18. Oktober 2022 Otto König/Richard Detje: Sprengungen von Nord Stream 1 und 2
Anschläge mit Ansage?
Die direkten Lieferverbindungen aus Russland nach Deutschland sind nach ihrer politischen Stilllegung nun durch Anschläge auf die Erdgasleitungen Nord Stream 1 und 2 auch physisch gekappt. Wer die Anschläge bei Bornholm in der dänischen und schwedischen Wirtschaftszone, aber außerhalb der Hoheitsgewässer, verübt hat, bei denen große Löcher in die Pipelines gesprengt wurden, ist bisher unbekannt.
Vermutlich steckt hinter der Tat ein staatlicher Akteur, da die Sprengungen eine Ausrüstung und Fähigkeiten voraussetzen, über die vermutlich kein nicht-staatlicher Akteur verfügt.
Laut einem dänisch-schwedischen Bericht für den UN-Sicherheitsrat wurden die Lecks durch Explosionen mit einer Sprengkraft verursacht, die »hunderte Kilo« Sprengstoff entsprechen. Soweit bislang zu erkennen, sind die Schäden an den drei von den Explosionen getroffenen Pipelinesträngen erheblich; wie lange es dauern wird, sie zu reparieren, ist ungewiss.
Erschwert werden notwendige Arbeiten zumindest im Fall von Nord Stream 2 dadurch, dass die Betreibergesellschaft umfassenden Sanktionen ausgesetzt und nicht in der Lage ist, Aufträge welcher Art auch immer zu vergeben. Entsprechend titelte das in Arlington (US-Bundesstaat Virginia) ansässige, im Besitz der Axel Springer SE befindliche Nachrichtenportal Politico: »Goodbye, Nord Stream«.[1] Der große Verlierer dieses Anschlags ist Europa – und in Europa vor allem das industrielle Zentrum Deutschland.
Es stellt sich die Frage, wer diesen gezielten Angriff verübt hat. Russland und westliche Länder schieben einander die Verantwortung zu. So ist es für die Ukraine eine Selbstverständlichkeit, dass es sich um einen von Russland geplanten Terroranschlag handelt. Die Sabotage der Leitungen sei eine »Aggression gegenüber der EU«, so der ukrainische Präsidentenberater Mykhailo Podolyak. In das gleiche Horn stößt Polen. Dagegen twitterte der einstige polnische Außenminister und heutige Europaabgeordnete Radek Sikorski ein Foto vom Anschlagsort in der Ostsee mit den Worten »Eine Kleinigkeit, aber so große Freude (…) Thank you, USA«.
Noch bevor überhaupt Ermittlungen begonnen haben, gehen westliche Leitmedien davon aus, dass Russland hinter dem Anschlag steht. Bestärkt werden sie durch Stellungnahmen und Drohungen der NATO und der EU. NATO-Generalsekretär Stoltenberg zeigte sich »besorgt über die Sicherheitslage im Ostsee-Raum« und geht davon aus, dass Russland sein »Säbelrasseln« fortsetzen werde.
Ein gezielter Sabotageakt »würde durchaus in die von Staatsterrorismus geprägte und hybride Vorgehensweise Russlands passen«, sagte der Vize-Vorsitzende des Geheimdienstgremiums im Bundestag, Roderich Kiesewetter (CDU) gegenüber dem Handelsblatt. Es könne ein Versuch gewesen sein, Europa zu spalten, die Bevölkerung zu verunsichern und auf diesem Wege die Unterstützung der Ukraine zu schwächen. Nach der EU drohte nun auch die NATO, auf einen »vorsätzlichen Angriff« auf die kritische Infrastruktur ihrer Mitgliedstaaten mit einer »entschlossenen Reaktion« zu antworten. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell kündigte »eine robuste und gemeinsame Reaktion« an.
Mit den Anschlägen auf die beiden Nord Stream-Pipelines entfällt für die Erdgasversorgung Deutschlands und der EU theoretisch die »japanische Lösung«. Japan beteiligt sich zwar an den transatlantischen Russland-Sanktionen, spart allerdings den Erdgassektor komplett aus, um die existenzielle Versorgung von Industrie und Bevölkerung mit dem Rohstoff nicht zu gefährden. Die Konzerne Mitsui und Mitsubishi halten ihre Anteile an dem Förderprojekt Sachalin 2 – 12,5% bzw. 10% – unverändert aufrecht und tragen auch eine von Moskau angeordnete Umstrukturierung des Konsortiums mit.
Mehrere japanische Versorger haben mittlerweile ihre Kaufvereinbarungen mit dem Förderkonsortium erneuert. In japanischen Medien heißt es dazu, Tokio könne nun auf absehbare Zeit »eine stabile Energieversorgung erwarten«. Im August erwarb Japan sogar mehr als doppelt so viel russisches Flüssiggas wie im August des Jahres zuvor (German Foreign Policy, 28.9.2022).
Wer hatte ein Motiv, die Tat auszuführen? Die Unterstellung, dass russische Geheimdienste »Gazprom«-Pipelines zerstört haben, klingt nicht gerade logisch. Welchen Nutzen sollte die Russische Föderation davon haben, eine Pipeline, deren Bau 15 Milliarden Euro gekostet hat, ernsthaft zu beschädigen. Die Ventile zu schließen, ist einfacher. NS2 war aufgrund auf der politischen Entscheidung in Berlin, maßgeblich von den Grünen herbeigeführt, noch nicht einmal betriebsbereit.
Für Russland hat Nord Stream sowohl einen wirtschaftlichen als auch einen geopolitischen Vorteil. Aus wirtschaftlicher Sicht ist die Pipeline eine wichtige Quelle für Deviseneinnahmen. In geopolitischer Hinsicht verschafft sie Russland ein Druckmittel gegenüber Deutschland. Eine Sprengung bedeutet, dass Moskau wichtigen strategischen Einfluss auf die EU verliert.
