13. Juni 2022 Bernhard Sander: Die erste Runde der Parlamentswahl in Frankreich

Zeitenwende nach links?

Zum ersten Mal in der Geschichte der 5. Französischen Republik muss ein neugewählter Präsident einräumen, dass er bei der Parlamentswahl geschlagen worden ist. Es bleibt aber abzuwarten, ob die Stichwahl am kommenden Sonntag Emmanuel Macron nicht doch noch eine Mehrheit der Mandate verschafft.

Die Präsidentenpartei »ist geschlagen und besiegt«, sagte Jean-Luc Mélenchon vom Linksbündnis NUPES. So hat dieser Wahlgang ein Positives gebracht: Die Linke steht wieder im Zentrum der politischen Kämpfe.

Nach der ersten Runde der Wahlen zur Nationalversammlung sind erst fünf der insgesamt 577 Mandate vergeben. Der Wahlkampf ist gesetzlich auf 14 Tage begrenzt und wird in zwei Runden im Abstand von einer Woche durchgeführt. Pausenlos reiste Mélenchon deswegen schon seit längerem durchs Land, um mit Pressekonferenzen, Besuchen in der Vorstadt u.a. die Aufmerksamkeit auf das Bündnis der Linken zu lenken.

Die Verkürzung der Amtszeit des Präsidenten auf fünf Jahre und die Synchronisierung der Präsidentschafts- mit den Parlamentswahlen haben die Nationalversammlung zu einem Erfüllungsorgan des Präsidenten herabgewürdigt. Die Notstandsgesetzgebung, die laut Verfassung möglich ist und die Macron exzessiv genutzt hat, untergräbt ebenfalls die Reputation des Parlaments. Die Wahlbeteiligung liegt auch deshalb nur bei 47% und damit 1% niedriger als beim letzten Mal.

Um in die Stichwahl zu gelangen, muss man mindestens 15% der abgegebenen Stimmen und mindestens 10% der eingetragenen Wähler*innen auf sich vereinen. Da nützt dann auch eine absolute Mehrheit nichts, wenn die Wahlbeteiligung wie in der »Hochburg« der Linken Seine-Saint-Denis bei 28% liegt. Nur eine nochmalige Personalisierung auf die Spitzenkandidatur Mélenchons als möglichem Ministerpräsidenten konnte mobilisieren.

Mit 26,1% erzielte das neue Linksbündnis NUPES einen hauchdünnen Vorsprung vor den Koalitionären des Präsidenten (»Ensemble«) mit 25,81%.[1] Die politologisch-medialen Sprach-Autoritäten versuchen umgehend, die absolute Mandatsmehrheit für Macron als unausweichlich herbeizuinterpretieren. Die Linke, die seit 2002 am eigenen Grab geschaufelt hat, ist zum neuen Hauptgegner geworden.

Staatspräsident Macron seinerseits hatte versucht, in asymetrischer Mobilisierung den Wahlkampf möglichst lange still zu halten. Ziel war es, das Interesse der französischen Bürger*innen so gering wie möglich zu halten, was nur mäßig gelang. Ersatzthemen stellte die Tagespolitik: Der völlig überzogene Polizeieinsatz gegen Familien beim Champions-Ligue-Finale wurde unter Schuldzuweisungen an die Briten begraben, obwohl er die ortsübliche Brutalität der Einsatzkonzepte in den sozialen Auseinandersetzungen der letzten Jahre schmerzlich in Erinnerung rief.

Die Erschießung einer Autofahrerin in Paris war erneut nicht zu rechtfertigen. Der Überfall Russlands, die Kriegsziele der Ukraine und die Vermittlungsaktivitäten Macrons spielen nur eine nachgeordnete Rolle. 14% der Wähler*innen geben an, dass dies ein für sie entscheidendes Thema sei.

