28. November 2013 Otto König / Richard Detje: Fleischindustrie – Kampf um menschenwürdige Arbeitsbedingungen und Entlohnung

Die Lohnsklaven der Schlachthöfe

Die Auseinandersetzungen um den Mindestlohn beleuchten die sozialen Verhältnisse wie in einem Brennglas. Einerseits sind sie ein Exempel erfolgreichen Themen-Settings (siehe den Beitrag von Klaus Dörre in diesem Heft) – aber es bedurfte beharrlicher gewerkschaftlicher Arbeit über zwei Jahrzehnte.

Andererseits sind sie Ausdruck jener institutionellen, medialen und Markt-Macht, die Arbeitgeberverbände bis zuletzt zu mobilisieren in der Lage sind. Gegen etwas, was auch in einer meritokratischen Ordnung eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte: existenzsichernde Arbeitsverhältnisse. Die Fleischindustrie ist voraussichtlich die erste Branche, in der das von der neuen Bundesregierung reformierte Verfahren branchenbezogener Mindestlöhne Anwendung findet. Werfen wir einen Blick auf die dortigen Entlohnungs- und Arbeitsverhältnisse.

Seit über 100 Jahren ist von Sklaverei die Rede, wenn es um die Beschreibung der Arbeit in Schlachthöfen geht. Wütend telegrafierte der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt Anfang des 20. Jahrhunderts an den Sozialisten Upton Sinclair: »Geben Sie Ruhe, Sinclair. Und überlassen Sie das Regieren des Landes für eine Weile mir.« Der Schriftsteller hatte 1906 in seinem Roman »The Jungle«[1] die Ergebnisse seiner siebenwöchigen Recherche im Armour Trust, einer der größten Fleischfabriken in Chicago, veröffent­licht. In diesem sozialkritischen Roman schilderte Sinclair am Beispiel einer litauischen Einwandererfamilie die Ausbeutung der Arbeiter und die katastrophalen hygienischen Zustände in den Schlachthöfen der Union Stock Yards.

Nach der Veröffentlichung der kriminellen Zustände sank der Absatz der Fleischkonserven schlagartig. In Folge dessen wurde die Qualität der Konserven verbessert – nicht jedoch die Arbeitsbedingungen.
»Ich zielte auf das Herz und das Gewissen der Amerikaner, aber ich traf sie nur im Bauch«, bilanzierte Sinclair.

Im 21. Jahrhundert stehen Fleischfabriken in Städten wie Vechta im westlichen Niedersachsen, Rheda-Wiedenbrück in Ostwestfalen oder Waldkraiburg in Südost-Oberbayern im Fokus der Öffentlichkeit. Seit der NDR-Reportage »Lohnsklaven in Deutsch-land – miese Jobs für billiges Fleisch« (24.06.2013) hat die Debatte über die katastrophalen Arbeitsverhältnisse der osteuropäischen Wanderarbeiter Fahrt aufgenommen: Dumpinglöhne, menschenunwürdige Arbeitsbedingungen, keine Bezahlung von Urlaubs- und Krankheitstagen,[2] Missbrauch von Werkverträgen und kriminelle Machenschaften. Die über Sub-Unternehmer angeworbenen neuen »Hungerlöhner« aus Rumänien und Bulgarien werden in überbelegten Behausungen zusammengepfercht – etwa mit acht Mann in einem Vierbettzimmer, von denen vier tagsüber und vier in der Nachtschicht am Fließband beispielsweise Putenteile zerlegen. Katastrophaler noch: »Aus Ästen, Plastikfolie und Decken bestanden Unterkünfte, unter denen rumänische Wanderarbeiter diesen Sommer in den Wäldern bei Cloppenburg und Vechta aufgefunden wurden« (FAZ, 27.10.2013).

