13. April 2022 Joachim Bischoff: Die Folgen von Krieg und Wirtschafts-Krieg
»Zeitenwende« auch in der Wohlstandsentwicklung
Die Preissteigerungsraten in den USA und Europa erreichen aktuell neue Negativrekorde. In den USA hat sich die Inflation im März von hohem Niveau aus weiter beschleunigt, die Verbraucherpreise stiegen gegenüber dem Vorjahresmonat um 8,5%, in Deutschland um 7,3% und 7,5% in der gesamten Eurozone. Diese Aufwärtsbewegung ist seit Jahrzehnten einmalig.
Faktisch bedeutet diese ökonomische Bewegung in den kapitalistischen Metropolen einen deutlichen Verlust für die Realeinkommen. Und diese Verschiebung in den Verteilungsverhältnissen wird auf absehbare Zeit anhalten. Daher sprechen führende Politiker der Berliner Republik das Faktum eines chronischen Wohlstandsverlustes für breitere soziale Schichten aus.
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat die Deutschen auf schwierige Zeiten eingestimmt. Er machte den Krieg in der Ukraine dafür verantwortlich, in dem Deutschland »Wirtschafts-Kriegspartei« sei. »Wir werden dadurch ärmer werden. Die Gesellschaft wird es tragen müssen«.
Und der CDU-Chef und Oppositionsführer im Deutschen Bundestag, Friedrich Merz, sieht auch den deutschen Wohlstand am Schwinden. »Wir haben wahrscheinlich – jedenfalls für eine gewisse Zeit – den Höhepunkt unseres Wohlstandes hinter uns«. Die Politik könne diese Entwicklung nur bedingt abmildern. »Wir werden auch das ein oder andere uns nicht mehr leisten können. Das wird für eine bestimmte Zeit so sein.« Bevölkerungsgruppen wie kinderreichen Familien müsse aber gezielt geholfen werden. »Aber es wird für die normale Familie, auch für viele im Land, teurer werden.«
In der Tat: Viele Bürger*innen in den westlichen Ländern müssen mit einem signifikanten Kaufkraft- und Wohlstandsverlust fertig werden. Durch die Umverteilungseffekte verstärkten sich die Abwärtstendenzen in der Wirtschaftsdynamik. Die Konjunkturprognosen für das Jahr 2022 und die nachfolgenden Jahre werden zurückgenommen. Die Abwärtsrevision des Wirtschaftswachstums resultiert aus dem Krieg in Osteuropa und den anhaltenden Einflüssen der Corona-Pandemie. Und weitere Abwärtsrisiken für diese Prognosen sind beträchtlich, insbesondere wenn sich die derzeitige Situation im zweiten Halbjahr fortsetzt oder sich sogar verschlechtert.
Die führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute haben in der heute veröffentlichten Gemeinschaftsdiagnose (Frühjahrsgutachten) ihre Wachstumsprognose für 2022 drastisch auf 2,7% gesenkt. Im Herbstgutachten waren die Forscher noch von einem Plus von 4,8% ausgegangen. Der Krieg in der Ukraine und die umfangreichen Sanktionen gegen Russland haben den weltwirtschaftlichen Ausblick und die Konjunkturwartungen für Deutschland spürbar eingetrübt.
Während die Kaufkraft der Konsumenten durch die hohen Energiepreise verringert wird, belasten die geopolitischen Risiken die Investitionsneigung der Unternehmen. Zudem können die Probleme bei den Lieferketten immer wieder zu stockender Industrieproduktion führen. Die verbleibenden Einschränkungen in der Pandemiebekämpfung dürften die wirtschaftliche Aktivität nur noch geringfügig belasten. China hingegen wird wohl weiter an seiner besonders strikten Eindämmungspolitik festhalten, die immer wieder zur Abriegelung ganzer Städte und Schließungen von Fabriken oder Hafenanlagen führt. Dies trägt dazu bei, dass die Probleme bei internationalen Lieferketten mindestens im ersten Halbjahr 2022 bestehen bleiben.
