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Strategische Fragen linker Politik in Zeiten von Krieg und Krise
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Antje Vollmer/Alexander Rahr/Daniela Dahn/Dieter Klein/Gabi Zimmer/Hans-Eckardt Wenzel/Ingo Schulze/Johann Vollmer/Marco Bülow/Michael Brie/Peter Brandt
Den Krieg verlernen
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Heiner Dribbusch
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Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000 – Daten, Ereignisse, Analysen
376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
ISBN 978-3-96488-121-2

29. Januar 2017 Otto König / Richard Detje: Türkei – eine Republik wird zum Trümmerhaufen

Erdoğans Abrissarbeiten

Es war ein Akt der Verzweiflung: Die unabhängige Oppositionspolitikerin Aylin Nazliaka kettete sich im Plenarsaal mit Handschellen an das Rednerpult. Sie protestierte gegen eine Verfassungsänderung, mit der eine »Präsidial-Diktatur« institutionalisiert werden soll – während vor dem türkischen Parlament die Staatsmacht ihre martialische Seite zeigte: Polizeisperren, Tränengas, Wasserwerfer.

Damit der Umbau des Staates vonstattengehen konnte, wurden demokratische, zivilgesellschaftliche »Hindernisse« mit Hilfe der Zugriffsmöglichkeiten des Ausnahmezustands sowie per Dekret aus dem Weg geräumt.[1] Die Medien sind faktisch gleichgeschaltet, die Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit ist liquidiert, kritische JournalistInnen und SchriftstellerInnen wurden in Gefängnisse geworfen. Eine gewaltige, bis heute anhaltende Verhaftungs- und Verfolgungswelle rollt über das Land. Seit Juli 2016 wurden nach offiziellen Angaben über 83.000 Menschen aus dem Staatsdienst entlassen. Darunter befinden sich 30.000 Lehrer und 3800 Hochschullehrer. Streiks sind verboten.[2]

Das Hauptaugenmerk von Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) gilt den Vertretern der Demokratischen Partei der Völker (HDP). Diese hatten sich schon 2014 klar gegen die Umwandlung der Türkei in eine Präsidialrepublik positioniert. Bei den beiden Parlamentswahlen in 2015 war es der HDP gelungen, die 10%-Hürde zu überwinden und durch ihren Einzug ins Parlament eine absolute Mehrheit der AKP und damit das angestrebte Präsidialsystem zu verhindern. Seitdem richten sich die Angriffe des nationalistischen Mobs gegen die linksdemokratische Opposition. Zwölf Abgeordnete und die beiden Ko-Vorsitzenden, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, der drittstärksten Fraktion im Parlament wurden wegen angeblicher Unterstützung von Terrororganisationen verhaftet und sitzen in »Untersuchungshaft«.

Derzeit existiert in der Türkei zumindest formal noch eine parlamentarische Demokratie mit einem Staatspräsidenten, der weitgehend repräsentative Kompetenzen hat. Doch Recep Tayyip Erdoğan, der im August 2014 nach elf Jahren als Ministerpräsident das Amt übernahm, akzeptierte eine Einschränkung seiner Herrschaft durch politische Opposition und Gewaltenteilung – zumal nach den Erfolgen der HDP – immer weniger. Solange die ökonomisch-soziale »Modernisierungswelle« das Land erfasste, war die von Erdoğan und Gülen gemeinsam gesteuerte Legitimation sicher.

Doch spätestens mit der Großen Krise 2008ff. war klar, dass der Zustrom ausländischer Direktinvestitionen rückläufig ist und die Inflation Wohlfahrtsgewinne aufzehrt – die Widersprüche des AKP-gesteuerten Entwicklungsmodells also massiv zunehmen. Die Säuberungswelle und die Liquidierung des Rechtsstaats nach dem gescheiterten Militärputsch im Juli 2016 haben diesen Prozess noch verschärft – und lassen erahnen, was geschehen wird, wenn der Staatspräsident nicht nur de facto per Dekret sondern auch je jure auf der Grundlage der neuen Verfassung die totale Kontrolle übernimmt.

