2. Juni 2022 Joachim Bischoff: Zur Situation der US-Wirtschaft und anderer Ökonomien

Zwischen sanfter Landung und »Hurrikan«

Der US-Notenbank Fed zufolge hat sich die Wirtschaft in den USA im Mai nicht weiter talwärts bewegt. Die US-Wirtschaft war im ersten Quartal aufs Jahr hochgerechnet um 1,5% geschrumpft. Wie das Fed-Direktoriumsmitglied Christopher Waller jüngst sagte, dürfte sich eine solche Talfahrt im zweiten Quartal jedoch nicht fortsetzen.

Konsequenz: Deutsche Exporteure können auf dem US-Markt nur noch von verhaltenen Absatzaussichten ausgehen. Positiv für das Wirtschaftswachstum sind die Nachfrageüberhänge aus dem Vorjahr, der sich belebende Industrieanlagenbau sowie das Infrastrukturpaket der US-Regierung mit einem Finanzierungsumfang von 1,2 Bio. US-Dollar. Allerdings: Der für die Umwelt- und Sozialpolitik eminent wichtige und 1,75 Bio. US-Dollar schwere Gesetzesvorschlag mit der Bezeichnung »Build Back Better« steckt seit November 2021 im Senat fest. Die Abgeordneten befinden sich im Wahlkampfmodus für die Midterm Elections im November 2022. Regionale Themen liegen ihnen dabei eher am Herzen als Probleme auf der Bundesebene.

Die Notenbank hat angesichts einer Inflationsrate von zuletzt 8,3% Anfang Mai den größten Zinsschritt seit 22 Jahren unternommen und den Leitzins um einen halben Punkt auf die neue Spanne von 0,75 bis 1,0% angehoben.

Steigende Preise und höhere Zinsen machen sich allerdings bereits bemerkbar, teilte die US-Notenbank in ihrem Konjunkturbericht »Beige Book« mit. In dem Bericht, der auf Wirtschaftskontakten aus den Regionen fußt, wies die Fed zudem darauf hin, dass das Wachstum in der Produktion trotz Unterbrechungen bei den Lieferketten angedauert habe.

Industrie und Dienstleister signalisieren angesichts des erhöhten Inflationsdrucks, einer weiteren Verschlechterung der Lieferzeiten und einer schwächeren Nachfrage einen geringeren Anstieg der Produktion. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine, die hohe Inflation und Ausfälle wegen Corona hätten die Pläne der Unternehmen beeinträchtigt. In den meisten Bezirken seien die Wachstumserwartungen deshalb getrübt. In einigen Regionen wurden sogar Sorgen vor einer Rezession geäußert.

Angesichts der hohen Inflation in den USA hat US-Finanzministerin Janet Yellen Fehler in ihren früheren Einschätzungen eingeräumt. Sie habe die Erschütterungen der Wirtschaft durch Faktoren wie die hohen Energiepreise und die internationalen Lieferketten-Probleme unterschätzt. US-Präsident Joe Biden betonte bei einem Treffen mit Yellen und dem Notenbankchef der Federal Reserve (Fed), Jerome Powell, der Kampf gegen die Inflation sei seine Top-Priorität. Er sicherte zugleich zu, er werde die Unabhängigkeit der Fed weiterhin respektieren. Powell konzentriere sich ebenso auf die Bekämpfung der Inflation wie er selbst. Die Zentralbank stemmt sich bereits mit einer strafferen Geldpolitik gegen die hohe Geldentwertung.

Die Notenbank hat angesichts einer Inflationsrate von zuletzt 8,3% Anfang Mai den größten Zinsschritt seit 22 Jahren unternommen und den Leitzins um einen halben Punkt auf die neue Spanne von 0,75 bis 1,0% angehoben. Fed-Präsident Powell hat für die Sitzungen im Juni und Juli jeweils weitere Erhöhungen im selben Umfang signalisiert. Er will dabei im Kampf gegen die ausufernde Inflation auch in Kauf nehmen, dass das Wachstum durch die geldpolitischen Straffungsschritte gedämpft wird. Er zeigte sich zugleich zuversichtlich, dass die Fed dabei »eine Art sanfte Landung« der Wirtschaft erreichen wird.

Auch die Europäische Zentralbank (EZB) wird im Juli die Leitzinsen erhöhen. Offen ist nur noch, um wie viel. Damit schwenkt nach dem US Federal Reserve auch die Zentralbank des zweitgrößten Währungsraums auf den Straffungskurs ein. Dass es länger gedauert hat als in Übersee, hängt nicht mit der Gefahr einer hohen Inflation zusammen – die ist in beiden Währungsräumen weit über das Ziel hinausgeschossen –, sondern mit dem Gang der Wirtschaft.

Im Euroraum hat die Wirtschaftsleistung gerade erst das Niveau von vor der Corona-Pandemie erreicht. Im ersten Quartal lag das reale Bruttoinlandprodukt (BIP) erstmals wieder minimal über dem Stand des Schlussquartals 2019. Die Wirtschaft läuft also noch lange nicht auf Hochtouren, wie man es in inflationären Zeiten erwarten würde. Sie ist sogar noch unterausgelastet.