Diese Aufklärung für die nationalen Folgen der faktischen Partizipation als Wirtschafts-Kriegspartei seitens führender Ökonomen erfolgt mitten in der Kampagne für eine Ausweitung der Sanktionen gegen Russland durch ein sofortiges Embargo von fossilen Energien, mit dem Deutschlands Wirtschaftskrieg gegen Russland – nicht nur gegen Putin und dessen politische Klasse – verschärft werden soll, auch wenn sich viel in der Berliner Republik über diese Verstrickung nicht im Klaren sind.[1]
In einem »Alternativszenario« haben die Ökonomen berechnet, wie sich die deutsche Wirtschaft bei einem sofortigen Stopp russischer Gaslieferungen entwickeln würde. In diesem Falle würde das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) in diesem Jahr nur noch um 1,9% wachsen, 2023 würde es sogar um 2,3% schrumpfen. Eine sofortige Unterbrechung der russischen Gaslieferungen hätte den Berechnungen zufolge für die deutsche Wirtschaft verheerende Folgen. »Bei einem Stopp der Gaslieferungen droht der deutschen Wirtschaft eine scharfe Rezession«, warnte der Vizepräsident und Konjunkturchef des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Stefan Kooths.
Aber auch der aktuell verfolgte Kurs eines Ausstiegs aus den fossilen Energien wird eine deutliche Veränderung der Kostenstrukturen bei Produktion des gesellschaftlichen Wohlstands und damit eine verschärfte internationale Konkurrenz auslösen, so dass auch hier weitere Verteilungskonflikte drohen.
Auch die Welthandelsorganisation WTO rechnet wegen der Folgen des Ukraine-Krieges mit einem deutlich abgeschwächten Welthandel. Laut ihrer Prognose dürfte er dieses Jahr nur noch um 3,0% zulegen, bislang hat die WTO mit 4,7% gerechnet. Für nächstes Jahr wird ein Plus von 3,4% erwartet. Die Vorhersagen seien allerdings weniger sicher als sonst, teilte die WTO in Genf mit.
Neben dem russischen Angriff auf die Ukraine, der die ohnehin schon hohen Energiepreise weiter angeheizt hat und auch Lebensmittel verteuert, gibt es laut WTO viele weitere Probleme für Exporteure. Die Corona-Variante Omikron, das Auslaufen von Corona-Hilfen, hohe Inflation und steigende Zinsen hätten die Aussichten schon vorher getrübt. Nun kämen in China noch die Corona-Lockdowns hinzu.
Die Generaldirektorin der Welthandelsorganisation, Ngozi Okonjo-Iweala, warnte Länder davor, als Reaktion auf den Krieg separate Handelsblöcke aufzubauen. Vielmehr sollten Länder das multilaterale Handelssystem ausbauen und neue, ärmere Länder als Handelspartner in Betracht ziehen. Diese litten besonders unter den Kriegsfolgen. Allein in Afrika importierten 35 Länder Weizen und anderes aus Russland oder der Ukraine, sagte sie.
»Ärmere Länder sind durch den Krieg großen Risiken ausgesetzt, weil sie im Vergleich zu reicheren Ländern einen größeren Teil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben«, schrieb die WTO, »das könnte Folgen für die politische Stabilität haben«. Die WTO-Chefin warnte vor Nahrungsmittelunruhen und verwies auf die Proteste in Sri Lanka.
Folgen für die Weltwirtschaft haben den Angaben nach nicht nur Unterbrechungen russischer und ukrainischer Exporte von Energie, Getreide und Sonnenblumenprodukten. Russland sei auch einer der Hauptlieferanten von Palladium und Rhodium für die Herstellung von Auto-Katalysatoren. Die Ukraine versorge die Halbleiterindustrie mit Neon. Folgen hätten auch die Sanktionen gegen Russland sowie Nachfragerückgänge im Rest der Welt, weil die Zuversicht der Verbraucher sinkt.
Insbesondere Bürger*innen mit kleineren oder mittleren Einkommen werden besonders hart durch die hohen Preissteigerungen und Kaufkraftverluste getroffen. Diese hohen Inflationsraten dürften sich nicht verfestigen und dies ruft die Notenbanken auf den Plan. Diese Entwicklung hat schon dazu geführt, dass die US-Notenbank Federal Reserve (Fed) Mitte März zum ersten Mal seit 2018 eine Zinserhöhung vornahm, den wichtigsten Zinssatz um 0,25% anhob und auch die Kreditversorgung deutlich zurückführt. Sie hat zudem weitere Zinserhöhungen angekündigt. Auch die anderen Notenbanken sehen sich im Handlungszwang: Die Bank of England hat bereits drei Leitzinserhöhungen vorgenommen und den Zinssatz in Großbritannien auf 0,75 % angehoben.