Bekannt ist, dass Nord Stream 2 seit Jahren im Mittelpunkt einer US-amerikanischen Geostrategie steht, die auch eine wirtschaftliche Schwächung ihrer engsten Verbündeten in Kauf nimmt. Abgesehen von der Ukraine und Polen, die nicht zuletzt aufgrund des drohenden Verlusts ihres Transitland-Status von Beginn an Bedenken gegen das Großprojekt vorgebracht haben, waren die Vereinigten Staaten der schärfste Gegner von NS2. Zum jetzigen Zeitpunkt sind die USA der große Gewinner des Sabotage-Aktes, insbesondere die US-Wirtschaft und der mächtige texanische Energiesektor profitieren davon.
Dass die USA die EU und insbesondere Deutschland von den fossilen Energien Russlands abtrennen wollten, um eigenes Fracking-Gas nach Europa zu exportieren, wurde spätestens unter der Regierung von Donald Trump klar. So verabschiedete der US-Kongress 2017 in dessen Präsidentschaft den gegen Feindstaaten der USA – wie Iran, Nordkorea und Russland – gerichteten »Countering America’s Adversaries Through Sanctions Act« (CAATSA). Im Gesetz heißt es wörtlich: »Die US-Regierung legt größten Wert auf den Export amerikanischer Energieträger und auf die Schaffung amerikanischer Jobs.«
Im Jahr 2018 kam es zu erbitterten Konflikten zwischen der Trump-Regierung und Berlin, als Trump Sanktionen gegen deutsche Autoexporte nach Amerika verhängte und Berlin aufforderte, Nord Stream 2 abzuschalten. Mit dem »Protecting Europe’s Energy Security Act« (PEESA) folgte im Dezember 2019 das zweite Gesetz, das den Bau der Pipeline durch US-Sanktionen gegen die beteiligten Unternehmen zu verhindern versuchte.
Damals wurde dies noch als Übergriff, wenn nicht sogar als »völkerrechtswidriger Eingriff« in die Souveränität Deutschlands gedeutet, so der damalige Außenminister Sigmar Gabriel (SPD). US-Präsident Donald Trump habe sich »offenbar von der Idee verabschiedet, die EU-Staaten als verbündete Partner zu betrachten«, da er Europäer als »tributpflichtige Vasallen« behandele, kritisierte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich. »Diesen erpresserischen Methoden werden wir uns nicht beugen.«[2]
Der Führung in Washington geht es bis heute darum, die eigenen Fracking-Produzenten und damit die US-Industrie zu stärken, indem die Konkurrenten ihrer billigen Energieträger entledigt werden. Deutschlands Industrie langfristig an das viel teurere Flüssiggas zu binden, hätte zur Folge, ihre Erzeugnisse möglicherweise weniger konkurrenzfähig zu machen. Nun stehen die USA laut Spiegel kurz davor, Europas größter LNG-Lieferant zu werden.
Es war US-Präsident Biden, der in einer Pressekonferenz erklärte: »Wenn Russland einmarschiert, d.h. Panzer und Truppen die ukrainische Grenze passieren, dann wird es kein Nord Stream 2 mehr geben. Wir werden es zu einem Ende bringen.«[3] US-Außenminister Anthony Blinken plauderte in einem Pressegespräch mit seiner kanadischen Amtskollegin Mélanie Joly in Washington freimütig aus: »Wir sind jetzt der führende Lieferant von Flüssigerdgas für Europa (…) Es ist eine enorme Chance, die Abhängigkeit von russischer Energie ein für alle Mal zu beseitigen und damit Wladimir Putin die Bewaffnung der Energie als Mittel zur Durchsetzung seiner imperialen Pläne zu nehmen. Das ist sehr bedeutsam und bietet eine enorme strategische Chance für die kommenden Jahre.« (Nachdenkseiten, 4.10.2022) Blinken bringt damit zum Ausdruck, dass die teilweise Zerstörung der Pipelines die einzigartige Möglichkeit bietet, dass die USA, erstmals in der Geschichte ein quasi-LNG-Gasmonopol in Europa etablieren können.
Vermutlich wird man nie erfahren, wer der Schuldige ist. Eines scheint jedoch klar zu sein: Die Sprengstoff-Anschläge auf NS1 und NS2 stellen eine gefährliche Eskalation im Krieg dar. Der US-Ökonom Jeffrey Sachs schlägt deshalb vor, Europa sollte beide Kriegsparteien – Russland und Ukraine - drängen, sich an den Verhandlungstisch zu setzen, und die USA und das Vereinigte Königreich auffordern, einen Kompromiss, statt einen fortgesetzten Krieg zu unterstützen. Die Sicherheit der Ukraine sollte durch »eine europäische Sicherheitsvereinbarung gewährleistet werden, nicht durch die Erweiterung der NATO um die Ukraine, die einen Verhandlungsfrieden blockiert«.[4]
Anmerkungen
[1] Siehe Jakob Hanke Vela/Zoya Sheftalovich: Brussels Playbook. politico.eu 27.09.2022.
[2] Siehe Otto König/Richard Detje: Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 – US-Wirtschaftskrieg gegen »transatlantische Freunde«, Sozialismus.deAktuell 29.12.2019.
[3] https://www.youtube.com/watch?v=OS4O8rGRLf8. Siehe Otto König/Richard Detje: Energiedeals: Tausch der Abhängigkeit. US-Flüssiggas statt russischem Erdgas. Sozialismus.deAktuell, 3.10.2022.
[4] Jeffrey Sachs im Gespräch: Aus diesem Grund wurde Nord Stream wohl zerstört, Berliner Zeitung 6.10.2022.