6. Juli 2020 Otto König/Richard Detje: Türkei – Angriffskriege und Repression im Schatten von Corona

»Ziviler Putsch«

»Operation Tigerkralle« gegen die PKK (Foto: Turkish Ministry of Defense Press Office)

Nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie rief UN-Generalsekretär António Guterres im März zu einem globalen Waffenstillstand auf. Doch nur wenige Konfliktparteien schenkten ihm Gehör. Zu den Staaten, die völkerrechtswidrige Kriege gegen die Zivilbevölkerung in den Nachbarländern fortsetzen, gehört die Türkei.

Die Operationen »Adlerklaue« und »Tigerkralle« der türkischen Luftwaffe und Boden-Spezialkräfte richten sich angeblich gegen vermutete Guerillastellungen im nord-irakischen Kandil-Gebirge. Doch die Bombardements der türkischen F-16-Kampfflugzeuge treffen die Zivilbevölkerung, vor allem Frauen und Kinder – »Überlebende des IS-Terrors« in jesidischen Dörfern der Sindschar und das kurdische Flüchtlingslager Machmur, in dem rund 12.000 kurdische Flüchtlinge unter dem Schutz des UNHCR leben.

Der türkische Präsident Erdoğan lässt seine bestens gerüstete Armee[1] nicht nur im Nordirak angreifen. Getrieben von seinem neo-osmanischen Größenwahn will er die Türkei als Regionalmacht etablieren.[2] Die Einsätze gehen einher mit einem Umbau der Armee: von einer großen, durch Wehrpflichtige gebildeten Territorial-Armee hin zu einer kleineren, mehr aus Berufssoldaten bestehenden Interventionsarmee.

Der erste Einmarsch in Syrien zwischen Dscharablus und Azaz erfolgte bereits ab August 2016. Dem folgten 2018 der Einmarsch bei Afrin und 2019 der Einmarsch östlich des Euphrats entlang der türkisch-syrischen Grenze, um die kurdische YPG-Miliz von dort zu vertreiben. Im nordsyrischen Idlib wurden die Truppen aufgestockt.

Darüber hinaus dauern die Angriffe der türkischen Armee auf die nordsyrischen Selbstverwaltungsgebiete an – gemeinsam durchgeführt mit den »Schmutzigen Kriegern«, den Kräften der Syrischen Nationalarmee (SNA) und früheren Kämpfern der dschihadistischen Al-Kaida bzw. Al-Nusra und der ebenfalls als Terrororganisation gelisteten Hajat Tahrir al-Scham. Syrien muss sich auf eine langfristige Besetzung seiner nördlichen Territorien durch die Türkei einstellen. Dafür spricht auch, dass die Besatzungsmacht in den besetzten Gebieten erst jüngst die türkische Lira als offizielle Währung eingeführt hat.

Angesichts einer taumelnden Wirtschaft, deren Niedergang durch die Sars-CoV-2 Pandemie beschleunigt wird, und einbrechender Zustimmungswerte setzt der Autokrat Erdoğan mit den Angriffen im Nordirak wieder einmal mehr auf Krieg – und auf weitere Repressionswellen gegen demokratische Kräfte im eigenen Land. Das Vorgehen soll die wirtschaftliche und soziale Krise übertünchen und durch das Anstacheln nationalistischer Gefühle und das Ausspielen der kurdischen Karte die Reihen der islamistisch-reaktionären AKP-Anhänger*innen hinter ihm schließen.

Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) wird die türkische Wirtschaft 2020 um 5% schrumpfen. Investitionen stagnieren, das Haushaltsdefizit wächst, die Devisenreserven schmelzen, die türkische Lira stürzte gegenüber dem US-Dollar auf ein Rekordtief, und der Tourismus, der bislang 12% zum Inlandsprodukt beitragen hat, ist kollabiert. Die Automobilindustrie des Landes, ein wichtiger Exportzweig und Devisenbringer, hat die Produktion heruntergefahren.