Profitables Geschäftsmodell: Werkverträge

Die Zustände in der deutschen Fleischindustrie sind Ergebnis der exzessiven Nutzung des profitablen Geschäftsmodells aus Werkverträgen und Subunternehmerketten. Nach der Bauwirtschaft hat insbesondere die Fleischbranche die Möglichkeiten der Entsende-Richtlinie der EU genutzt. Danach können Arbeitnehmer, die in ihrem Heimat-(Entsende-)Staat angestellt sind, zu den dortigen Bedingungen in andere EU-Länder für 24 Monate zur Arbeit entsandt werden. Dann ist eine Unterbrechung von zwei Monaten vorgeschrieben. Dabei müssen Mindestbedingungen nach dem Entsendegesetz eingehalten werden, wie zum Beispiel die Anmeldung zur Sozialversicherung im Heimatland. Dies wird durch die so genannte A-1-Bescheinigung nachgewiesen, die nach Erfahrungen von NGG-Gewerkschaftern allerdings kaum kontrolliert wird. Nach Auskunft der Deutschen Rentenversicherung waren im Jahr 2011 in der Schlachtindustrie 51.194 (2010: 45.600) und in der übrigen Fleischverarbeitung 45.793 Arbeitnehmer aus EU-Ländern mit einer A-1- Entsendebescheinigung erfasst.[3]

Diese rechtlichen Möglichkeiten ausnutzend, reduzieren die Betriebe der Fleischwirtschaft seit Jahren ihre Stammbelegschaften und ersetzen sie durch Werksvertragler aus Ost- und Süd­europa. Der Journalist Roland Kirbach beschrieb den Mechanismus am Beispiel des Schlachters Mario Gliese in der Großschlachterei des niederländischen Fleischkonzerns Vion in Emstek im Landkreis Cloppenburg: Gliese hat 30 Jahre lang Schweine geschlachtet, die, an den Füßen aufgehängt, an einem Band an ihm vorbeizogen. Für zuletzt 2.200 Euro brutto im Monat. Dann wurde er ins Kühlhaus versetzt. Hier wuchtet er den ganzen Tag 35 Kilogramm schwere Kisten mit Schweinefleisch auf ein Förderband. Seinen früheren Job am Schlachtband erledigen jetzt Werkvertragsarbeiter aus Rumänien. Anders als Mario Gliese sind sie nicht beim Fleischkonzern angestellt, sondern bei einem rumänischen Subunternehmer, der im Auftrag des Konzerns die Schweine schlachtet. Mittlerweile sind mehr als die Hälfte der Beschäftigten im Werk Emstek rumänische Werkvertragsarbeiter (Die Zeit, 8.8.2013).

»In den Betrieben der Fleischindustrie arbeiten bis zu 80 Prozent der eingesetzten Leute auf der Basis von Werkverträgen«, schätzt der NGG-Geschäftsführer Lutz Tillack. So sind laut Westdeutscher Allgemeine Zeitung (30.8.2013) zwei Drittel der Belegschaft, die im Stammwerk des FC Schalke-Präsidenten Bernd Tönnies in Rheda-Wiedenbrück beschäftigt sind, Werksvertragler – insgesamt 3500 Männer und Frauen. Ihre Anstellung haben sie bei Sub-Unternehmen aus Rumänien, Polen oder Griechenland. Tönnies & Co. vergeben Dienstleistungsaufträge wie das Zerlegen von Rinder- oder Schweinehälften an Sub-Unternehmen, die Arbeiter-Kolonnen nach Ostwestfalen schicken, die das »Werk« durchführen: Köpfe abtrennen, Schwänzchen kappen oder eben Koteletts schneiden. Die Weiterverarbeitung des Fleischs, die Qualitätsprüfung und der Verkauf werden nachfolgend häufig noch von Stammbeschäftigten erledigt.

Das Geflecht von Sub- und Sub-Sub-Unternehmen ermöglicht den Auftraggebern, sich existenzsichernder Löhne zu entziehen. Während ein Facharbeiter mindestens 9,71 Euro pro Stunde bekommt, erhalten Werkvertragsnehmer nach NGG-Informationen zwischen drei und sechs Euro in der Stunde. Im bayerischen Waldkraiburg wurden Arbeiter aus Rumänien durch Sub-Unternehmen für einen Monatslohn von umgerechnet rund 176 Euro beschäftigt.[4] Vion, der Auftraggeber für den Dienstleistungsauftrag, erklärte sich für diese Zustände bei der von ihm beauftragten Werksvertragsfirma nicht zuständig.

