18. November 2022 Ulrich Bochum/Jeff Butler/Klaus Kohlmeyer/Stephanie Odenwald

Zur Wahlwiederholung in Berlin

Nicht nur bei Twitter herrscht Chaos, sondern auch in Berlin, das allerdings schon länger. Berlin hat offensichtlich Schwierigkeiten bei der Exekution grundlegender demokratischer Prozesse wie Wahlen. Dies ist schädlich für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Demokratie.

Die Wahlen vom 26. September 2021, sowohl die Bundestagswahl als auch die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus und die Bezirkswahlen, müssen wiederholt werden. Das ist ein bisher einmaliger Vorgang in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Der Volksentscheid zur Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen ist nicht betroffen.

Neben der bundesweiten Wahl des Deutschen Bundestages wurden zusätzlich die Parlamentarier des Abgeordnetenhauses sowie die Mitglieder der Bezirksverordnetenversammlung gewählt. Dabei muss man im Auge behalten, dass die Berliner Bezirke der Größe mittlerer Großstädte entsprechen. Darüber hinaus fand ein Volksentscheid zur Erarbeitung eines Gesetzesentwurfs zur Vergesellschaftung der Wohnungsbestände großer Wohnungsunternehmen statt. Nebenher lief der Berlin-Marathon.

Der Wahlprüfungsausschuss des Bundestages hat entschieden, dass die Bundestagswahl in 431 von 2.300 Wahlbezirken wiederholt werden muss. Der Bundestag hat dies anschließend in einer Abstimmung bestätigt.

Auf Landesebene hatte das Berliner Verfassungsgericht[1] nach einer öffentlichen Verhandlung vorläufig mitgeteilt, dass es der Auffassung ist, die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und auf Bezirksebene müssten wiederholt werden. Diese Auffassung hat es am 16. November in einer endgültigen Entscheidung bekräftigt. Die Erläuterung der Vorsitzenden Richterin »glich einer Abrechnung mit der Berliner Verwaltung und der allgegenwärtigen Wird-schon-schief-gehen Stimmung. Die bekannten Wahlfehler seien nur die ›Spitze des Eisbergs‹ gewesen, die Wahl habe ›wegen mangelnder Vorbereitung überhaupt nicht gelingen können‹, so die Richterin. Das Gericht hält eine Beeinflussung der Zusammensetzung des Parlaments durch die Wahlfehler für möglich (Mandatsrelevanz). Berlin bleiben jetzt 90 Tage Zeit, um die Wahl zu wiederholen. Es kommen dieselben Wahllisten zum Einsatz.« (Der Tagesspiegel vom 15.11.2022)

Der Bericht einer vom Berliner Senat eingesetzten Expertenkommission »Wahlen in Berlin« hielt fest, dass es  zu einer ungewöhnlichen Häufung von Unzulänglichkeiten und Beeinträchtigungen in bisher unbekanntem Ausmaß gekommen sei: »Wahlunterlagen waren vor dem Wahlsonntag auf dem Postweg verloren gegangen oder wurden erst verspätet zugestellt; Wahllokale waren falsch ausgeschildert; vor den Wahllokalen bildeten sich zum Teil lange Schlangen, Wartezeiten von ein, anderthalb und in der Spitze bis zu zwei Stunden konnten die Folge sein; in Wahllokalen wurden gelegentlich falsche Stimmzettel zugeteilt; Stimmzettel gingen während des Wahltages aus und mussten herbeigeschafft werden, was zu weiteren Verzögerungen führte; Wählerinnen und Wähler wurden vereinzelt ohne gewählt zu haben nachhause geschickt; nur für die Bezirksverordnetenversammlungswahlen wahlberechtigte hier ansässige nichtdeutsche Unionsbürgerinnen und Unionsbürger und 16- und 17-Jährige nahmen vereinzelt auch an den für sie nicht zugelassenen Wahlen oder an dem Volksentscheid teil. Man könne daher nicht von bloßen Randphänomenen des Wahlgeschehens sprechen.«[2]

