ob es zu einer Wiederaufnahme der Verhandlungen und in der Folge dann zu einer Einigung zwischen den Kriegsparteien kommt, ist völlig offen.
Ein iranischer Angriff Irans und seiner Verbündeten auf Israel würde die Verhandlungen sofort blockieren. Umgekehrt könnte eine Einigung einem iranischen Angriff vorbeugen. Das Land könnte in diesem Fall gesichtswahrend geltend machen, dass es Israel mit den Drohungen eines Gegenschlages zur Einigung gezwungen habe. Es ist also allerhöchste Zeit für eine schnelle Einigung zwischen Israel und der Hamas.
Auch die Berliner Republik im Zwiespalt
Bundeskanzler Olaf Scholz hatte nach dem Massaker der Hamas auf jüdische Staatsbürger*innen im Bundestag bekräftigt, dass die Sicherheit Israels zur deutschen »Staatsräson« gehöre, ähnlich wie seine Vorgängerin Angela Merkel. Angesichts eines drohenden direkten Angriffs des Iran und seiner Verbündeten auf Israel könnte nun tatsächlich der Testfall auf diesen Schwur eintreten.
Der Außen- und Sicherheitspolitiker Roderich Kiesewetter (CDU) hat die Bundesregierung bereits aufgefordert, Israel bei der Abwehr eines iranischen Angriffs militärisch zu unterstützen, z.B. durch den Einsatz von Tankflugzeugen und Eurofightern der Luftwaffe zur Abwehr von iranischen Raketen und Drohnen. »Staatsräson« dürfe im Fall der Fälle keine bloße Worthülse bleiben. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hat dagegen die Beteiligung deutscher Soldaten an einer Mission zum Schutz Israels zumindest für den Moment ausgeschlossen. Das sei »gerade völlig unvorstellbar«.
Allerdings ist die Bundeswehr aktuell gar nicht in der Lage, Israel militärisch substantiell zu unterstützen. Außerdem wäre für einen solchen Einsatz der Bundewehr ein Mandat des Bundestages erforderlich. Und insgesamt haben weder die Parteien der Ampelkoalition noch die Unionsparteien vor den anstehenden Landtagswahlen in Ostdeutschland ein Interesse daran, nach den umfassenden Waffenlieferungen an die Ukraine, die gerade dort auf Ablehnung stoßen, nun auch noch die Weichen für eine direkte Kriegsbeteiligung Deutschlands an der Seite Israels zu stellen.
Die Partei Die Linke lehnt eine militärische Hilfe für Israel grundsätzlich ab. Die Parteivorsitzende Janine Wissler fordert im ZDF ein Ende der Gewaltspirale, ein Krieg im Nahen Osten müsse verhindert werden: »Wer ernsthaft fordert, die Bundeswehr im Nahen Osten und an der Seite von Benjamin Netanjahu, gegen den wegen Kriegsverbrechen ermittelt wird, einzusetzen, handelt verantwortungslos.« Die Bundesregierung müsse stattdessen alles tun, um einen Waffenstillstand in Gaza und eine Deeskalation in der Region zu erreichen, statt Rüstungsgüter zu liefern.
Der über 100 Jahre alte Konflikt zwischen Jüdinnen/Juden und den Palästinenser*innen hat mittlerweile einen Eskalationsgrad erreicht, dass er jederzeit in einen regionalen Flächenbrand und darüber hinaus mit unabsehbaren Folgen für die Weltwirtschaft umschlagen und die längst im Gange befindliche Polarisierung in den internationalen Beziehungen weiter verschärfen kann.
Die Vorstellung einer rein zionistischen Lösung der Judenfrage hat sich in der historischen Realität, so der israelische Historiker und Antisemitismusforscher Moshe Zimmermann, immer mehr als Mythos entpuppt.[1] Israels Existenz kann nur auf Dauer gesichert werden, wenn es in einem ersten Schritt zu einem Waffenstillstand mit der Hamas und einer Freilassung der Geisel kommt.
Insofern ist es zu begrüßen, dass Bundeskanzler Scholz im Verbund mit seinen französischen und britischen Amtskollegen Netanjahu zum Abschluss einer Einigung mit der Hamas aufgefordert hat. Sollte die israelische Regierung eine Einigung weiter verschleppen, muss von deutscher Seite z. B. ein Stopp der Lieferung von Rüstungsgütern an Israel erfolgen, die im Gaza-Krieg eingesetzt werden.
Da es ohne eine Zweistaatenlösung keine nachhaltige Konfliktregelung geben wird, muss auch in dieser Frage von deutscher Seite auf die israelische Regierung Druck ausgeübt werden, z.B. durch die Anerkennung eines eigenen Staates der Palästinenser*innen, sollte Israel sich weiterhin einer solchen Lösung verweigern. Eine Zweistaatenlösung wird auf Dauer nur bestehen können – auch darauf hat Moshe Zimmermann hingewiesen –, wenn es bei Akzeptanz der jeweiligen Minderheiten zugleich zu einer intensiven und umfassenden wirtschaftlichen Kooperation zwischen Israel und den Palästinenser*innen kommt.
Hierbei geht es nicht nur um die Überwindung des Clash der Kulturen, sondern auch um die Überwindung der Eigentumsformen – kapitalistisches Privateigentum vs. orientalisches Gemeineigentum –, die als Grundkonflikt hinter dem Zusammenprall der Kulturen liegen. Ein solches zwischenstaatliches Großprojekt kann nur gelingen, wenn es von der internationalen Gemeinschaft auf unterstützt wird. Dadurch ließe sich auch einer der entscheidenden geo-politischen Konfliktherde entschärfen.
Anmerkung
[1] Siehe hierzu ausführlicher: Friedrich Steinfeld, »Wie der Konfliktspirale in Nahost entkommen?«, in Sozialismus.de, Heft Nr. 4-2024. S. 11–15.