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Eine Flugschrift
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21. Februar 2021 Otto König/Richard Detje: Autokrat Erdoğan gegen Wissenschaftsfreiheit

Boğaziçi leistet Widerstand

#BoğaziçiDireniyor – Boğaziçi leistet Widerstand, so lautet einer der Slogans der Studierenden der Bogazici Universität in Istanbul. Sie protestieren gemeinsam mit Professoren gegen den erneuten Eingriff des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan in die Wissenschaftsfreiheit.

Zum Jahresbeginn hatte der Autokrat per Notstands-Dekret den Finanzwissenschaftler Melih Bulut als neuen Rektor der Hochschule eingesetzt. Nicht etwa, weil er Erfahrung mitbringt, sondern weil er ein loyaler Parteisoldat der islamistisch-konservativen AKP ist.

Die Universität in Istanbul war Erdoğan schon länger ein Dorn im Auge, gehört sie doch zu einer der letzten liberalen Bastionen in der Türkei. Ziel der Maßnahme ist es deshalb, den widerstandsfähigen akademischen Lehrkörper und kritisch denkende Studierende auf Linie zu bringen. »Um zu lehren, brauchen wir Freiheit«, sagte Bülent Kücük, Professor für Soziologie an der Bogazici-Universität. »Wenn es diese Freiheit nicht mehr gibt, wir nicht über Marx, Weber und politisch tabuisierte Themen reden können, dann ergibt unsere Arbeit doch keinen Sinn mehr.« (Deutsche Welle, 06.01.2021)

Die autoritäre Intervention in der Bogazici-Uni ist jedoch kein Präzedenzfall: Seit Jahren werden Rektoren, unliebsame Dozenten und Verwaltungsmitarbeiter*innen durch linientreue AKP-Kader ersetzt. Vor der Bestellung von Melih Bulu hat Erdoğan an fünf weiteren Universitäten Direktoren per Dekret ernannt. Schon im vergangenen Jahr setzte er an 21 Universitäten Direktoren ein, darunter ehemalige Abgeordnete und Ortsvorsitzende der AKP. Akademische Qualität spielten bei diesen Ernennungen eine zweitrangige Rolle. Hinzu kommt, dass inzwischen zehn Prozent der staatlichen Hochschulen von islamischen Theologen geführt, so eine Studie der Universität Antalya.

Jetzt ist die Bosporus Universität an der Reihe: Seit 1980 wurde ihr Rektor aus den eigenen Reihen bestimmt. Dabei handelt es sich in der Regel um Personen, die sich im Unibetrieb bewährt haben, Forschung, Lehre, Studierende und die Strukturen kennen. Zu Recht kritisieren Lehrkräfte und Studenten die Ernennung per Dekret als Verstoß gegen die Werte der Universität. »Erdogan will uns als Universität zerstören – unseren wissenschaftlichen Geist, unsere Vielfalt, unsere Offenheit gegenüber der Welt«, gibt der emeritierte Soziologieprofessor Faruk Birtek zu Protokoll. »Wir stehen für alles, was er hasst.« (Die Wochenzeitung, 21.1.2021)

In der Türkei werden die staatlichen Universitäten vom Hochschulrat »Yükseköğretim Kurulu« (YÖK) kontrolliert, der im Jahr 1981 von der damaligen Militärregierung eingerichtet wurde. Damit wurden die Autonomie und Selbstverwaltung abgeschafft, die den Hochschulen nach der Verfassung 1961 zugestanden worden waren. Die Rektor*innen wurden von den Uni-Angestellten ausgewählt und vom YÖK dem Präsidenten vorgeschlagen. Dieser konnte die Empfehlung annehmen oder eine andere Person wählen. Nach dem »vermeintlichen« Militärputschversuch 2016 wurde das System erneut geändert: Per Notstandsdekret wurde die Autonomie der staatlichen Hochschulen endgültig ausgehebelt, wichtige Positionen innerhalb des YÖK wurden mit AKP-Anhänger*innen besetzt. Unter dem Vorwand, entweder den Islamprediger Gülen oder die PKK oder beide gleichzeitig zu unterstützen, verloren tausende Lehrkräfte ihre Arbeit und ihre Pensionsansprüche, um so den akademischen Lehrkörper gefügig zu machen. Es folgten die Verbannung der Evolutionstheorie aus den Schulbüchern und die schrittweise Islamisierung der Lehrpläne. Private Hochschulen wurden geschlossen und ihre Vermögenswerte konfisziert.