Das zeigen die Berechnungen der sogenannten Produktionslücke (Output Gap). Sie gibt an, um wie viel das BIP von seinem langfristigen Potenzial abweicht, jenem Zustand also, an dem die Kapazitäten voll ausgelastet sind. Ende 2021 bestand eine Output-Lücke von 2%. In Japan ist die Situation noch schlechter. Dort liegt auch das BIP immer noch unter dem Vor-Pandemie-Niveau.

Nur die USA befinden sich deutlich jenseits dieser Schwelle. Die Wirtschaftsleistung hat bereits vor einem Jahr den Stand von Ende 2019 überschritten. Das BIP liegt mittlerweile rund 3% darüber, und die Produktionslücke ist längst geschlossen. Das sind deutliche Anzeichen dafür, dass sich die US-Konjunktur überhitzt hat.

Neben der US-Ökonomie ist für die europäische Wirtschaften die Dynamik der Akkumulation in der Volksrepublik China ausschlaggebend. Angesichts der sich rapide verdüsternden Konjunkturaussichten im Gefolge der strikten Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie ist die chinesische Regierung jetzt zu einer offensiveren Krisenbekämpfung übergegangen.

Dass China allerdings das von Ministerpräsident Li Keqiang im März formulierte Wachstumsziel für das Gesamtjahr von »rund 5,5%« erreicht, ist unwahrscheinlich. Expert*innen gehen für 2022 noch von einem Wachstum in Höhe von 3% aus. Zwischen April und Juni dürfte Chinas Wirtschaftsleistung im Quartalsvergleich um 8% schrumpfen. Manche erwarten, dass sich das Bruttoinlandprodukt im zweiten Quartal auch im Jahresvergleich vermindern wird.

Europa wird neben diesen beiden Kraftfeldern – US-Wirtschaft und die Akkumulation in der VR China – auch noch von der Zinspolitik tangiert. Die restriktiven geldpolitischen Bremsmanöver treffen auf eine geschwächte Wirtschaft. Das Zögern der EZB ist daher nachvollziehbar, wenngleich es ihr den Kampf gegen die hohe Inflation nicht erleichtert.

Auch die Konjunktur in der Eurozone und damit in Deutschland wird also von denselben Faktoren bestimmt: dem Krieg in der Ukraine, den Materialengpässen, dem Energiepreisanstieg und der Corona-Pandemie. Vor allem die Auswirkungen der No-Covid-Politik Chinas mit dem strikten Lockdown im weltweit wichtigen Wirtschaftszentrum Schanghai belasten die ohnehin gestörten globalen Lieferketten. Vor diesem Hintergrund wuchs das deutsche preis-, saison- und kalenderbereinigte BIP im ersten Quartal 2022 nur noch um 0,2% gegenüber dem Vorquartal.

In den anderen drei großen Euroländern Italien, Frankreich und Spanien war das BIP 2020 nach Ausbruch der Corona-Pandemie und den daraufhin verfügten strikten Lockdowns viel stärker eingebrochen als in Deutschland, wo der hohe Industrieanteil zunächst stabilisierte. Entsprechend höher war dort nach Rücknahme der Corona-Maßnahmen die Aufholbewegung im Jahr 2021, sodass die Eurozone mit erheblich mehr Schwung in das Jahr 2022 starten konnte als Deutschland.

Unterm Strich ist für die Eurozone daher wie schon 2021 für das laufende Jahr nochmals ein merklich höheres Realwachstum von 2,5% zu erwarten. Im Jahr 2023 wird sich das Realwachstum dem deutschen aber wieder stark annähern und dürfte bei 1,3% liegen. Für die jahresdurchschnittliche europäische Verbraucherpreisinflation sind die Erwartungen mit 6,4% für 2022 und 3,1% für 2023 nur unwesentlich höher als in Deutschland.

Laut der Chefin des US-Fed-Bezirks San Francisco, Mary Daly, zeichnet sich keine Rezession ab. Im Gegenteil, derzeit sei das Wachstum stark. Jamie Dimon, der Chef der größten US-Bank JP Morgan, sieht dies anders. Er hat Investoren ermahnt, sich für einen »Hurrikan« zu wappnen und dabei unter anderem auf die Straffung der amerikanischen Geldpolitik und Russlands Einmarsch in die Ukraine verwiesen. Die Wirtschaft stehe damit vor einer beispiellosen Kombination von Problemen.

Neben der offensichtlichen Verschärfung der Lieferkettenprobleme könnten immer wiederkehrende oder flächendeckende Lockdowns in China auch einen globalen Nachfrageeinbruch auslösen. Letzterer droht ebenfalls, falls die Zentralbanken beim Kampf gegen die Inflation übersteuern oder die gegenwärtig sehr hohen Inflationsraten sogar nur über eine geldpolitisch induzierte Rezession gesenkt werden können. Besonders akut ist außerdem das Szenario eines Lieferstopps von fossilen Brennstoffen aus Russland. Neben einem zusätzlichen Anstieg der Inflation durch noch höhere Energiepreise wäre eine deutliche Abschwächung der wirtschaftlichen Leistung unvermeidlich.

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