Mit Dumping-Löhnen den EU-Markt aufrollen

Die Schlachtindustrie boomt. Fünf große Fleischkonzerne mit Milliarden-Umsätzen teilen den Markt unter sich auf: Danish Crown (7,6 Mrd. Euro), der deutsche Branchenprimus Tönnies (4,6 Mrd.), die Vion Food Germany (3,9 Mrd.), die PHW-Gruppe, zu der die Wiesenhof-Schlachtereien gehören (2,2 Mrd.), und die Westfleisch e.G. in Münster (2,2 Mrd.). Die Branche steigerte ihren Umsatz von 2005 bis 2011 um ein Viertel auf 34,6 Mrd. Euro.[5]

Die Zahlen des europäischen Statistikamtes Eurostat belegen, dass die hiesigen Schlachthöfe mit ihren Niedriglöhnen den europäischen Markt weitgehend aufgerollt haben. Deutschland hat sich mithilfe der Dumpinglöhne vom Fleisch­importeur zum führenden Fleischexportland gewandelt. Von 6,8 Millionen Tonnen Schlachtfleisch gingen laut Verband der Fleischwirtschaft im Jahr 2011 2,8 Mio. to ins Ausland – mittlerweile in 120 Länder, darunter Russland, China, Südkorea und Japan. Mit dem Anstieg der Exportzahlen nahmen die Beschwerden in den europäischen Nachbarstaaten über die »Schmutzkonkurrenz« zu. Die miesen Bedingungen der »Lohnsklaven« in den Schlachtbetrieben schreckten sogar die EU-Kommission auf, insbesondere nachdem die belgische Regierung eine Dumping-Klage angekündigt hatte.

Die deutschen Schlachtbetriebe verschaffen sich mit Lohndumping Kostenvorteile und forcieren den Verdrängungswettbewerb in der europäischen Fleischwirtschaft. Tatsächlich werden in den umliegenden Staaten entweder höhere Löhne oder ein gesetzlicher Mindestlohn gezahlt. In Belgien erhält ein Schlachter mindestens 12,88 Euro und in Frankreich beträgt der allgemeine Mindestlohn 9,43 Euro pro Stunde.

So ist die Wut der 900 entlassenen bretonischen Schlachthofarbeiter zu verstehen, die im französischen Lampaud gegen ihren Arbeitsplatzverlust auf die Barrikaden gingen und fordern: »Angela (Merkel) soll gefälligst mit dem Mindestlohn rausrücken. Aber nicht mit sieben Euro pro Stunde. Sie muss sich dem französischen Mindestlohn anpassen« (Patricia Diverres, ehemalige Vertriebsleiterin).[6]

Mindestlohn

Während ein deutscher Facharbeiter in der Fleischindustrie nach Angaben der Gewerkschaft NGG einen Stundenlohn von rund 15 Euro erhält, bekommen ausländische Werkvertragler für das Schlachten und Zerlegen von Schweinen, Rindern und Geflügel oft weniger als fünf Euro bezahlt. Medial unter Druck geraten und aus Sorge um ihr Image gaben die großen Fleischkonzerne im Sommer 2013 schließlich ihren Widerstand gegen tarifliche Vereinbarungen auf und stimmten Verhandlungen über einen Branchen-Mindestlohn zu. Seit Oktober verhandelt Michael Andritzky im Auftrag der Arbeitgebervereinigung Nahrung und Genuss (ANG) mit der NGG, die bundesweit einen einheitlichen Mindestlohn von 8,50 Euro für alle Beschäftigten der Branche fordert.

Damit ein ausgehandelter Mindestlohn auch für ausländische Werkvertragsnehmer gelten kann, muss die Fleischbranche in das so genannte Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen werden. Dies müssen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite beantragen. Das Bundesministerium signalisierte zwischenzeitlich, eine Einigung auf einen Mindestlohntarifvertrag für die Fleischwirtschaft für allgemeinverbindlich zu erklären.