Gegen die Durchführung gemeinsamer Wahlprozesse an einem Termin ist im Grundsatz nichts einzuwenden, allerdings erfordert dies ein schlüssiges Durchführungs- und Regelungskonzept. Dabei ist es erforderlich, dass die Abstimmungsprozesse zwischen Landes- und Bezirksebene in Berlin koordiniert ablaufen. Die Bezirkswahlämter sind für die nötige Infrastruktur verantwortlich, die Senatsverwaltung für Inneres übt die Rechtsaufsicht aus. Bei ihr ist auch die Geschäftsstelle der Landeswahlleitung angesiedelt. Die Gesamtverantwortung für die Durchführung der Wahlen trägt im Land die Landeswahlleitung, auf der Bezirksebene sind es die Bezirkswahlleitungen. Die Landeswahlleitung hat gegenüber der Geschäftsstelle kein Weisungsrecht, einheitliche Standards in der Umsetzung sind in diesem Kooperationsprozess nicht niedergelegt und werden nicht nachgehalten. Die Landeswahlleitung hat ebenfalls kein Weisungsrecht gegenüber den Bezirkswahlleitungen.

Die Durchführung der Wahlen löst auf der Bezirksebene erhebliche personelle und räumliche Zusatzbedarfe aus, die die Bezirke nur unzureichend gewährleisten können, personelle Ressourcen müssen aus anderen Bereichen abgezogen werden, wo sowieso schon Personalmangel herrscht. Von Personal-Engpässen ist daher auch bei der Neuwahl auszugehen. Eine Mehrfachwahl führt zudem zu besonderen logistischen Herausforderungen, die im vorliegenden Fall mit den herkömmlichen »Bordmitteln« nicht bewältigt werden konnten. Weder bei der Stimmzettelproduktion und -verteilung noch bei der Planung der Ausstattung der Wahllokale wurde den Erfordernissen Rechnung getragen.

Kurzum die im Bericht der Expertenkommission festgestellten Defizite bei der Durchführung der Wahlen waren bereits so gravierend, dass es unverständlich erscheint, wie nonchalant der Berliner Senat mit der Auffassung, es sei im Großen und Ganzen eine nicht zu beanstandende Wahl gewesen, darüber hinweg gehen wollte.

Unmittelbar nach dem Urteil des Berliner Verfassungsgerichts begann das »Blame Game«. Die Senatsverwaltung für Inneres und ihr damaliger Chef Andreas Geisel (SPD), jetzt Wohnungsbausenator, stehen dabei besonders in der Kritik. Es spricht jedenfalls nicht viel für den Zusammenhalt der rot-grün-roten Koalition, wenn die LINKEN-Vorsitzende nun verkündet, »dass sei das Problem der SPD und die SPD muss das klären«, als habe man mit allem nichts zu tun. Die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey wies darauf hin, dass sie zum Zeitpunkt der Wahlen noch nicht im Amt gewesen sei. Für die rechte Opposition ist die Wahlwiederholung eine Quittung für jahrelanges schlechtes Regieren.


Die Koalition steht auf der Kippe

Mit der Neuwahl steht die bisherige politische Bilanz der Linkskoalition zur Debatte. Dabei sieht es in den drängenden Fragen Wohnen und Bildung, allgemeine Dienstleistungen für die Bürger, Flüchtlingsproblematik nicht gut aus. Insgesamt bietet die rot-grün-rote Koalition kein gutes Bild nach außen, von einer gemeinsam getragenen Stadtpolitik kann keine Rede sein – stattdessen Profilierung auf Kosten des jeweils anderen Partners.

Im Bereich Wohnen tobt innerhalb der Koalition ein Kleinkrieg zwischen der SPD und der LINKEN über die Umsetzung des Volksentscheids zur Vergesellschaftung der großen Wohnungsbauunternehmen. Die eingesetzte Kommission tagt wenig transparent und weigert sich, die Initiatoren des Volksentscheids zu beteiligen, was wiederrum DIE LINKE unterstützt. Derweil steigen die Mieten weiterhin und der Wohnungsneubau, der als Allheilmittel gegen die Wohnungsnot bezeichnet wurde, ist zum Erliegen gekommen. Juristische Entscheidungen gegen das bezirkliche Vorkaufsrecht von Gebäuden und Grundstücken erschweren jeden Fortschritt im Sinne der Schaffung bezahlbaren Wohnraums. Der Widerstand, der linken Konzepten in diesem Sektor entgegenschlägt, ist von der Linkspartei völlig unterschätzt worden.