Kaufkraft, Gesundheit und Renten sind die wahlentscheidenden Themen. In einer Umfrage nach dem ersten Wahlgang forderten um die zwei Drittel der Befragten, es müsse mehr Geld ausgeben werden für den Kampf gegen die Klimaerwärmung, die Polizei und die Aufrechterhaltung der Ordnung, das Bildungswesen, die Renten und sogar drei Viertel für die öffentlichen Krankenhäuser.

Beobachter sprachen von der »Chloroformierung« des Wahlkampfes. Die Enthaltung dürfte vor allem bei den Jungen und beim sogenannten einfachen Volk hoch sein. Es wird sich also wiederholen, was man bei der Präsidentschaftswahl gesehen hat: Die älteren und eher gutsituierten Leute werden Macron vielleicht eine Mehrheit bescheren, mit der der Präsident arbeiten kann.

Dennoch führte die Neue ökologische und soziale Volksunion (NUPES) in den meisten Umfragen seit ihrer kurzfristigen Gründung Anfang Mai. Unter den Angehörigen der Dienstleistungsberufe und einfachen Angestellten hat NUPES die größte Zustimmung (über 40%) und auch bei der jüngeren Wählerschaft, doch gerade dort war die Enthaltung in der Präsidentschaftswahl die höchste.

Macrons politische Gruppierung rief in einer ersten Stellungnahme zur Verweigerung der republikanischen Disziplin auf. Im Falle der voraussichtlich 58 Stichwahlen zwischen Rassemblement National (RN) und NUPES sei republikanische Disziplin so zu verstehen, dass es sich bei NUPES im Einzelfall um Extremisten handele. Einige seien vorbestraft wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt. Die amtierende Ministerpräsidentin sprach von »nie dagewesener Vermischung der Extreme«, aber auf gar keinen Fall dürfe es eine Unterstützung für RN geben.

Der Zuspruch für rechtsradikale und nationalistisch-identitäre Listen ging etwas zurück. Marine Le Pen hatte den Präsidentschaftswahlkampf mit 22% respektabel verloren, aber ihre Partei RN fand in ihrem Themenspektrum keinen kampagnefähigen Ansatz. Sie landete bei 18,67%, das sind allerdings deutlich mehr als die 13% bei der Wahl 2017. Die Parteiführerin zeigte sich stolz auf dieses Ergebnis und rief noch am Wahlabend dazu auf, sich bei Duellen zwischen NUPES und Ensemble-Kandidaten nicht zu beteiligen: »Die einen wollen uns den Besitz nehmen und die anderen unsere angestammten Rechte.«

Auch der Reaktionär Éric Zemmour blieb mit 4,25% für seine Liste »Reconquête« unter seinem Ergebnis bei der Präsidentschaftswahl. Er schaffte es auch nicht in die Stichwahl seines Wahlkreises im Departement Var, während in diesem Stammland der Rechtsaußen der Republikaner Éric Ciotti Erfolge erzielen konnte. Die Republikaner kamen allerdings landesweit nur auf 11,31%, was ihren Niedergang bestätigte.

Mélenchon konzentrierte alle Energie darauf, die Gemeinsamkeiten der heterogenen Traditionen und Strömungen herauszustellen und gründete gar ein »Parlament« der NUPES. Alle waren so diszipliniert, das Verhältnis zu Europa und zu Putin nicht zu thematisieren. Man will als »Kraft der Verantwortung vor dem Land und vor der Geschichte« wahrgenommen werden, die in einen dritten Wahlgang »gegen die Politik der permanente Krise und der schuldhaften Inaktivität« durch die Macroniten antritt. Die Wahl von NUPES sei das Werkzeug, um mit der Welt der Technokratie und Oligarchie aufzuräumen.

Der Staatspräsident konterte den neuen Gegner mit einem Vorschlag zur zivilgesellschaftlichen Erneuerung. Der »Nationalrat für die Wiederbegründung«, den Macron in einem Interview mit großen Regionalzeitungen ins Gespräch brachte, soll das Image des Notverordnungen wie Blitze schleudernden »Jupiter« im Elysée-Palast übermalen. Der Rat soll »die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kräfte, die Vereine (zu denen in Frankreich auch die religiösen Organisationen zählen – BS) zusammenbringen sowie Gewählte aus Gebietskörperschaften und zufällig geloste Bürger«.