Die Installierung eines Präsidialsystems à la Turca hat inzwischen in der Großen Nationalversammlung in Ankara die vorletzte Hürde genommen: Eine dreifünftel-Mehrheit der Abgeordneten haben in der zweiten Lesung das sogenannte »Reform-Paket« aus 18 Artikeln durchgepeitscht. 339 Abgeordnete der regierenden AKP und der ultra-nationalistischen Oppositionspartei MHP[3] haben gegen den Widerstand von 142 oppositionellen Parlamentariern der Republikanischen Volkspartei (CHP) und der HDP die Änderungen in der Verfassung beschlossen und damit einen Systemwechsel durchgedrückt.

Die nationalistischen Kräfte stellen die Entscheidung als Befreiung aus einem »Strudel von Terror und Gewalt« dar. Mit dem Staatsumbau würden die Bedingungen »für Stabilität und Sicherheit angesichts terroristischer Bedrohungen« geschaffen, so Ministerpräsident Binali Yildirim. Für die demokratischen Kräfte handelt es sich um eine Entscheidung für eine islamisch gefärbte Autokratie, die das Ende der Demokratie besiegelt.

Die türkische Bevölkerung wählte seit 1946 ein Parlament mit mindestens zwei Parteien.[4] Seit den 1950er Jahren, als der erste demokratische Regierungswechsel gelang, konnte von einer parlamentarischen Demokratie in der Türkei gesprochen werden. Sie hat Militärputsche überlebt und Kontrollmechanismen sicherten bisher weitgehend die Gewaltenteilung. Das sieht die nun geänderte Verfassung nicht mehr vor. Das Parlament verkümmert zur Demokratie-Kulisse. »In unserer Literatur lautet der Fachbegriff für ein solches System Sultanat«, sagte der Vorsitzende der türkischen Anwaltskammer, Metin Feyzioglu.

Im Präsidialsystem[5] wird der türkische Präsident zugleich als Staats- und Regierungschef amtieren. Er kann Minister ernennen, die nur ihm gegenüber verantwortlich sind, den Haushalt vorlegen, Vetos gegen Gesetzesentwürfe des Parlaments einlegen, das Parlament auflösen und Neuwahlen ausrufen. Darüber hinaus kann er tief in die Justiz eingreifen, denn er bestimmt die Hälfte der Mitglieder des »Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte«, also jenes Gremiums, das Richter und Staatsanwälte beruft, befördert und ggf. Untersuchungen einleitet. Der Präsident bestimmt, ähnlich wie in der alten Verfassung, auch 12 der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts. Schließlich kann er jederzeit den Ausnahmezustand ausrufen und per Dekret regieren.

Damit ist die Gewaltenteilung zwischen Regierung, gesetzgebender Gewalt und Richterschaft aufgehoben. Die Große Nationalversammlung wird, aller wichtigen Kontrollinstrumente beraubt und immer unter dem Damoklesschwert der Parlamentsauflösung debattierend, nur noch eine »symbolische« Rolle spielen.

Unter der neuen »Ordnung« sollen erstmals am 3. November 2019 der Präsident und das Parlament gemeinsam gewählt werden. Die Amtszeiten des Präsidenten wären zwar weiterhin auf zwei begrenzt, da die Zählung jedoch mit der für 2019 geplanten Wahl neu beginnt, könnte Erdoğan bis 2029 an der Spitze des Landes stehen – damit faktisch lebenslang.

Doch noch gibt es keine endgültige Entscheidung. Der türkischen Bevölkerung bleibt eine letzte Chance, die Demokratie zu retten. Die AKP-Regierung muss das Volk Anfang April in einem Referendum über die Annahme bzw. Ablehnung der vom Parlament beschlossenen Verfassungsänderung abstimmen lassen. Für die demokratische Opposition ist das die letzte Chance, die Abrissarbeiten von Erdoğan zu stoppen. »Die kommenden zwei Monate werden über die Zukunft der Türkei entscheiden«, sagte Can Dündar, ehemaliger Chefredakteur der Tageszeitung »Cumhuriyet«.

Bis zum Putschversuch vom 15. Juli 2016 war die Mehrheit der Türken gegen das geplante Präsidialsystem. Seit Monaten zeigen die Umfragen unterschiedliche Mehrheitsverhältnisse. Mal schwankt der Anteil der Befürworter zwischen 51 und 60%, mal überwiegt die Ablehnung. Ende Dezember kam das Institut Gezici Research zu dem Ergebnis, dass 58% einen Wechsel zu einem Präsidialsystem ablehnen. Im November hatte bereits Hakan Bayrakci, Präsident des renommierten Meinungsforschungsinstituts Sonar, 56% »Nein«-Stimmen prognostiziert. Man könne noch nicht mit Sicherheit sagen, dass das Referendum mit einem »Ja« enden werde, meint auch Bekir Ağırdır vom Institut KONDA. Allerdings sind die Aussagen der Umfrageinstitute in der heutigen polarisierten Atmosphäre nur mit Vorsicht zu bewerten.

