8. März 2021 Joachim Rock: Zum Entwurf des Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung

Zeugnisse einer gespaltenen Gesellschaft

Foto: Paul Lovis Wagner

Seit 2001 veröffentlicht die Bundesregierung, einem Auftrag des Bundestages folgend, in jeder Legislaturperiode einen Armuts- und Reichtumsbericht (ARB). Die Einführung dieser Berichterstattung war eine Zäsur, denn dadurch wurde implizit zugestanden, dass Armut in Deutschland Realität ist.

Mit der Einführung einer staatlichen Armuts- und Reichtumsberichterstattung sollte jedoch auch ein Gegengewicht zu den zivilgesellschaftlichen Armutsberichten, wie sie beispielsweise der Paritätische Wohlfahrtsverband seit 1989 regelmäßig veröffentlichte, geschaffen werden. Die regierungsamtliche Armuts- und Reichtumsberichterstattung hatte daher stets eine doppelte Funktion: die der Analyse sozialer Verhältnisse einerseits, der Apologie des Regierungshandelns andererseits.

Etwaige Konflikte, die sich durch einen Vergleich der Ursprungsentwürfe der ministerialen Fachleute mit der später »bereinigten« und beschlossenen Fassung nachvollziehen lassen, wurden in der Regel zu Lasten der Analyse aufgelöst. Umso wertvoller ist es, dass der Ursprungsentwurf für den neuen, sechsten Armuts- und Reichtumsbericht, der zuerst im Medienbereich kursierte, inzwischen durch den Paritätischen Wohlfahrtsverband öffentlich gemacht wurde.[1]

Etwas Positives vorab: Der neue Bericht leistet einen wesentlichen Beitrag, um einen »Geburtsfehler« der bisherigen Berichterstattung zu überwinden. Von Beginn der Berichterstattung an versprach der Titel »Lebenslagen in Deutschland« zu untersuchen. Eingelöst wurde der Anspruch nicht. Der Bremer Ungleichheitsforscher Olaf Groh-Samberg kritisierte noch 2009 ein offenkundiges Missverhältnis: »Während die Tendenz besteht, die theoretische Definition von Armut immer weiter zu fassen, bleiben die empirischen Messkonzepte immer weiter hinter diesem Anspruch zurück.«[2]

Die besondere neue Qualität der Berichterstattung liegt insbesondere in einer mehrdimensionalen Perspektive, die eine differenzierte Betrachtung von Lebenslagen, auch im zeitlichen Verlauf, ermöglicht.[3] Umgesetzt wurde dieses Vorhaben vor allem durch ein Forschungsteam um Olaf Groh-Samberg selbst. Eine soziale Lage ist durch mehr Faktoren geprägt als ausschließlich dem Einkommen, Aspekte der Wohnverhältnisse, der Beschäftigung und der Bildung spielen ebenfalls eine relevante Rolle.

Diese erweiterte Perspektive ermöglicht eine neue, andere Perspektive auf Armut, die um nichts weniger dramatisch ist, im Gegenteil. Deutlich wird auch hier: Das Einkommen prägt die soziale Lage. Gegen Armut hilft daher Geld. Das zeigt sich auch bei den Folgen der Covid-19-Pandemie, die gerade Menschen mit geringen Einkommen besonders hart treffen. Dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales aktuelle Forschungsergebnisse dazu aufgenommen hat, ist ebenfalls zu begrüßen.

Zu den zentralen Befunden des Berichtsentwurfes zählen die unverändert dramatische Ungleichverteilung der Einkommen und Vermögen: »Die obere Hälfte der Verteilung verfügte über 70% aller Einkommen, die untere Hälfte über 30%« (S. 44; alle Seitenzahlen beziehen sich auf die Nummerierung des Berichtsentwurfes). Die Einkommen steigen insbesondere bei den mittleren und oberen Einkommensgruppen, bei den ärmsten Haushalten dagegen gar nicht oder sie sind sogar rückläufig (S. 48).

