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1. Oktober 2001 Redaktion Sozialismus

Motiv: religiöser Fanatismus?

Der brutale Anschlag in den USA hat neben tiefer Betroffenheit und Erschütterung über die Opfer unter der Zivilbevölkerung auch eine martialische, unzivilisierte Einstellung bei vielen Politikern offengelegt. Im öffentlichen Diskurs in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern dominiert die Metapher »Krieg«, und nicht wenige sind bereit, ein Recht auf Rache oder Vergeltung einzuräumen, unbeschadet der Regeln des Völkerrechtes, der UNO-Charta oder der Werte einer demokratischen Gesellschaft. Eine der gewichtigen Gegenstimmen kommt von der in New York lebenden Schriftstellerin Susan Sontag.

Sie fragt: »Wo ist das Eingeständnis, dass es sich nicht um einen ›feigen‹ Angriff auf die ›Zivilisation‹, die ›Freiheit‹, die ›Menschlichkeit‹ oder die ›freie Welt‹ gehandelt hat, sondern um einen Angriff auf die Vereinigten Staaten, die einzig selbsternannte Supermacht der Welt; um einen Angriff, der als Konsequenz der Politik, Interessen und Handlungen der Vereinigten Staaten unternommen wurde? ... Nichts ist in Ordnung. Und nichts hat dieses Ereignis mit Pearl Harbor gemein. Es wird sehr gründlich nachgedacht werden müssen ... über das kolossale Versagen der amerikanischen Geheimdienste, die Zukunft der amerikanischen Politik besonders im Nahen Osten und über vernünftige militärische Verteidigungsprogramme für dieses Land.« [1]

In den USA sind solche Stimmen, die - gerade angesichts der massiven Opfer und der anhaltenden Bedrohung - zur Besonnenheit und genauen Untersuchung der terroristischen Anschläge raten, deutlich in der Minderheit. In Europa sind die mentalen Kräfteverhältnisse günstiger. Auch hier ertönt die dumme Formel: »Wir sind alle Amerikaner und erklären dem Terrorismus den Krieg.« Doch zugleich gibt es ein weit verbreitetes Unbehagen, dass man sich einer Logik der militärischen Eskalation unterwirft. Die Bereitschaft, sich mit den Hintergründen der Terroranschläge und den Motiven der mutmaßlichen Täter auseinanderzusetzen, ist gleichwohl gering. »Indem man bin Laden jagt, gibt man vor, den Terrorismus zu bekämpfen. Dabei geraten die Ursachen von Terrorismus völlig aus dem Blickfeld, weil eine Beschäftigung mit ihnen die scheinbare Klarheit der unmittelbaren politischen und leider wahrscheinlich auch militärischen Reaktion stören würde.« [2] Was lässt sich also zu diesem Zeitpunkt festhalten?

1. Bin Laden wird per internationalem Haftbefehl gesucht, weil er für einen Bombenschlag auf das jetzt zerstörte World Trade Center im Jahr 1993 mitverantwortlich gemacht und außerdem der Beteiligung an den Anschlägen auf US-Einrichtungen in Daresalam und Nairobi verdächtigt wird. Laut FBI-Ermittlungen waren an den Flugzeugentführungen 19 Männer arabischer Herkunft beteiligt. Die Luftpiraten von New York und Washington hatten sich längerfristig durch qualifizierte Ausbildung auf die Durchführung der Anschläge vorbereitet. Obgleich aus ihrer Lebensweise in Europa oder den USA keine entsprechenden Beweise abgeleitet werden können, werden sie Gruppierungen oder Strömungen des radikalen Islamismus (islamischer Fundamentalismus) zugeordnet.

2. Der so genannte »Islamismus«, eine sektiererische Deutung und Praxis der islamischen Religion, ist mit unterschiedlichen ethnisch-kulturellen Ausprägungen in nahezu allen Ländern der islamischen Welt von Marokko bis Indonesien nachweisbar. Es handelt sich bei der fundamentalistischen Deutung gewiss nicht um eine Besonderheit des Islam; zu anderen Zeiten und gesellschaftlichen Bedingungen ist dies auch für andere Weltreligionen und Weltauffassungen nachgewiesen.

3. Die islamistischen Strömungen zerfallen in eine Reihe von teilweise lose verkoppelten Netzwerken, wenngleich die Übergänge durchaus fließend sind. Neben Hamas, Islamischer Dschihad, Hizbulla tritt unter der Bezeichnung al Qaida ein Netzwerk in Erscheinung, dem bin Laden zugeordnet wird.

