14. Dezember 2018 Ralf Krämer

Zu Habecks Debattenbeitrag für ein soziales Garantiesystem

Robert Habeck. Foto: Bündnis 90/Die Grünen Nordrhein-Westfalen (CC BY-SA 2.0)

Robert Habeck, Parteivorsitzender der Grünen, schlägt eine Überwindung von Hartz IV und Reform der Grundsicherung vor: Abschaffung der Sanktionen und ihre Ersetzung durch Anreize, Beratung und Qualifizierung, außerdem soll die Aufnahme von Erwerbsarbeit freiwillig sein.

In diesem Sinne sollen die Zahlungen »bedingungslos, aber bedarfsgeprüft« und auf Antrag erfolgen, die neue »Garantiesicherung« wäre also kein BGE. Die Regelsätze sollen erhöht und perspektivisch eine Kindergrundsicherung eingeführt werden, diverse Bedarfe und ggf. regionalisiert auch die Kosten der Unterkunft sollen pauschaliert werden.

Bisher getrennte Leistungen wie Wohngeld und BAföG sollen mit der Garantiesicherung zusammengeführt und alle von einer eigenständigen Behörde ausgezahlt werden, die Leistungsgewährung, Beratung und Qualifizierungsangebote aus einer Hand bietet. Das Schonvermögen soll auf 100.000 Euro plus geförderte Altersvorsorge plus ggf. selbstgenutztes Wohneigentum aufgestockt werden. Die Nichtanrechnung von Einkommen soll auf mindestens 30 Prozent des selbst verdienten Einkommens erhöht werden. Ein höherer Mindestlohn wird angestrebt, ohne eine Zahl zu nennen.

Es wären »für die wichtigsten Schritte sehr grob mit Kosten von 30 Milliarden Euro zu rechnen«, jährlich. Vorschläge zur Gegenfinanzierung werden nicht gemacht. Der Hauptgrund für die hohen Kosten: »In Abhängigkeit von der konkreten Ausgestaltung würden mindestens vier Millionen zusätzliche Haushalte einen Anspruch erhalten, zu denen auch solche gehören, die ein geringes Einkommen haben und formal noch nicht als arm gelten.« Die Zahl der Personen, die staatliche Leistungen zur Existenzsicherung oder Garantiesicherung bekämen, würde sich damit von etwa 8 auf 16 Millionen verdoppeln, von etwa 10 auf 20 Prozent der Bevölkerung. Das kommt vor allem dadurch zustande, dass »alle Empfänger*innen mindestens 30 Prozent des selbst verdienten Einkommens behalten können« sollen.

Folgende Rechenbeispiele verdeutlichen die Wirkungsweise: Ausgangspunkt sei ein Single mit einem Gesamtbedarf (Regelsatz plus Kosten der Unterkunft) von 900 Euro monatlich. (Im Juli 2018 betrug der durchschnittliche Bedarf einer*s Single-BG bundesweit 752 Euro, in Berlin 802 Euro, in München 917 Euro, und der Regelsatz soll ja erhöht werden.) Ausgehend von diesem Bedarf wird die Höhe der Zahlung ermittelt, indem davon anzurechnende Einkommen und Vermögen abgezogen werden. Andererseits wird ein Teil des selbst verdienten Einkommens bzw. Hinzuverdiensts nicht angerechnet. Heute kann ein anspruchsberechtigter Single maximal 300 Euro monatlich vom Hinzuverdienst behalten, dafür ist ein Bruttolohn von 1.200 Euro erforderlich.

Insgesamt hätte unser Beispielsingle dann 900 (Grundsicherungsbedarf) + 300 (anrechnungsfrei aus 1.200 Euro Zuverdienst) = 1.200 Euro zur Verfügung. Beim heutigen Steuertarif sind dafür gut 1.650 Bruttolohn erforderlich. Da Erwerbstätige mit höherem eigenen Verdienst nicht schlechter gestellt werden dürfen als Grundsicherungsempfänger*innen mit geringerem Zuverdienst, hätten alleinlebende Beschäftigte bei diesem Bedarf und ohne weitere Einkommen oder größere Vermögen dann bis zu diesem Bruttolohn Anspruch auf aufstockende Grundsicherung (da ihr verfügbares Einkommen andernfalls niedriger wäre als 1.200 Euro).

Würde bei der von Habeck vorgeschlagenen erhöhten Hinzuverdienstmöglichkeit von 30 Prozent ohne Höchstbetrag die Leistungsempfängerin 2.000 Euro brutto monatlich verdienen, hätte sie dann 900 (durch Grundsicherung gedeckter Bedarf) + 600 (Zuverdienst 30% von 2000) = 1.500 Euro zur Verfügung. Der Nettolohn allein würde nur weniger als 1.400 Euro betragen, sie würde also noch über 100 Euro monatlich aufstocken können. Erst ab etwa 2.500 Euro brutto monatlich wäre der Nettolohn höher als der Leistungsanspruch + Zuverdienst (allerdings würde wegen kleiner Beträge kaum jemand das Antrags- und Prüfungsverfahren auf sich nehmen). Ein Paar mit zwei Kindern und einem Bedarf von 2.200 Euro (= ALG II-Durchschnittsbedarf von Paaren mit Kindern in Berlin heute) hätte bis zu einem gemeinsamen Bruttoeinkommen von etwa 4.800 Euro Aufstockungsanspruch: 2.200 Bedarf + 1.440 Zuverdienst = 3.640 Euro, andererseits 3.255 Nettolohn (bei Kirchensteuer 3.231) + 388 Kindergeld = 3.643 bzw. 3.629 Euro.