Die Vermögen sind sogar noch ungleicher verteilt: »Haushalte in der oberen Hälfte der Verteilung besaßen etwa 97,5%, Personen etwa 99,5% des Gesamtvermögens« (S. 45). Bessere Einblicke in die Vermögensverteilung erlaubt zudem die Erweiterung einer Haushaltsbefragung des DIW, des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), mit der ausgewählte Haushalte mit nennenswerten Unternehmensanteilen genauer befragt wurden. Dadurch können bisherige Mängel bei der Erfassung der höchsten Vermögen korrigiert werden. Im Ergebnis ist die Vermögensverteilung noch ungleicher als bisher gedacht. So verfügen die obersten 10% der Haushalte nicht nur über 59% des gesamten Vermögens, sondern über 64%. Fast 30% des gesamten Vermögens im Land gehören 1% der Haushalte.

Die Pandemie verstärkt die Ungleichheit noch. Diese Befunde können kaum überraschen, haben doch zum Beispiel die Menschen, die zuvor schon in der Grundsicherung waren, bislang auf zusätzliche auf ihre Bedarfe zugeschnittenen Hilfen warten müssen. Die geplante Einmalzahlung von 150 Euro, die auch erst im Mai ausgezahlt wird, geht weit an den Mehrbelastungen der Menschen in der Pandemie vorbei und kann schon gar kein Beitrag dazu sein, die sich verfestigende Ungleichheit zu korrigieren.

Deutlich wird insgesamt, dass auch in der Corona-Pandemie die Einkommensrisiken ungleich verteilt sind: Wer ohnehin ein geringes Einkommen hat, ist stärker von zusätzlichen Einkommensverlusten gefährdet. Auch der ARB fasst zusammen: Die Einkommensrisiken haben zugenommen und diese sind »in den unteren Einkommensbereichen größer« (S. 44). Der Bericht rechnet die Gesamtzahl der von Einkommensrückgängen betroffenen Haushalte für den Stand August 2020 auf 15,5 Mio. hoch (S. 304).

Eine Kernaussage des Berichts ist, dass es zu einer fortschreitenden Polarisierung der sozialen Lagen kommt: »Sowohl die unterste soziale Lage ›Armut‹ als auch die oberste Lage ›Wohlhabenheit‹ sind von Anteilswerten von jeweils 4% auf 11 bzw. 9,1% gestiegen, m.a.W.: Haben die Pole der Verteilung Mitte der 1980er Jahre noch 8% der Bevölkerung umfasst, fanden sich dort im letzten Beobachtungszeitraum 20%.« (S. 130). Die Gesellschaft wird ungleicher, und das stetig.

Gleichzeitig verstärken sich die Verharrungstendenzen: Wer arm ist, kommt kaum – und im zeitlichen Verlauf: seltener als früher – aus Armut heraus: die Mobilität sinkt. Diese Verfestigung von Armut ist in dem Bericht gut dokumentiert, ebenso wie die von Reichtum. Reichtum kommt in dem Bericht als Lebenslage indes nicht vor, stattdessen reaktiviert der Bericht einen Begriff, der bislang vorwiegend Kreuzworträtselliebhaber:innen geläufig gewesen ist: die »Wohlhabenheit«, wie der Gipfel der Lebenslagen nun bezeichnet wird.