Die steigenden Zinsen sind dabei keinesfalls allein auf den Krieg im Osten zurückzuführen, wenngleich dieser die Dynamik verschärft. Ursächlich für die Zinswende ist die veränderte Politik der weltweiten Notenbanken. Diese fahren seit vielen Jahren eine ultralockere Geldpolitik, die angesichts der Preissteigerungen absehbar vor dem Ende steht.
Diese Politik hat weitere Folgen: Für US-Präsident Joe Biden und seine Demokraten ist die anhaltend hohe Teuerungsrate rund sieben Monate vor der wichtigen Kongresswahl eine große Herausforderung. Die stärksten Preistreiber in den USA im März waren Kraftstoffe, Mieten und Lebensmittel. Der rasche Anstieg wurde meist mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine erklärt, der die Ölpreise ansteigen ließ.
In den USA war die Inflation bereits im vergangenen Jahr im Zuge der Erholung von den wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie stark angestiegen. Grund waren unter anderem eine erhöhte Nachfrage nach Gütern bei gleichzeitigen Engpässen bei den internationalen Lieferketten und ein Arbeitskräftemangel. In den vergangenen Monaten führten dann die Ukraine-Krise und der russische Angriffskrieg gegen das Nachbarland zu einem starken Anstieg der Preise für Erdöl und damit auch für Benzin. Das mittelfristige Inflationsziel der Fed von 2% wird – wie bei den anderen Notenbanken – deutlich überschritten. Sie verschärfen daher alle ihren kreditpolitischen Kurs erheblich.
Die Erhöhungen des Leitzinses und Beschränkungen des Kredits bremsen die gesellschaftliche Nachfrage. Das hilft zwar, die Inflationsrate zu senken, schwächt aber auch das Wirtschaftswachstum. Für die Notenbanken ist es daher ein Balanceakt: Sie wollen die Zinsen so stark anheben, dass die Inflation ausgebremst wird, ohne dabei gleichzeitig die am Ende der Corona-Krise wieder angesprungene Konjunktur und Verbesserungen am Arbeitsmarkt abzuwürgen.
Hohe Preissteigerungen und Kaufkraftverluste haben Auswirkungen in den anstehenden Wahlen
Trotz der verbesserten Konjunkturentwicklung geben viele Wähler*innen zum Beispiel den Wirtschaftspolitiken von Präsident Emmanuel Macron in Frankreich oder von Joe Biden in den USA schlechte Noten. Als Grund wird meist die hohe Teuerungsrate genannt, die die Kaufkraft der Verbraucher auffrisst.
Die rechtspopulistische Marine Le Pen hatte im französischen Präsidentschafts-Wahlkampf den richtigen Punkt getroffen und neben der Migration die schwindende Kaufkraft in den Mittelpunkt ihrer Kampagne gerückt. Wer außerhalb der französischen Großstädte ein offenes Ohr für die Sorgen der Menschen hat, hätte wissen müssen, dass sich in puncto Kaufkraft etwas zusammenbraut. Großen Teilen der Wahlbevölkerung geht es um die Entwicklung des Wirtschaftspotenzials und die Sicherung und Ausbau des gesellschaftlichen Wohlstands (Renteneintrittsalter, Ausbildung und Arbeitsplätze, sowie Wohnungen).
Auch US-Präsident Biden hat neben der umfassenden Modernisierung der Ökonomie den Kampf gegen Inflation und hohe Spritpreise zur Priorität erklärt. Die Initiativen seiner Regierung zeigen jedoch nur begrenzt Wirkung. Viele Ursachen der Teuerung kann die Regierung nur begrenzt beeinflussen. Aktuellen Umfragen zufolge müssen Bidens Demokraten befürchten, ihre knappe Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses bei der Wahl im November zu verlieren.
Die Welt war auf gutem Wege, die Geisel der Armut deutlich abzuschwächen. Ein wichtiger Treiber war die Globalisierung, die sich in den vergangenen Jahrzehnten durch die erheblichen Fortschritte in der Logistik sowie bei den Informations- und Kommunikationstechnologien enorm intensivierte. Auch der Freihandel bildete ein zentrales Element. Er erleichterte den internationalen Güteraustausch wesentlich. Der Abbau von Zöllen und anderen Handelshemmnissen erlaubte es den Unternehmen, ihre Produktionsprozesse über die nationalen Grenzen hinaus in weniger entwickelte Länder auszudehnen.
