30. November 2019 Alban Werner: Die CDU nach ihrem Leipziger Parteitag

Zwischen Platzerhalt und Suchbewegung

Der historische Vergleich drängte sich unweigerlich auf: 16 Jahre nach dem legendären Leipziger Parteitag, bei dem die CDU unter Führung Angela Merkels sich ein radikal neoliberales Programm gegeben hatte, tagte die Christdemokratische Union wieder in der sächsischen Großstadt. Nicht nur der Ort, die handelnden Personen drängten zum Vergleich zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Angela Merkel, damals schon drei Jahre Parteivorsitzende, aber noch nicht Kanzlerin, nutzte die Gunst der Stunde einer sich selbst durch Agenda 2010 irreparabel zugrunde richtenden SPD und einer neoliberalen Offensive von veröffentlichter Meinung, Unternehmensverbänden und ihnen nahestehenden Stiftungen, um das mithin weitestgehende neoliberale Umbau-Programm in der Geschichte der Bundesrepublik von ihrer Partei absegnen zu lassen. Friedrich Merz, der hierzu das berühmte »Bierdeckel«-Steuerkonzept beisteuerte, frohlockte öffentlich über den »Anfang vom Ende der Sozialdemokratisierung der Union«. Nichts schien der CDU den Sieg bei der nächsten Bundestagswahl noch nehmen zu können. Bekanntermaßen kam es anders.

Wenn Leipzig 2003 für einen neoliberalen Aufbruch stand, bei dem – abgesehen vom heroischen Einzelkämpfer Norbert Blüm, der vergeblich die Verabschiedung des Konzeptes bekämpfte – nur hinter vorgehaltener Hand Bedenken geäußert wurden, so bedeutete Leipzig 2019 für die CDU einen Parteitag der Ernüchterung. Angesichts der Lage, in die sich die Partei teils selbst manövriert hat, teils von ungeplanten gesellschaftspolitischen Wandlungen befördert worden ist, stand eher Selbstvergewisserung auf der Tagesordnung.

Im Verhältnis zu den Bündnisgrünen, denen auf ihrem Parteitag ein Wochenende zuvor angesichts fulminanter Eintrittswellen und überragender Umfragewerte schon die Frage nach einer Kanzler*innenkandidatur aufgedrängt wurde, verläuft die Gemütsentwicklung der Christdemokratie geradezu umgekehrt. In vielen als »bürgerlich« beschriebenen Quartieren ist es nun nicht mehr die CDU, die den sprichwörtlichen Besen zu einer Wahl aufstellen könnte, der trotzdem gewählt wird, solange er nur ihr Parteiemblem trägt, sondern die Bündnisgrünen erscheinen als die Partei, deren Themen derzeit dominieren, und die selbst in Unkenntnis ihrer konkreten Inhalte aus einem »Lebensgefühl« heraus gewählt werden.

Im Vorfeld des Parteitages war die Führung der Partei durch Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK) mal mehr, mal weniger offen Gegenstand von Angriffen. Vor allem Friedrich Merz, AKKs Rivale um den CDU-Vorsitz im vergangenen Jahr, der Sprecher der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT) Carsten Linnemann sowie Tilman Kuban, Vorsitzender der Jungen Union hatten sich hervorgetan. Bisweilen war die Kritik in die Initiative gekleidet worden, die CDU solle via Mitgliederentscheid über die Kanzlerkandidatur entscheiden.

Da in der Partei der oder die Vorsitzende traditionell das erste »Zugriffsrecht« auf die Kandidatur hat, konnte dieser Vorstoß aber nicht anders denn als Angriff auf den Führungsanspruch von AKK verstanden werden. Wie Kramp-Karrenbauer den Angriff parierte, ist nun doppelt aufschlussreich. Am Ende ihrer Eingangsrede holte sie die Machtfrage ins offene, indem sie aufforderte, wer den von ihr skizzierten Weg der Partei nicht mitgehen wolle, solle sich bekennen, »dann lasst es uns heute aussprechen. Dann lasst es uns heute auch beenden. Hier und jetzt und heute«.