Damit würde der Bereich, in dem die Grundsicherung als Kombilohn wirkt, enorm ausgeweitet. Die Arbeitgeber könnten hier darauf verweisen, dass der Staat mit Zuschüssen dafür sorge, dass niedrige Löhne aufgebessert würden. Höhere Bruttolöhne würden sich nur sehr abgeschwächt in höheren verfügbaren Einkommen niederschlagen. Normalerweise würde sich eine Lohnerhöhung um 5 Prozent von 2.000 auf 2.100 Euro brutto monatlich bei einem Single in einer Nettoerhöhung um etwa 55 Euro oder 4 Prozent niederschlagen. Im obigen Aufstockungsfall würde sich das verfügbare Einkommen nur um 30 Euro oder 2 Prozent erhöhen. Das würde die Mobilisierung für Tariferhöhungen erschweren und erhebliche Anreize ausüben, zusätzliche Verdienste »schwarz« zu erzielen.

Wenn unter diesen Bedingungen tatsächlich, wie im Papier als möglicher Vorteil beschrieben, etliche Menschen mit geringem Einkommen den Umfang ihrer Arbeitsarbeit reduzieren würden, um anderen Tätigkeiten nachzugehen, würde sich das Ausmaß der Aufstockerei zusätzlich erhöhen.

Andererseits müsste ein höherer Regelsatz auch von einem höheren Grundfreibetrag bei der Einkommensteuer begleitet werden, das würde die Zahl der zusätzlich Aufstockungsberechtigten wiederum senken. Dadurch würden andererseits erheblich höhere Steuerausfälle hervorgerufen als die zusätzlichen Grundsicherungsleistungen kosten würden, weil davon ja alle Einkommensteuerpflichtigen profitieren würden. Auf jeden Fall müsste diese Reform daher verbunden werden mit einer Reform des Einkommensteuertarifs mindestens im Sinne des DGB-Vorschlags, also einem höheren Eingangssteuersatz und einem höheren Spitzensteuersatz, schon um die Steuerausfälle auszugleichen. Das trifft allerdings in geringerem Umfang für alle – notwendigen – Reformen zu, die den Regelsatz deutlich erhöhen würden. Besonders problematisch und m.E. nicht sinnvoll ist aber die Forderung, die Nichtanrechnung von Einkommen auf mindestens 30 Prozent und ohne Deckelung zu erhöhen.

Kritisch zu betrachten ist auch der Vorschlag einer weitgehenden Pauschalierung von Mehrbedarfen und ggf. auch KdU. Personen mit tatsächlich hohen Kosten würden benachteiligt, Personen mit tatsächlich geringeren Ausgaben unnötig begünstigt, mit entsprechenden fiskalischen Kosten.

Der Vorschlag eines Schonvermögens von 100.000 Euro pro Person, wohl zusätzlich zum Altersvorsorgevermögen und ggf. selbstgenutztem Wohneigentum erscheint als übertrieben großzügig und den meisten Beschäftigten kaum vermittelbar, die mit ihren Steuerzahlungen ja schließlich die Garantiesicherung (mit)finanzieren müssten.

Problematisch erscheint mir auch der Vorschlag, für die Garantiesicherung eine eigenständige Behörde zu schaffen und damit – wie früher bei der Sozialhilfe –, Qualifizierung und Arbeitsvermittlung von der Grundsicherung für Arbeitsuchende organisatorisch zu trennen. Das könnte dazu führen, dass ein größerer Teil der Langzeiterwerbslosen bzw. Grundsicherungsempfänger*innen keine Qualifizierung und Arbeitsvermittlungsangebote mehr in Anspruch nehmen würden. Zudem würde eine solche Umorganisation zunächst viele Fragen der Umsetzung aufwerfen und wäre mit großen Umstellungsschwierigkeiten verbunden.

Politisch erscheint der Vorschlag insgesamt wenig realistisch, v.a. wegen der damit verbundenen Abkehr von der Orientierung auf Beteiligung an der Erwerbsarbeit und damit der möglichsten Vermeidung von Hilfebedürftigkeit, zum anderen wegen der sehr hohen fiskalischen Mehrkosten.

Zumindest wäre ein ergänzendes Konzept zur Gegenfinanzierung und Reform des Einkommensteuertarifs nötig, das bei den GRÜNEN bisher nicht zu sehen ist. Die SPD dürfte größere Einwände haben, CDU/CSU und FDP wären sowieso dagegen (außer FDP für höhere Nichtanrechnung zur Förderung von Niedriglohnbeschäftigung). Eine politische Umsetzung auch in einer abgespeckten Form wäre wenn überhaupt nur in einer SPD-GRÜNE-LINKE-Koalition politisch vorstellbar, die aber gegenwärtig von den GRÜNEN nicht angestrebt wird. Auch in dieser Hinsicht hängt der Vorschlag in der Luft.

Fachpolitisch erheblich differenzierter als Alternative zu Hartz IV ist das neue Diskussionspapier »Soziale Sicherheit statt Hartz IV«, das der Geschäftsführende Bundesvorstand des DGB im Dezember 2018 beschlossen hat.[1] Es setzt auf Verlängerung des Arbeitslosengeld I-Bezuges insbesondere für langjährig Beschäftigte, höhere Regelsätze mit stärkerer Individualisierung, Abschaffung der bestehenden Sanktionen, Wiedereinführung von Zumutbarkeitsregelungen für Arbeitsangebote, Rechtsansprüche auf Qualifizierung und nötigenfalls öffentlich geförderte Beschäftigung. Durch diese und weitere Maßnahmen soll vor allem dafür gesorgt werden, dass möglichst wenige Menschen überhaupt in die Lage kommen, auf Arbeitslosengeld II angewiesen zu sein.

[1] www.dgb.de/themen/++co++68e8aeb0-f93e-11e8-b4a4-52540088cada

Zurück