Bei den Schulen ist die noch von der alten Koalition aufgesetzte Schulbauoffensive ins Schlingern geraten. Es stellt sich nun heraus, dass nicht genügend Mittel vorhanden sind, und dringend benötigte Sanierungen nicht durchgeführt werden können sowie ganze Schulen geschlossen werden müssen. Wichtige berlinweite Projekte wie z.B. der Neubau der Zentral- und Landesbibliothek kommen nicht voran, weil es an der Abstimmung zwischen Senatsverwaltungen und Bezirken mangelt.

Auf dem Berliner Ausbildungsmarkt herrscht eine Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage. Viele junge Menschen bleiben ohne Perspektive. Viele Berliner Unternehmen bilden zu wenig aus und beklagen gleichzeitig den Fachkräftemangel. Die Unternehmen schieben die Verantwortung auf die Schulen ab und kritisieren Schulqualität und mangelnde Berufsorientierung. Die Arbeitslosenstatistik zeigt einen starken Anstieg bei der Altersgruppe zwischen 15 und 20 Jahren. Die Arbeitslosenquote stieg in diesem Segment im Oktober auf 12,9%.

Obwohl sich die linke Sozialsenatorin Katja Kipping alle Mühe gibt, die Flüchtlingsproblematik menschenwürdig anzugehen, ächzt Berlin unter steigenden Flüchtlingszahlen. So musste jetzt, wie im Jahr 2015, der Flughafen Tempelhof wieder zur Unterbringung von Flüchtlingen hergerichtet werden. Aufgrund von Überlastung des Personals wurde das Sozialamt Neukölln für den Publikumsverkehr geschlossen.

Seit sechs Jahren sind die Grünen für das Verkehrsressort verantwortlich und wollen den Autoverkehr begrenzen oder ganz aus der Innenstadt verdrängen. Innerhalb der Koalition ist auch das umstritten, die Grünen stehen mit dieser Politik ziemlich allein und werden von der SPD angegriffen: Berlin sei schließlich nicht Bullerbü meinte Frau Giffey. Das Modellprojekt autofreie Friedrichstraße steht jedenfalls unter Beschuss.

Immerhin hat der Senat zur Beruhigung der Volksmassen noch einen Nachtragshaushalt in Höhe von 3 Mrd. € verabschiedet, der Abmilderungen der gestiegenen Lebenshaltungskosten ermöglicht. Dazu gehört auch die Einführung eines 29 € Tickets für den ÖPNV. Die Wahlwiederholung kostet 39 Mio. €.

Trotz dieser Maßnahmen ist davon auszugehen, dass bei der Wahlwiederholung sowohl SPD als auch Linke Stimmen verlieren werden, die Grünen werden hinzugewinnen, die CDU und die ADF werden von der allgemeinen Verdruss-Stimmung profitieren.

Das politische Personal befindet sich ab sofort im Wahlkampf, so dass eine politische Lähmung eintreten könnte, die sich für die weitere Entwicklung der Stadt negativ auswirken wird. Auf den angesprochenen wichtigen Politikfeldern wird kein Fortschritt erzielt werden können. Es wird jetzt wieder das Bild eines funktionierenden Berlins gemalt und zugegeben, dass die Stadt in Teilen dysfunktional ist, dies betrifft vor allem die Abstimmung zwischen dem Senat und den Bezirken. Man darf hoffen, dass sich daran etwas ändert, aber Optimismus ist bei den handelnden Akteuren nicht angebracht.

Ulrich Bochum, Jeff Butler, Klaus Kohlmeyer und Stephanie Odenwald arbeiten mit in der Sozialistischen Studiengruppe (SOST).

Anmerkungen

[1] Das Berliner Verfassungsgericht besteht aus neun Richterinnen und Richtern, die vom Berliner Parlament mit Zwei-Drittel-Mehrheit für eine Amtszeit von sieben Jahren gewählt werden. Sie sollen den Parteien-Proporz im Parlament widerspiegeln. In der Regel tagt das Gericht einmal pro Monat. Im Zusammenhang mit der Wahlüberprüfung hat es 26-mal getagt. Das Gericht hat vier wissenschaftliche Mitarbeiter, davon waren zwei mit der Wahlüberprüfung beschäftigt. Beim Bundesverfassungsgericht hat jeder einzelne Richter vier wissenschaftliche Mitarbeiter. Auch hier gibt es in Berlin eine unzulängliche personelle Ausstattung.
[2] Abschlussbericht der Expertenkommission Wahlen in Berlin vom 6 Juli 2022, S.10

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