Die folgenden stehenden Beifallsbekundungen waren (zusammen mit den späteren Beschlüssen des Parteitages) deutlich genug, um die Kritik an der Vorsitzenden zunächst verstummen zu lassen und die Kritiker zu Loyalitätsadressen zu verpflichten. Allerdings waren Beifall und Debatten nach allgemeiner Beobachtung nicht euphorisch genug, um das Gefühl verfliegen zu lassen, dass Annegret Kramp-Karrenbauer und ihr Kurs bei Licht betrachtet nicht der christdemokratischen Weisheit letzter Schluss, sondern letztlich eine Verlegenheitslösung in Ermangelung überzeugenderer Alternativen sind.

Aufschlussreich waren diese Szenen auch wiederum im Vergleich zur Merkel-Ära: Wo es dem »Anden-Pakt« aus damaligen (allesamt männlichen) CDU-Führungsfiguren Anfang der 2000er noch gelang, mit abgestimmter Hinterzimmer-Politik und gezielten Indiskretionen die eigene Parteivorsitzende zugunsten des Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber in die Schranken zu weisen, zerfiel die geäußerte Unzufriedenheit mit AKK in Windeseile. Das liegt nicht nur daran, dass die Männer-Netzwerke früher noch funktionierten, sondern hatte auch darin seinen Grund, dass Stoiber für die damaligen Akteure eine Konsensfigur gegenüber Merkel war.

Eine solche Konsensfigur gibt es allerdings in der heutigen Union nicht, wie bereits das achtbare Ergebnis für Jens Spahn im Rennen um den CDU-Vorsitz zeigte. Hinter der vordergründigen Einigkeit demonstrierte der diesjährige Leipziger Parteitag der Union, dass die viel beachteten Leitfiguren zugleich die Dilemmata der Partei in der aktuellen Konjunktur repräsentieren:

  • Annegret Kramp-Karrenbauer steht für eine CDU als gesamtgesellschaftlicher Stabilitätsgarant, der eng verbunden ist mit dem Autoritätsglauben der CDU nach innen. Diesen Glauben hat AKK noch einmal erfolgreich beschwören können, doch wurde zugleich dadurch deutlich, welche Lücke in der Partei klafft, die sie bisher nicht hat schließen können.
  • Friedrich Merz spricht diese Lücke an: das Bedürfnis in der Union, überhaupt politische Ecken und Kanten zu haben, und diese – gestützt auf eine gehörige Portion maskulinen Charismas – auch erkennbar politisch vertreten zu sehen. Merz ist Projektionsfläche für die lange verdrängte Sehnsucht der Union, politisch für mehr als nur das Residuum des schwarz-roten Koalitionsvertrages zu stehen, das nicht von der SPD bestimmt wurde.

Dass Merz ein Jahr nach seinem Scheitern (und seiner damaligen Weigerung, der CDU in anderer Funktion zur Verfügung zu stehen) dennoch weiterhin so viel Prominenz genießt, geht auf ein drittes, wichtiges Bedürfnis zurück, nämlich das Selbstverständnis der CDU, die »Kanzlermaschine« (Volker Resing) zu sein, d.h. ihren Anspruch, mit einer gewissen Selbstverständlichkeit die politische Führungsrolle im Lande für sich zu beanspruchen. Letzteres ist mehr als jede denkbare Liste inhaltlicher Pflöcke die »historische Mission«, die die Partei für sich reklamiert.

Doch gerade auf der Folie dieses christdemokratischen Ur-Bedürfnisses ist der von Merz mitangeführte, nun vorerst beendete Aufstand ein Zeichen der Hilf- und Ratlosigkeit der Union. Mit wem sollte denn ein Kanzlerkandidat Friedrich Merz sein altbekanntes Programm der Deregulierung, Privatisierung und erzkonservativen Gesellschaftspolitik auch nur ansatzweise durchsetzen können? Kaum vorstellbar ist, dass er den kränkenden Schritt mitginge, als gescheiterter Spitzenkandidat unter einem Bundeskanzler Robert Habeck nur die Politik von Olaf Scholz im Finanzministerium fortzusetzen.