In einem Klima der Angst ist es fraglich, ob die WählerInnen sich trauen, ihre Kritik an der Wahlurne zu bekunden, oder ob sie aus Angst vor Repressionen nach außen hin gute Miene zum bösen Spiel machen, jedoch bei der Abstimmung mit »Nein« stimmen. Noch ist sich der Vorsitzende der türkischen Anwaltskammer, Metin Feyzioglu, sicher: »Das Volk wird keinen Selbstmord begehen.« Im Ausnahmezustand, der kürzlich bis zum 19. April verlängert wurde, ist eine faire Kampagne gegen das Referendum allerdings ausgeschlossen. Führende landesweite und regionale Vertreter der HDP, die vor zwei Jahren die effektivste Kampagne gegen die AKP organisierte, sind in Haft, die Parteiarbeit wird kriminalisiert und massiv behindert.

Die CHP ist zerstritten und hat an Glaubwürdigkeit verloren, nachdem sie unmittelbar nach dem Putsch den Schulterschluss mit der Regierung praktiziert und später im Parlament der Aufhebung der Immunität von HDP-Abgeordneten zugestimmt hatte. Regierungskritische Medien sind reihenweise geschlossen worden. Es gibt kaum noch eine unabhängige Stimme, die landesweit und in der Breite der Bevölkerung Aufklärung und kritische Informationen über die Folgen der Verfassungsänderung verbreiten könnte. In zahlreichen Städten, u.a. auch in der Hauptstadt Ankara, sind »Nein«-Kundgebungen verboten worden. Der Willkür ist Tür und Tor geöffnet: Die Polizei kann Versammlungen und Kundgebungen nahezu nach Belieben verbieten oder auflösen.

Eine absolut sichere Bank ist das Referendum für den Autokraten in Ankara aber immer noch nicht. Umso entschiedener wird die Repression sich aller Anlässe bedienen, die Opposition einzuschüchtern und ihren Aktionsradius einzuschränken.

[1] Vgl. Otto König/Richard Detje: Erdoğans Säuberungen. Ausnahmezustand in der Türkei verlängert, Sozialismus Aktuell, 5.10.2016.
[2] Die Gewerkschaft Birlesik Metal Is (Vereinigte Metaller Gewerkschaft), Mitglied der DISK und damit des Europäischen Gewerkschaftsbundes, führte nach dem Scheitern der Tarifverhandlungen über höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen in 13 Betrieben der Elektro- und metallverarbeitenden Industrie eine Urabstimmung durch. Unmittelbar nach der Bekanntmachung des Votums für den Streik erklärte die AKP-Regierung die Streiks mit dem Verweis auf den Ausnahmezustand im Land für illegal und damit verboten (DDIF, 21.1.2017).
[3] Die MHP entstand Ende der 1960er Jahre als Werk des Neofaschisten Alparslan Türkes, ein Verehrer des deutschen Nationalsozialismus, der ein großtürkisches Reich zum Ziel seiner Politik erklärte. Seine Anhänger nennen sich Ülkücüs (Idealisten) oder Graue Wölfe. Zu ihren politischen Hauptgegnern gehören die Kurden im Land.
[4] Im Osmanischen Reich ließ Sultan Abdülhamit II. im März 1877 das erste Parlament in seinem Palast am Bosporus zusammentreten, bis er es im Februar 1878 wieder auflöste. Der Gründer der türkischen Republik, Kemal Atatürk, berief im April 1920 in Ankara die Große Türkische Nationalversammlung ein, in der zunächst seine Republikanische Volkspartei (CHP) allein dominierte. 1950 folgte die erste freie Mehrparteienwahl, in der Atatürks Partei die Mehrheit verlor.
[5] Präsidialsystem ist nicht gleich Präsidialsystem und ein Präsidialsystem mündet nicht zwangsläufig in eine Diktatur. Ein Präsidialsystem haben z.B. Frankreich, die USA und viele lateinamerikanische Staaten. Demokratische Präsidialsysteme basieren jedoch auf der strikten Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative.

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