Der Verweis der Arbeitgeber in den zurzeit unterbrochenen Tarifverhandlungen auf die besondere Lohnsituation in Ostdeutschland lässt die NGGler jedoch berechtigt daran zweifeln, dass die Unternehmer sich auf die geforderten 8,50 Euro einlassen. Misstrauisch registrierten die Gewerkschafter auf ihrem Kongress Mitte November in Berlin auch den »Wackelkurs« des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel, der zwar vollmundig verkündete, »es gibt keine große Koalition mit Zustimmung der SPD ohne flächendeckenden Mindestlohn«; aber klare Aussagen zur Höhe und zu den Modalitäten vermied er. Die Delegierten des NGG-Kongresses bekräftigten ihre Position: »Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von mindestens 8,50 Euro, der nach Einführung rasch auf mindestens 10,00 Euro erhöht werden muss.«

Deutschland würde mit einem Mindestlohn von 8,50 Euro deutlich unterhalb des Mindestlohnniveaus in vergleichbaren westeuropäischen Staaten liegen. Hierzu gehören Luxemburg (11,10 €), Frankreich (9,43 €), Belgien (9,10 €), die Niederlande (9,01 €) und Irland (8,36 €). Dennoch warnt der Sachverständigenrat – mit Ausnahme von Peter Bofinger – vor Beschäftigungsverlusten bei Einführung eines Mindestlohns.

Was tun?

Der Niedriglohnsektor in Deutschland gehört zu den größten in Europa und das Lohndumping erfasst immer neue Bereiche. Deshalb ist die Neuordnung der gesellschaftlichen Arbeit das Minimal-Programm für eine künftige Bundesregierung: stärkere Regulierung von Leiharbeit, Werkverträgen und befristeter Beschäftigung sowie Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns: 8,50 Euro flächendeckend in West und Ost ohne regionale, sektorale oder betriebswirtschaftlich begründete Öffnungsklauseln – nur so kann Dumpingkonkurrenz ausgeschlossen werden.

Der Mindestlohn reicht aber allein nicht aus, um angemessene Arbeits- und Einkommensbedingungen in der gesamten Wirtschaft sicherzustellen. »Dazu sollte zusätzlich das deutsche Tarifvertragssystem grundsätzlich gestärkt werden.« (Reinhard Bispinck) Eine Voraussetzung ist, dass die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) von Tarifverträgen erleichtert wird. Im Koalitionsvertrag ist vorgesehen, dass die AVE nicht nur bei einer Tarifbindung von mindestens 50% möglich ist, sondern auch, wenn damit wirtschaftliche Fehlentwicklungen verhindert und die Sozialkassen gesichert werden können.

Der neue Bundestag muss eine klare Abgrenzung von Leiharbeit und Werkverträgen vornehmen. Es reicht nicht aus, nur die Informationsrechte für Betriebsräte zu verbessern. Deren Handlungsspielraum bei der Kontrolle der Fremdvergabe von Arbeiten muss durch die Ausweitung ihrer Mitbestimmungsrechte sichergestellt werden.

Otto König ist Mitherausgeber, Richard Detje Redakteur von Sozialismus.

[1] Upton Sinclair: »Der Sumpf«, Frankfurt a.M. 1973.
[2] Wer sich mit einem scharfen Messer verletzt, mit dem die Frauen und Männer Tag für Tag arbeiten, hat Pech gehabt: Bezahlt wird nur der Tag des Unfalls. Oder es heißt: Fahr zurück nach Rumänien, wir brauchen dich nicht mehr«, in: »Wenig Rechte. Wenig Lohn« – Wie Unternehmen Werkverträge (aus)nutzen, NGG, Hamburg 2012.
[3] Vgl. Sandra Siebenhüter: Werkverträge in Bayern. Das neue Lohndumping-Instrument. Report DGB Bayern, München, August 2013.
[4] Claus-Harald Güster: »Mindestlohn für die Fleischwirtschaft ante portas?, in: DGB »Gegenblende«, 25.9.2013.
[5] Elmar Wigand: »Billiges Fleisch: Lohnsklaven im Schlachthof-Dschungel«, Internet-Plattform Arbeitsunrecht, 25.10.2013.
[6] »Ein Schlachthof macht dicht«, in: Die Zeit v. 31.10.2013.

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