Der Gewerkschaftsdachverband DISK befürchtet, dass die Arbeitslosigkeit von 14% auf 20% anwachsen wird. Nach Schätzungen von Ökonomen hat die Arbeitslosigkeit die Zahl von 16 Millionen bereits erreicht. Zwei Drittel der Betroffenen fehlt jegliche soziale Absicherung. Das Land kann voraussichtlich in diesem Jahr seine Schulden nicht mehr vollständig bedienen und ist auf Hilfe von außen angewiesen.

Die Turbulenzen in der Wirtschaft spiegeln sich in Meinungsumfragen wider. In den ersten Wochen der Corona-Pandemie schien Erdoğan im Aufwind zu sein, dann aber gingen seine Werte zurück. Das Corona-Krisenmanagement der Regierung – erst leugnen, dann ignorieren und letztlich blinder Aktionismus – kommt bei der Bevölkerung nicht gut an. Die Zustimmung für die seit bald 18 Jahren regierende islamistisch-nationalistische AKP ist seit der letzten Parlamentswahl im November 2018 mit einem Minus von zehn Prozentpunkten auf ein Rekordtief von 32% und 39% (je nach Umfrage) gesunken.

Aktuell käme die regierende AKP selbst in einer Koalition mit der rechtsradikalen MHP nicht auf die absolute Mehrheit der Stimmen. Das Oppositionslager aus der kemalistischen CHP, der linken HDP sowie der MHP-Abspaltung IYI liegt deutlich vorn, prognostizieren Institute wie MAK, Avrasya oder Area. Regulär stehen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen erst 2023 an. Doch es hält sich das Gerücht, dass Erdoğan zu vorgezogenen Neuwahlen greifen könnte, ehe sich die Situation noch weiter zu seinen Ungunsten verschlechtert.

Erdoğan und seine Anhänger reagieren empfindlich auf jede Äußerung, mit der die Legitimität ihres Machtanspruchs infrage gestellt wird. Als die Istanbuler CHP-Vorsitzende Canan Kaftancioglu erklärte, es werde »in absehbarer Zeit einen Machtwechsel oder gar einen Systemwechsel geben«, gab es einen Aufschrei in der regierungskonformen Presse. Das sei ein Aufruf zum Umsturz, befand die Rundfunkaufsicht und erteilte dem Fernsehsender, in dem sie sich geäußert hatte, ein befristetes Sendeverbot. Die AKP-Regierung nutzte die Aussage, um die Behauptung zu streuen, die Opposition bereite einen neuen Putsch vor.

Der Hausherr des »1000-Zimmer-Palastes« in der Hauptstadt Ankara, der sich das Militär, die Verwaltung und die Justiz unterworfen, das Parlament entmachtet und ein autoritäres Präsidialsystem geschaffen hat, hatte schon in der Vergangenheit, wenn seine Macht bedroht war, in den Angriffsmodus geschaltet. Auch jetzt werden der Ton und das drakonische Vorgehen gegen die politische und zivilgesellschaftliche Opposition, Intellektuelle und Journalisten schärfer. In Ausnutzung der Chancen, die ihm die Alleinherrschaft und nun die Pandemie bietet, zieht er die Zügel des Regimes noch straffer an und verschärft die Repressionen.

In einer Ansprache an die Nation drohte Erdoğan, dass der Geist der Opposition jetzt endgültig ausgerottet werden müsse. So ließ er 51 von 65 gewählten HDP-Bürgermeister*innen kurdischer Kommunen seit den Kommunalwahlen 2019 unter dem Vorwurf der »Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung« absetzen und durch staatliche Zwangsverwalter ersetzen. Über 5.000 Mitglieder und Sympathisant*innen der HDP sind aus politischen Gründen im Gefängnis. Von der CHP regierte Großstadtkommunen wie Istanbul und Ankara wurden die Kompetenzen beschnitten.