»Mit Werten von 70,0% (›Armut‹), 65,0% (›Mitte‹) und 65,5% (›Wohlhabenheit‹) waren jeweils etwa zwei Drittel der Personen auch in der Folgeperiode noch in der gleichen sozialen Lage, die sie in der ersten Periode innehatten. Dass aus der ›Armut‹ heraus nur in geringem Umfang Aufstiege in die ›Untere Mitte‹ oder gar in Lagen darüber hinaus gelangen, zeigt die hohe Brisanz dieser verfestigten Lage.« (S. 133)

Näher betrachtet werden auch Personen, die von 1998 bis 2017 durchgehend an der SOEP-Befragung teilgenommen haben. Auch hier sind die Erkenntnisse dramatisch: »Sozialpolitisch bedeutsam ist, dass sich keine Aufstiegstypen aus ›Armut‹ oder ›Prekarität‹ finden ließen. Dies passt dazu, dass im unteren Bereich der Verteilung eine starke Verfestigung zu beobachten war und Mobilität dort eher durch Abstiege als durch Aufstiege gekennzeichnet war.« (S. 136)

Der Armuts- und Reichtumsbericht dokumentiert auch die Folgen der Agenda-Politik. Mit den Hartz-Reformen wurde die Absicherung des sozialen Risikos Erwerbslosigkeit zu einem erheblichen Teil der Fürsorge übertragen. Inzwischen erhalten nur noch etwa ein Drittel derer, die arbeitslos werden, Leistungen der Arbeitslosenversicherung. Der soziale Schutz der von Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen wurde so erheblich verringert, sie sind in wachsendem Maße von Armut betroffen.

Diese Entwicklung dokumentiert der Bericht, wenn er die Verteilung der Arbeitslosen auf die verschiedenen sozialen Lagen im Zeitverlauf betrachtet: 1995 war ein Drittel der Arbeitslosen noch der sozialen Lage »Mitte« zuzuordnen und lediglich 15% der Armut. Diese Verteilung hat sich bis 2015 dramatisch verschoben: 2015 waren zwei Drittel aller Arbeitslosen der sozialen Lage Armut zuzuordnen und nur noch weniger als 10% der Mitte. (S. 126f.).

Die durchschnittlichen Leistungen der Grundsicherung, von denen hilfebedürftige Menschen ohne ausreichendes Einkommen und Vermögen leben müssen, reichen nicht aus. Der durchschnittliche Hartz IV-Bedarf liegt für eine erwachsene Person bei etwas unter 800 Euro. Über die Leistungshöhe der Grundsicherung schweigt der Bericht. Er stellt auch nicht die zentrale Frage, ob die Leistungen bedarfsdeckend sind. Dabei unterschreiten die Leistungen der Grundsicherung deutlich die im Indikatorenanhang ausgewiesene statistische Armutsrisikoschwelle (mindestens 1.074 Euro nach dem Mikrozensus für 2019, S. 447).

Die Leistungen der Grundsicherung unterschreiten aber auch spürbar das Einkommen, das nach dem Bericht in einer Befragung der Bevölkerung über subjektive Einschätzungen darüber, wann Armut beginnt, als Armutsschwelle angegeben wird. Der Einschätzung der Bevölkerung folgend, sind Menschen mit einem Einkommen von unter 1.000 Euro in der Regel arm (S. 176) und unterliegen nicht nur einem abstrakten Armutsrisiko. Diese Einschätzung bestätigt deshalb auch die Einschätzungen und Forderungen von Sozial- und Wohlfahrtsverbänden, die eine Erhöhung der Grundsicherungsleistungen auf mindestens 600 Euro zzgl. der Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung und für besonderer Bedarfe fordern.

Die Hartz-Reformen haben auch Druck auf die Löhne ausgeübt. Die Statussicherung wurde weitgehend abgeschafft. (Fast) jede Arbeit gilt als zumutbar. Durch die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns im Jahr 2015 sind zumindest Minimalstandards bei der Entlohnung eingeführt worden. Der Mindestlohn hat zu einer positiven Entwicklung der niedrigsten Stundenlöhne beigetragen (S. 216), was sich aber nur begrenzt bei den Monatslöhnen widerspiegelt (S. 235).

