4. Juni 2019 Bernhard Sander: Frankreich nach der EU-Wahl

Zersplitterung der Linken sichert Macrons Macht

Yannick Jadot, Spitzenkandidat der französischen Grünen

Das politische Interesse ist in Frankreich keineswegs erlahmt, die Wahlbeteiligung zum Europaparlament stieg gegenüber der letzten Wahl deutlich auf 51,5%. Davon profitierte die Rechte um Marine Le Pen und die Sammlungsbewegung von Staatspräsident Emmanuel Macron.

Die Befürchtungen, dass sich die (Wahl-)Auseinandersetzung in Zukunft auf die Konstellation Macron vs. Le Pen, also Modernisten vs. Rechtspopulisten zuspitzen wird, sind eingetreten. Macrons Bewegung »La République en Marche« (LREM) blieb bei 22,3% hängen und die Nationale Sammlung (Rassemblement National – RN) konnte 23,4% mobilisieren. Le Pen triumphierte vor allem im Südosten (Marseille, Toulon, Nizza), aber auch in den bei den Regionalwahlen eroberten Hochburgen wie Perpignan.

Als eigentliche Sieger dürfen sich aber die Grünen fühlen (13,4%). In dieses Spektrum gehören mit der Tierschutzpartei (2,2%) und der Bewegung Ökologischer Notstand (1,8%) noch zwei weitere Gruppierungen. Obwohl einige ihrer historischen Führungspersonen zu Macron gewechselt waren (Cohn-Bendit), stellen die Grünen heute für die Mitte der französischen Gesellschaft eine linke Alternative zu Macrons Modernisierungskurs der sozialen Kälte dar.

Ein gegenläufiges Motiv könnte aber auch sein, dass unter den Macroniten die Sorge besteht, dass der Staatspräsident unter dem Eindruck der Gelbwesten-Proteste zu viel von seinen ambitionierten Umweltzielen aufgibt (CO2-Steuer, Atomausstieg, Kohleausstieg in der Energieerzeugung; vgl. zu Macrons Positionierungen meinen letzten Beitrag zur französischen Entwicklung).

Bei keiner anderen Partei als den Grünen ist der Zuspruch in der weiblichen Wählerschaft (17%) so viel größer als in der männlichen (9%). In Macrons LREM und beim RN hat die männliche Wählerschaft einen Vorsprung von je 6%. Dies zeigt, dass den Macroniten ein Problem erwachsen könnte, wenn sie die gewandelten Rollen- und Beziehungsmuster sowie die daraus erwachsenden Ansprüche an staatliche, juristische usw. Gestaltungsspielräume zu wenig in die politische Agenda einbaut.

Die grüne Wählerschaft ist bei den Erstwählern und in den Altersgruppen bis 35 Jahre doppelt so stark vertreten wie im gesamten Votum des Landes. LREM konnte in diesen Jahrgängen nur unterdurchschnittlich punkten, während alle anderen Parteien etwa gleichmäßig in allen Altersgruppen entsprechend ihres nationalen Anteils streuen. Räumlich erhielten die Grünen ihre besten Resultate in den BoBo-Stadtteilen von Paris und den aufstrebenden High-Tech und Dienstleistungszentren Grenoble und Lillle – BoBo steht für »Bohemian Bourgeois«, also die Leistungsträger mit unkonventionellem Lebensstil und traditionellen Werten.

Die Wahlergebnisse in Frankreich bringen die französische Linke näher an den Rand der Existenz. Die Zersplitterung bleibt das Hauptproblem. Von der gestiegenen Wahlbeteiligung konnte vor allem die Sozialdemokratie (PS) profitieren, die mit 6,2% fast gleichauf mit den Unbeugsamen liegt (La France insoumise = 6,3%). Der gescheiterte PS-Präsidentschaftskandidat Benoit Hamon hatte mit seiner neuen Formation »Generation.s« weitere 3,3% gebunden. Er trat nach der Wahl von allen Ämtern zurück, sodass dieser grün-libertäre Neuansatz für die Sozialdemokratie vermutlich zum Erliegen kommt.

Entgegen aller positiven Wahlkampfresonanz kamen die Kommunisten nur auf 2,5%; der PCF wird damit nicht mehr im EU-Parlament vertreten sein, da im französischen EU-Wahlgesetz eine 5%-Hürde gilt. Die Linke muss sich nun endlich dazu verhalten, dass sie unter Einschluss der Grünen mal gerade noch 32% der Stimmen repräsentiert.

Bemerkenswert am Wahlergebnis ist, dass die rechtsbürgerlichen Republikaner nur noch 8,5% verbuchten. Die Rechtswende hat sich nicht bezahlt gemacht, da sich die materiellen Klasseninteressen besser bei Macron aufgehoben sehen. 27% derjenigen, die bei der Präsidentschaftswahl für den Kandidaten der Republikaner, François Fillon, stimmten, wählten diesmal LREM. Der (traditionskatholische) Rechtsnationalismus hat in Europa eher zum scharfen Schwert des RN gegriffen; von den ehemaligen Fillon-Wählern wanderten 18% zur Nationalen Sammlung Le Pens.