An den Toren der überbelegten Haftanstalten ließ der türkische Präsident per Dekret eine stahlharte Selektion betreiben. Rund ein Drittel der etwa 300.000 Gefangenen wurde mit der Begründung, dass die Gefahr eines Corona-Ausbruchs in den Haftanstalten zu groß sei, entweder freigelassen oder ihre Haftstrafen wurden in Hausarrest umgewandelt. Aus der Haft befreit wurden: Mörder, Kriminelle, Mafiabosse – unter ihnen auch Kader der Terrororganisation Islamischer Staat (IS).

Die Amnestie galt jedoch nicht für politische Gefangene wie die ehemaligen HDP-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş, die seit November 2016 inhaftiert sind. Obwohl selbst das türkische Verfassungsgericht die jahrelange Inhaftierung von Demirtaş vor kurzem als rechtswidrig eingestuft hat, sitzt er nach wie vor im Hochsicherheitsgefängnis Edirne in der Westtürkei ein.

Am 3. Juli wurde der Peter Steudtner gemeinsam mit sechs weiteren Aktivist*innen von Amnesty International (AI) freigesprochen. Sie hatten am 5. Juli 2017 an einem AI-Workshop teilgenommen und wurden aufgrund des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation verhaftet.[3] Im Verfahren konnte keiner der Anklagepunkte belegt werden.

Vier weitere Angeklagte wurden hingegen zu Haftstrafen verurteilt. Zu ihnen gehört das AI-Türkei-Gründungsmitglied und Ehrenvorsitzende Taner Kilic, der der Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung bezichtigt wird. Er wurde zu einer Gefängnisstrafe von sechs Jahren und drei Monaten verurteilt, womit er zugleich seine Anwaltslizenz verliert. Zu jeweils 25 Monaten wurden die türkischen Menschenrechtsaktivist*innen Idil Eser, Günal Kursun und Özlem Dalkiran verurteilt – ohne den »Hauch eines Beweises« (Markus Beeko, Generalsekretär AI-Deutschland).

Die Verfolgung geht weiter – bis auf den heutigen Tag. Am 5. Juni gab der stellvertretende Parlamentspräsident Sürreyya Sadi Bilgiç nach Sitzungseröffnung bekannt, er habe die Immunität der HDP-Abgeordneten Leyla Güven und Musa Farisoğulları sowie des CHP-Politikers Enis Berberoglu[4] aufgehoben. Hintergrund sind rechtskräftige Urteile wegen angeblichem Terror, das Totschlagargument in der Türkei, mit dem alle Kritiker*innen mundtot gemacht werden sollen.

Normalerweise hätte das Parlament mit einer Zweidrittelmehrheit einer Aufhebung der Immunität zustimmen müssen, doch in der »neuen Ordnung« Erdoğans genügt dafür eine Anweisung des Staatspräsidenten an den amtierenden Parlamentspräsidenten. Sowohl der Vorsitzende der kemalistischen CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, als auch die beiden HDP-Vorsitzenden Pervin Buldan und Mithat Sancar sprachen von einem »zivilen Putsch« gegen das Parlament.

Auch das neue von AKP und MHP ins Parlament eingebrachte Maßnahmenbündel dient nach Ansicht der Opposition der Knebelung von Kritikern. So sollen Nutzer*innen von sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter zur Registrierung per Personalausweis gezwungen werden. Und eine »Nachtwächtertruppe« aus Zehntausenden AKP-nahen jungen Männern hat Vollmachten als Hilfspolizei erhalten. Eine Kommission von Erdoğans Partei arbeitet zudem an Wahlrechtsänderungen. Diese richten sich insbesondere gegen zwei neu gegründete rechtskonservative Parteien der AKP-Dissidenten Ahmet Davutoglu und Ali Babacan, die der Regierungsallianz entscheidende Prozentpunkte kosten könnten.[5]

Als Reaktion auf den willkürlichen Mandatsentzug für drei Oppositionsabgeordnete und gegen den fortgesetzten Machtmissbrauch durch die AKP-Regierung organisierte die Partei der Völker (HDP) einen fünftägigen »Demokratiemarsch gegen den Putsch« auf Ankara. Ein schwieriges Unterfangen: Ein Großaufgebot der Polizei behinderte schon den Abmarsch in den beiden Auftaktorten im kurdischen Hakkari und Edirne im Westen des Landes. In Istanbul-Silivri löste die Polizei die Kundgebung mit Tränengas und Gummigeschossen auf. Zudem haben die Gouverneure von zehn Provinzen, durch die der Marsch gehen sollte, Versammlungsverbote unter dem Vorwand der Corona-Bekämpfung erlassen.