Dieser Rat werde beauftragt, Wege zu bestimmen, die es erlauben seine Ziele zu erreichen – die industrielle, militärische und Nahrungsmittel-Unabhängigkeit, Vollbeschäftigung, Kohlendioxid-Neutralität – und die öffentlichen Dienste überdenken, damit sie die Chancengleichheit garantieren. Zum Gesundheits- und Bildungswesen veranstaltete er Themenkonferenzen.

Macron beruft sich auf den Nationalrat der Résistance, der noch in der Illegalität die Grundlagen für das Nachkriegsfrankreich legte, dessen Säulen Macron selbst aber nachhaltig erschüttert hat (Rentenreform, Status der Beschäftigten in den öffentlichen Unternehmen, Verstaatlichung der Infrastruktur usw.) »Wir leben in einer vergleichbaren Zeit. Wir sind in einer geschichtlichen Ära, die erfordert, das Modell tiefgreifend zu ändern, und in der erneut Krieg herrscht.« Es bedürfe dazu auch einer Reform der Institutionen.

Der Präsident gestand ein, dass die Leute der Reformen von oben müde seien. Seine bisherigen Ansätze, während der Gelbwesten-Krise einen nationalen Rat mit den Beschwerdebriefen zu befassen, zu deren Formulierung er aufgerufen hatte, scheiterten, weil die dort deutlich werdende Schwerpunktsetzung auf die soziale Spaltung nicht ins Konzept passte. Ebenso wenig wollte Macron die Vorschläge des von ihm eingesetzten Bürgerrates zur Bewältigung der Klimakrise wirklich aufgreifen. Die Verhandlungen über Strukturreformen des Gesundheitswesens (Grenelle de la santé) scheiterten.

Es ist offensichtlich, dass es eine große und wachsende Spaltung zwischen der Gesellschaft und dem politischen System gibt. Die junge Generation, das sogenannte einfache Volk und auch die Leute, die sich Sorgen um die Umwelt oder die Solidarität machen, fühlen sich nicht mehr repräsentiert. Nicht nur durch die Politik, sondern auch durch die Medien. Die Umfragen und Diskussionen drehen sich um Fragen, die in ihren Augen nicht die wichtigen sind.

Auch mit dem neuen Angebot trifft der Präsident nur bedingt auf Entgegenkommen. Im Namen von 64 Selbsthilfe- und Wohlfahrtsorganisationen schrieb der Chef der Stiftung Abbé Pierre zurück: »Man muss von Anfang an einig über die Ziele werden: die Reduktion der Treibhausgase, der Kampf gegen die Armut und die Energie-Prekarität, den Bau von Sozialwohnungen, der in den letzten fünf Jahren fehlgesteuert wurde.« Der Chef der Stadtverordneten-Vereinigung aus den Banlieues fragt nach der Verbindlichkeit von Beschlüssen dieses neuen Gremiums für die Regierung. Andernfalls sei es nur Wahlkampfrhetorik.

Mélenchon rief am Wahlabend das französische Volk dazu auf, »sich Bahn zu brechen«. Am nächsten Sonntag wird es folgende Konstellationen geben: Neben acht Dreiecks-Kandidaturen 278 Ensemble/Nupes, 110 Ensemble/RN, 62 Nupes/RN, 29 Rechts-konservative/RN, 29 Rechtskonservative/Nupes, 22 Rechtskonservative/Ensemble. An den Urnen mag Macron dann vielleicht gewonnen haben – in der Gesellschaft nicht.

Anmerkung

[1] Das Innenministerium sieht NUPES auf dem 2. Platz. Wir verwenden die aktuellen Zahlen von Le Monde: Nupes ou Ensemble ! en tête aux législatives ? Les raisons de la divergence entre « Le Monde » et le ministère de l’intérieur (lemonde.fr).

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