Auch die rechtsextreme Debout La France! (Frankreich erwache!) konnte bemerkenswerte 3,5% erzielen und damit den Zugang zur staatlichen Parteienfinanzierung. Die bürgerliche Funktionspartei UDI bildet mit 2,5% ein weiteres Stimmenreservoir, aus dem Macron schöpfen könnte.

Wieder werden verkürzte Analysen über den Rechtspopulismus und RN verbreitet. Unter denen, die als berufliche Stellung Arbeiter angeben, hat RN in der Tat 40% erzielt, soviel wie keine andere politische Formation. Und auch in der untersten Einkommensgruppe erzielt Le Pen mit 30% ein deutlich besseres Resultat als ihren Mitbewerber. Nur Mélenchons La France insoumise (LFI) kann mithalten und hier einen doppelt so hohen Anteil ergattern wie im Landesdurchschnitt. Umgekehrt in der höchsten ausgewiesenen Klasse über 3.000 Euro monatlichem Netto-Haushaltseinkommen haben die Macroniten ein Übergewicht. Aber was heißt das schon?

Betrachtet man die Wahlenthaltung, relativiert sich das Bild stark: Unter den Arbeitern und einfachen Angestellten herrscht nach wie vor politische Apathie, 59% bzw. 55% gingen nicht an die Urnen, verweigerten mithin auch Le Pens Liste ihre Stimme. Das Bildungsniveau macht bei der Enthaltung nicht den Unterschied, sehr wohl aber die wirtschaftliche Lage des Haushalts: Liegt das Nettoeinkommen unter 1.200 Euro/Monat, gehen nur noch 42% zur Wahl, liegt es oberhalb von 3.000 Euro, steigt die Wahllust auf überdurchschnittliche 56%.

Die Macroniten saugen Honig daraus. 60% der Macron-Wähler aus der Präsidentschaftswahl und 57% der Le Pen-Wählerschaft damals ging diesmal zur Europawahl, aber nur 45% der früheren Mélenchon-Wähler. LFI und die gesamte nicht-sozialdemokratische Linke konnte also ihr Potenzial nicht ausschöpfen, obwohl sie in einzelnen Gebieten – etwa dem problemgeschüttelten Seine-Saint-Denis, Lille – ihre besten Ergebnisse erzielten. Aber eine gute Verwurzelung in den Milieus des sozialen Wohnungsbaus, der Selbsthilfegruppen von Arbeitslosen, Jugendbetreuern usw. ersetzt noch keine mitreißende Konzeption zur Gesellschaftsgestaltung.

Die Linke konnte das Protestpotenzial, das sich in den Gelbwesten-Aktionen gezeigt hat, auch in den Wahlen zum Europaparlament nicht ansprechen, während sich 56% derjenigen, die sich den Gelbwesten überhaupt nicht nahe fühlen, zur Wahl gingen. Unter denen, die sich den Gelbwesten (sehr) nahe fühlen, erzielt zwar LFI einen doppelt so hohen Anteil als in der sonstigen Wählerschaft, aber auch Le Pen sammelte hier 38% also klar mehr als ihr landesweiter Stimmanteil. Aber auch die Grünen erzielten mit 11% einen erstaunlich guten Anteil in diesem Kreis.

Republikaner (11%) und LREM (30%) sind in erstaunlichem Ausmaß Parteien der Gutbetuchten und der Rentner. Die Grünen sind überdurchschnittlich bei Führungskräften und Dienstleistungsberufen vertreten, ebenso wie LREM. Bei diesen »intermediären Berufen« und den einfachen Angestellten haben auch die linken Gruppierungen mehr als sonstwo erzielt. Wer die höchsten Bildungs-Abschlüsse hat, wählt überdurchschnittlich die Grünen oder Macrons Partei, unter denen mit Master und mehr erreichen die Grünen 20% und Macron 25%. Einkommensmäßig sind die Grünen allerdings in allen Gruppen gleichmäßig vertreten.

Da die Parteien zu den Europawahlen unterschiedlich stark mobilisierungsfähig sind und das gesamte Spektrum immer noch sehr volatil ist, können aus dem EU-Wahlergebnis nur bedingt Schlüsse für die nächsten anstehenden Wahlen gezogen werden. Die Kommunalwahlen im März nächsten Jahres werden einen neuerlichen Gradmesser abgeben, ob es der Macronie gelingt, sich in der Fläche zu verankern, was das Eindringen in breitere Mittelschichten voraussetzt. Es wird sich zeigen, ob die Linke – in unterschiedlichen Modellen – einen Schulterschluss hinbekommt, mit der sie als dritte Kraft ernstgenommen werden könnte.

Und es wird sich zeigen, dass Le Pens Einfluss in der Fläche nur noch mäßig wächst, wenn die sozialen Themen wie bei den Gelbwesten in den letzten zehn Monaten die Agenda mitbestimmen. Denn RN war besonders schwach in traditionell eher linken Großstädten wie Paris (7,2%), Rennes (7,8%), Nantes (8,4%) oder in den Hochburgen der klassischen Rechten (Bordeaux 9,4%) – alles im übrigen Städte mit zumindest zeitweise starker Mobilisierung zu den Gelbwesten-Kundgebungen.

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