Ungeachtet der Einführung des Mindestlohns leben aber immer noch 8-9% der Erwerbstätigen in Armut (»working poor«). Der Mindestlohn ist zu gering und erreicht zu viele Beschäftigte bis heute nur unzureichend. »Eine erhebliche Anzahl von Beschäftigten erhält auch nach Einführung und Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns noch Stundenlöhne unterhalb von 8,50 bzw. 8,84 Euro.« (S. 235)

Wie stark die steigenden Mietpreise gerade einkommensarme Menschen einschränken, indem sie einen großen Teil des Einkommens binden, wird ebenfalls belegt: »Einkommen variieren stärker als (Miet-)Preise. Entsprechend wenden einkommensärmere Haushalte einen höheren Anteil ihres Einkommens für Mietkosten, wie auch für andere Bestandteile des Grundbedarfs auf. Im Jahr 2017 wandte das Fünftel der Bevölkerung mit den niedrigsten Einkommen (erstes Quintil) im Durchschnitt 37,4% seines verfügbaren Einkommens, und damit fast doppelt so viel wie der Durchschnitt, für Wohnkosten auf.« (S. 300)

Die soziale Spaltung der Gesellschaft spiegelt sich auch in unterschiedlicher politischer Beteiligung. Dass die Interessen von einkommensarmen Menschen in der Politik deutlich zu gering berücksichtigt werden, war bereits ein wichtiges Thema des 5. Armuts- und Reichtumsberichts. Auch der Nachfolgeentwurf stellt fest: »Die Wahlbeteiligung ist in allen Bevölkerungsschichten in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland wie in den meisten Industrieländern gesunken. Bei den Wahlberechtigten mit geringem Einkommen war der Rückgang aber überdurchschnittlich stark. Dadurch verstärken sich Risiken des Ausgeschlossen-Seins von politischen und gesellschaftlichen Willensbildungsprozessen.« (S. 395)

Die im Bericht enthaltenen Befunde können nur diejenigen überraschen, die die wiederkehrenden Behauptungen von wachsender Mobilität und überzeichneter Ungleichheit für bare Münze genommen haben. Für diejenigen, die die wachsende Ungleichheit unter Verweis auf empirische Daten schon in den vergangenen Jahren kritisiert haben, bietet der Bericht eine letztlich bittere Bestätigung ihrer Befunde. Das betrifft insbesondere die sozialen Folgen der Agenda-Politik. Eine derart deutliche Verschlechterung der Lebenslage der Arbeitslosen, wie sie der Bericht belegt, geht auch über viele bisher schon bestandene Befürchtungen hinaus.

Im Bundestagswahljahr 2021 zeigt der Bericht, dass es eines grundlegenden Politikwechsels bedarf, will man die über Jahre hinweg gewachsene Polarisierung zwischen Oben und Unten tatsächlich vermindern und überwinden. Das geht nicht über kosmetische Reformen am System der sozialen Leistungen, dies geht nur über eine handfeste Umverteilung, die erhebliche Änderungen im Steuer- und Abgabensystem erfordert.

Dr. Joachim Rock ist Leiter der Abteilung Arbeit, Soziales und Europa im Paritätischen Gesamtverband e.V. Der Beitrag gibt seine persönliche Meinung wieder.

Anmerkungen

[1] Der Berichtsentwurf findet sich im Internetangebot des Paritätischen unter dem Link https://www.der-paritaetische.de/fachinfo/entwurf-des-6-armuts-und-reichtumsberichts-der-bundesregierung/ , Stand. 8.3.2021.
[2] Groh-Samberg, Olaf (2009): Armut, soziale Ausgrenzung und Klassenstruktur. Zur Integration multidimensionaler und längsschnittlicher Perspektiven. Wiesbaden.
[3] Die Vorgehensweise wird in einem 31seitigen Dokument, das die Forscher:innen veröffentlicht haben, ausführlich erläutert. Es findet sich unter dem Link https://www.socium.uni-bremen.de/uploads/Dokumentation_Multidimensionale_Lagen.pdf, Stand: 8.3.2021.

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