Dieser Demokratiemarsch sollte am Anfang eines Demokratiebündnisses stehen. Um eine demokratische Entwicklung des Landes nachhaltig zu fördern, ist ein neuer demokratiepolitischer Ansatz notwendig. Durch den autoritär-autokratischen Staats- und Regierungskurs schlittert die Türkei immer tiefer in die Krise.

Die Bekämpfung der Armut und die Schaffung von Frieden und Demokratie sind eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. »Diese Putsch-Mentalität richtet sich nicht nur gegen die kurdische Bevölkerung. Sie betrifft uns alle, da es im Kern um den gesellschaftlichen Frieden geht, der angegriffen wird«, sagte HDP-Co-Vorsitzender Buldan und rief alle gesellschaftlichen Interessengruppen auf, die gemeinsamen Kräfte zu bündeln. Doch keine größere Oppositionspartei solidarisierte sich mit dem Protestmarsch.

Der CHP-Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu, der im Jahr 2017 selbst einen 450 Kilometer langen »Marsch für Gerechtigkeit« von Ankara nach Istanbul angeführt hatte, warnte: Man dürfe sich nicht durch einen »Trick« der Regierung zu Straßenprotesten hinreißen lassen. »Wir müssen uns aller Handlungen enthalten, die zu Spannungen führen können und Provokationen ermöglichen.«

Der in Deutschland im Exil lebende ehemalige Cumhuryet-Chefredakteur Can Dündar schrieb in der Zeit: Nach dem auf ihn abzielenden Umsturzversuch vom 15. Juli 2016 hatte Erdoğan diesen als einen »Segen Gottes« bezeichnet und massive Säuberungen in der Militär- und Zivilverwaltung vorgenommen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn er nach Abschluss der jetzt eingeleiteten politischen Säuberungen dasselbe über Corona sagen würde.

Anmerkungen

[1] Die deutschen Waffenschmieden haben 2019 Kriegswaffen wie Panzer, Kampfflugzeuge, Kriegsschiffe und Maschinengewehre im Gesamtwert von 344 Millionen Euro in die Türkei exportiert – das Vierfache des Zehnjahresdurchschnitts. (dpa)
[2] Nach Libyen wurden Militärberater, Kampfdrohnen und von ihm finanzierte protürkischen Islamisten entsandt.
[3] Steudner und andere wurden am 25 Oktober 2017 aus der Untersuchungshaft entlassen, blieben aber weiterhin unter Anklage.
[4] Der Journalist Berberoglu war 2018 zu fast sechs Jahren Haft wegen Spionage verurteilt worden, weil er der Tageszeitung Cumhuriyet Filmmaterial über illegale Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an dschihadistische Kampfverbände in Syrien zugespielt haben soll. Eine Vollstreckung der Strafe, die durch eine 16monatige Untersuchungshaft schon teilweise abgegolten war, hatte das Gericht mit Blick auf die Wiederwahl Berberoglus ins Parlament ausgesetzt.
[5] Der ehemalige Wirtschaftsminister Ali Babacan gründete die Partei für Demokratie und Fortschritt (DEVA). Der Finanzexperte steht für den, teils liberalen, Reformeifer in den Anfangsjahren der Erdoğan-Ära. Ex-Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, auch er gehörte zum inneren Zirkel Erdogans, fordert die Regierung mit seiner neu gegründeten Zukunftspartei Gelecek heraus. Er stellt für nationalistische AKP-Wähler eine Alternative dar.

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