Bei aller Vielfalt von Entstehung und Entwicklung der Islamisten (Jihadisten) [3] sind zwei Bevölkerungsschichten als hauptsächliche Träger dieser Bewegungen auszumachen: Einerseits sind es die frommen Kleinbürger - Händler, Handwerker u.a. -, die das soziale Fundament darstellen. Neben diesen traditionellen Lebens- und Arbeitsformen des »Basars« treten vor allem die verarmte und verwahrloste, jedoch alphabetisierte Jugend aus den Vorstädten der Großstädte und der städtischen Verdichtungsräume als Träger eines radikalisierten Islam auf. Diese beiden Komponenten in den islamistischen Strömungen wirken zeitweilig zusammen, fallen allerdings nach Erringung der gesellschaftlichen Hegemonie oder Macht (mit und ohne Hilfe der Armee) auseinander. »Wenn die beiden Bestandteile der Bewegung auseinander fallen, besteht die Gefahr, dass die verarmte, ihrer ländlichen Tradition entfremdete und leicht fanatisierbare Jugend in Außenquartieren der Großstädte zu terroristischen Methoden greift. Diese führen dazu, dass die frommen Bürger sich endgültig abwenden und die Staatsmacht vermag dann der gespaltenen Bewegung Herr zu werden.« [4]

1989/90 kam es zu einer folgenreichen Verschiebung der Kräfteverhältnisse. Vor dem Hintergrund der sowjetischen Niederlage in Afghanistan, der erfolgreichen Machtübernahme durch die Islamisten im Sudan, der gescheiterten Aufstandsbewegung in Algerien und dem Konflikt zwischen Iran und Irak führt der Überfall des Irak auf Kuweit zu einer Polarisierung innerhalb der islamischen Welt - dem »Weltislamismus«. Die Islamisten hatten unter dem Druck der städtischen Unterschichten gegen die USA und deren feudalistische Hilfskräfte in den Herrscherfamilien und für Saddam Hussein Position bezogen. Seither gibt es einen deutlichen Bruch zwischen dem Großteil der politischen Klassen in Ägypten, Saudi-Arabien und der Mehrzahl der Ölförderstaaten, die gestützt auf ihre Machtapparate und eine Mehrheit der Kleinbürger für eine prowestliche Politik der internationalen islamischen Institutionen sorgen, und den islamistischen Bewegungen, getragen durch die Unterschichten und unterprivilegierten Jugendlichen, die im Sudan, Afghanistan, Palästina und Pakistan mehr oder minder offene Unterstützung genießen.

4. Bis zum Golf-Krieg hatten die Saudis beide Seiten des Islamismus gefördert, indem sie den Jihad (Heiligen Krieg) mit Unterstützung der USA finanzierten und voranbrachten. Nach dem Fall von Kabul versuchten die entwurzelten Kämpfer in ihren Ursprungsländern wieder eine normale Existenz aufzubauen, was aber mangels öffentlicher Unterstützung, dem entstandenen Misstrauen und politischer Korruption in der Regel vollständig scheiterte. Seither ist das Gesetz des Handelns an die Taliban übergegangen, die den entwurzelten Milizen, radikalisierten Jugendlichen und radikalen Strömungen eine neue logistische Struktur eröffneten. Die Selbsteinschätzung dieser neuen Strömung der Islamisten trifft die Verhältnisse. »Die Taliban-Bewegung ist entstanden, um Chaos, Grausamkeit, Mord, Zerstörung, Plünderung, Raub, Ehebruch, Bosheit und alles Üble zu beseitigen. Ihr Ziel ist die Implementierung der Gesetze des Islam.«5 Die Taliban-Bewegung hat seither alle Ansätze eines emanzipierten Frauenlebens zurück genommen, auch um den Preis des Ausschlusses von mehreren zehntausend Frauen aus dem Erwerbsleben. Die Abgrenzung gegenüber der westlichen Kultur drückt sich neben dem Ausschluss der Frauen aus dem öffentlichen Leben, der Kleiderordnung, den Kulturvorschriften auch in der Zerstörung von Denkmälern und Symbolen anderer Religionen aus. Vergeltungsschläge, die eigentlich auf bin Laden zielen, könnten das Kräfteverhältnis in der islamischen Welt erneut entscheidend verändern, womit weder ein Schritt zur »Bekämpfung des Terrorismus«, noch zur Zivilisierung von politischen Konflikten erreicht würde.

Was schlösse also eine erfolgreiche Bekämpfung des radikalen Islamismus und seiner terroristischen Varianten ein?

Zunächst wäre es falsch, in Afghanistan oder Pakistan - wie in anderen Ländern auch - mit militärischen Mitteln eine Besserung der Verhältnisse erzwingen zu wollen. In Afghanistan leben rund 2/3 der 26 Millionen Menschen von der Landwirtschaft; der jahrelange Krieg, die Dürre und die vielen entwurzelten Menschen müssten schrittweise wieder in einigermaßen funktionierende Reproduktionskreisläufe eingegliedert werden; bloße Nahrungsmittelhilfe allein ist so wenig ein Ausweg wie die Tolerierung der Fluchtbewegung. Nur unter dieser Voraussetzung kann die stark expandierende Opiumproduktion zurückgedrängt werden. Faktisch wären dazu aber der politische Dialog und eine neue Entwicklungspolitik Bedingung. Die »westliche Welt« müsste zudem ihre einseitige Unterstützung von feudalen Herrschaftercliquen einstellen, auch um den Preis einer Unsicherheit in Sachen Öl- und Gasversorgung. Auch in den Ländern, die nicht am Rande des Zusammenbruchs existieren, müssten längerfristige Entwicklungsprojekte aufgelegt werden, außerdem sind Bildungsprogramme und Hilfsmaßnahmen für Kriegs- und Bürgerkriegsopfer notwendig.

Wer sich den komplexeren Weg sparen und eine Eindämmung mit militärischen Mitteln erzwingen will, der treibt die Eskalation weiter und wird sich - trotz besserer Ausstattung der Geheimdienste - auf immer brutalere Anschläge einstellen müssen.

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