Dadurch stiegen Produktivität und Einkommen in jenen Ländern, die zu einem integralen Bestandteil der globalen Wertschöpfungsketten wurden. Der »World Development Report« der Weltbank von 2020 bestätigte, dass die weniger entwickelten Länder von der Multiplizierung der globalen Produktionsnetzwerke stark profitierten. Seit 1990 sind fast 1,1 Milliarden Menschen der extremen Armut entkommen, vor allem in der VR China konnte diese Entwicklung beobachtet werden.
Allerdings hat sich diese Entwicklung nach 2007 verlangsamt. Neben einer schwächeren globalen Konjunktur behindern seitdem Handelskonflikte und wachsender Protektionismus die weitere Ausbreitung der internationalen Arbeitsteilung und der Globalisierung der Wertschöpfungsketten. Die Blockierung der WTO trug zu der Verlangsamung bei. Hinzu kommt, dass insbesondere die Corona-Pandemie die Fragilität globaler Lieferketten aufgezeigt hat. Und jetzt der Krieg in der Ukraine und der Wirtschaftskrieg mit Russland.
All dies stellt die Wohlstandsgewinne der letzten Jahrzehnte infrage. Es besteht die Gefahr, dass die Armut weltweit wieder massiv zunimmt. Genauso relevant ist, dass Wohlstandsverluste den Umwelt- und Klimaschutz erschweren. Gerade in weniger entwickelten Regionen fehlen dadurch die Mittel, um in ressourcenschonende und emissionsarme Technologien zu investieren. Zudem führt ein konjunktureller Abschwung eher zu sozialen Unruhen als zu umweltbewusstem Verhalten.
Mit dem Wirtschaftskrieg gegen Russland wächst die Gefahr für weitere machtpolitisch motivierte Diskriminierungen und neue Blockbildungen. Die Welt hat sich wirtschaftlich erfreulich schnell von der Pandemie erholt. Doch wenn die amerikanische Notenbank und andere Notenbanken in diesem Jahr beginnen, die Zinsen zu erhöhen, werden das jene Staaten schmerzhaft zu spüren bekommen, die ihre öffentlichen Finanzen schlecht im Griff haben.
Schon jetzt ist die Situation durch die hohe Staatsverschuldung und auch die hohen privaten Schulden sehr belastet. Die Zentralbanken sind auch deswegen gehalten, vorsichtig zu agieren. Aber sie müssen versuchen, die Steuerung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses zurückzugewinnen. Dabei ist die inflationäre Versuchung nicht zu übersehen, die in der Verbindung aufgeblähter Preise von Vermögenswerten und einer mancherorts noch immer kritisch hohen Staatsverschuldung liegt. Der Übergang zu einer Politik der Anpassungsinflation liegt nahe, denn sie verhieße einen politisch bequemen Ausweg aus dem jetzigen Stabilisierungsdilemma, allerdings eben auf Kosten der breiten Bevölkerungskreise, die sich auf ein stabiles Preisniveau angewiesen sind.
Das Dilemma zwischen hohen Kaufkraftverlusten und schwächelnder Konjunktur ist nicht einfach aufzulösen. Die Notenbanken haben jetzt den Versuch eingeleitet, eine kontrollierte Wachstumsentwicklung wieder zu ermöglichen. Gleichwohl werden wir noch geraume Zeit mit erhöhter Inflation leben müssen und auch nach Beendigung des Ukraine-Krieges und des Wirtschaftskrieges wird die Wirtschafts- und Kreditpolitik vor großen Herausforderungen stehen.
[1] Vgl. dazu Martin Braml/Gabriel Felbermayr, Die Logik des Wirtschaftskriegs, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.3. 2022, sowie Joachim Bischoff, Perspektiven des Wirtschaftskriegs gegen Russland, Sozialismus.deAktuell vom 29.3.2022; ders., Russlands Krieg erschüttert die Weltwirtschaft, Sozialismus.deAktuell vom 24.3.2022. Eine ausführliche Bewertung des Wirtschafts-Krieges wird in der gedruckten Mai-Ausgabe von Sozialismus.de erscheinen.