Für die bekennend konservativen Kreise der Union bedeutet das die ultimative Demütigung oder »Selbstverzwergung«. Als nur wenig überzeugender dürfte sich erweisen, auf einen Kandidaten Markus Söder auszuweichen, denn seine auf dem Parteitag zur Schau gestellte Fähigkeit, den Saal zu begeistern, wird sich schwerlich auf die allgemeine (Wähler-) Öffentlichkeit übertragen lassen.

Wahrscheinlich wird die sich CDU weiterhin zwischen Selbstvergewisserung nach innen und Selbstbehauptung nach außen über das kommende Jahr »hindurchwursteln«. Dabei wird ihr zu Hilfe kommen, dass nur wenige Wahlen anstehen. »Klare Verhältnisse« wird die Union allerdings nur um den Preis offener ausgetragener Auseinandersetzungen erreichen, die absehbar nicht ohne Verluste an Mitgliedern, Mandaten und Image-Veränderung in der Öffentlichkeit zu haben sein werden.

Zu diesen Auseinandersetzungen drängen mindestens die folgenden Themen:

»Sozialdemokratisierung« der Politik vergangener Jahre (treffender wäre: Sozialliberalisierung): Bereits beim Leipziger Parteitag wurde deutlich, dass die Union sich davon nicht distanzieren kann, ohne ihre eigene Regierungsbilanz als nicht verteidigungswürdig zu verwerfen. Mit der liberaleren, offeneren Gesellschaft als neuer Selbstverständlichkeit wird die Union zu leben lernen müssen.

Kontamination des Rechtskonservatismus: Trotz ihrer mehrfachen Häutungen rekrutiert bzw. erreicht die AfD weiterhin noch erschreckend viele Aktivist*innen und Wähler*innen, die sich einem demokratischen Rechtskonservatismus zurechnen. Deren Einlassen mit den offen völkischen und menschenfeindlichen Kräften dieser Partei, macht es aber der Union schwer, einen »unbefleckten« Nationalkonservatismus, der immerhin neben christlicher Soziallehre und Ordoliberalismus zu ihren Gründungsströmungen gehört, treffsicher und verdachtsfrei abzugrenzen.

Die Klimaschutzpolitik bedroht mit dem auf Individualverkehr geeichten Verkehrssystem (AKK sang auf dem Parteitag ein Loblied auf Verbrennungsmoto und Autofahren) sowie materiellem Konsum als Leistungs- und Wohlstandsanzeiger wichtige Bastionen der CDU.

Das Problem überhöhter Mieten bedroht den Status der CDU selbst als mittelgroßer Partei in Metropolen und Wachstumsregionen, sollte über Berlin hinaus der Ruf nach »Mietendeckeln« und weiteren wohnungspolitischen Interventionen lauter werden.

Das konsum- und demografiegetriebene Knappheitsverhältnis auf dem Arbeitsmarkt begünstigt die Gewerkschaften in den kommenden Tarifrunden. Jegliche weitere Deregulierung des Arbeitsmarktes ist auf absehbare Zeit aussichtslos, im Gegenteil dürfte eher der Ruf nach weiteren Re-Regulierungen, ggf. auch nach Verbesserungen des Rentenniveaus lauter werden.

Schließlich ist inzwischen sogar der »stille«, aber nicht weniger wirkungsvolle Neoliberalismus auf dem Rückzug, der in Handelsabkommen und vor allem in Schuldenbremse und »schwarzer Null« seinen Ausdruck findet. Dafür steht nicht zuletzt die gemeinsame Initiative von DGB und BDI für eine »ambitionierte Investitionsoffensive der öffentlichen Hand«. Im Angesicht dieser gerechtfertigten Begehrlichkeiten sind Steuersenkungen nicht durchsetzbar.

Auf diese und andere Fragen kann die CDU bislang keine Antworten vorweisen, mit der sie ihre frühere Mehrheitsfähigkeit auch nur ansatzweise zurückerhalten könnte. Für sie endet bald nicht nur die Ära Merkel, sondern auch die Zeit, in der sie solche Antworten schuldig bleiben und trotzdem ihren Platz als erfolgreichste Partei verteidigen konnte.

Alban Werner ist Mitarbeiter der Sozialistischen Studiengruppen, lebt in Aachen.

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