Rund 2.200 Akademiker unterzeichneten 2016 einen »Friedensaufruf«, in dem es hieß: »Wir, die Akademiker und Wissenschaftler dieses Landes, werden an diesem Verbrechen nicht teilhaben!« Den Wissenschaftler*innen, die die »Vernichtungs- und Vertreibungspolitik« der konservativ-islamistischen AKP-Regierung gegenüber der kurdischen Bevölkerung anprangerten, wurde daraufhin »Unterstützung und Propaganda für eine terroristische Vereinigung« vorgeworfen, hunderte von ihnen wurden festgenommen und angeklagt.[1] Einigen gelang die Flucht in europäische Staaten, bevor die Regierung ihre Pässe einziehen konnte.

Diese staatlichen Repressionen haben dazu beigetragen, dass in den letzten Jahren ein Exodus gut ausgebildeter Absolventen und hochkarätiger Wissenschaftler nach Europa und in die USA eingesetzt hat. Nur so ist zu verstehen, dass der Unternehmensverband TÜSIAD aktuell befürchtet, dass das repressive Vorgehen gegen die Studierenden in Istanbul dazu führen könnte, dass diese die Türkei verlassen und somit wertvolles »Humankapital« verloren geht. Der TÜSIAD plädierte deshalb in einem offenen Brief dafür, die Forderungen der Studierenden ernst zu nehmen und mahnte die Regierung, einen Kompromiss einzugehen.

Seit Wochen protestieren Studierende und Lehrende auf dem Campus der Bogazici-Uni, stellen sich demonstrativ mit dem Rücken vor den Sitz des Rektorats. »Wir wollen keinen Treuhänder-Rektor«, lautet ihre Botschaft. Sie setzen die dekretierte Ernennung Bulus mit der Absetzung der gewählten HDP-Bürgermeister*innen in den kurdisch geprägten Landesteilen und ihren Ersatz durch AKP-Zwangsverwalter gleich. Die Demonstranten mobilisieren sich über die sozialen Netzwerke. #KabulEtmiyoruzVazgecmiyoruz (Das akzeptieren wir nicht, wir lassen nicht nach) ist einer von den Hashtags, die auf Twitter Verbreitung gefunden haben. Es sind ihre kreativen Kundgebungen, die Videos, die sie in sozialen Medien posten – die eine breite öffentliche Aufmerksamkeit finden. Akademische Kräfte anderer Universitäten solidarisieren sich mit ihnen.

Um diese wachsende Solidarität zu unterbinden, setzt die AKP/MHP-Regierung auf Polizeigewalt: Zahlreiche im Internet kursierende Videos zeigen, wie bewaffnete Hundertschaften der Polizei mit Wasserwerfern, Tränengas, Schlagstöcken gegen die Protestierenden vorgehen; wie schwerbewaffnete Antiterroreinheiten Türen von Studierendenwohnungen und Wohnheimen eintreten, junge Menschen festnehmen und wie Schwerverbrecher behandeln. Seit Anfang Januar wurden mehr als 500 Menschen in 38 Provinzen festgenommen, wie das türkische Innenministerium mitteilt, rund einhundert wurden in Gefängnisse gesteckt. Die Festgenommenen wurden von den Sicherheitsbehörden gedemütigt: Sie wurden nackt durchsucht und LGBTQI-Personen mit Vergewaltigung und Tod bedroht, berichteten Studierende und Anwälte nach Angaben der Nachrichtenagentur ANF auf einer Presse-konferenz in den Räumen des Menschenrechtsvereins IHD.

In Istanbul weiteten sich die studentischen Proteste vom Uni-Campus auf den asiatischen Stadtteil »Kadiköy« der Metropole aus, in dem die linken Oppositionsparteien CHP und HDP 2019 bei den Kommunalwahlen 80 Prozent der Stimmen erringen konnten. Die Bewohner*innen dieses traditionell säkularen Istanbuler Viertels unterstützten die Demonstranten, schlugen um 21 Uhr zu Beginn der Corona bedingten Ausgangssperre laut auf Töpfe und Pfannen, bekundeten aus offenen Fenstern mit Applaus ihre Solidarität, öffneten die Häuser und boten fliehenden Student*innen Unterschlupf vor der Polizei.

Erinnerungen wurden wach an die Proteste der Jugend im Istanbuler Gezi-Park vor acht Jahren. Jeder Bezug auf Gezi macht Erdoğan sichtlich nervös. Für den autokratisch herrschenden Präsidenten sind die jungen Demonstranten keine Studierenden, sondern »Terroristen« und »giftige Schlangen, deren Kopf zermalmt werden muss«. Je weiter Erdoğans Umfragewerte abstürzen, umso energischer schlägt er um sich, lässt er jeden Widerspruch niederknüppeln und jegliche Opposition ersticken.

Nach der Tötung entführter türkischer Soldaten, Polizisten und Geheimdienstbeamte im Nordirak[2] wurden bei einem Großeinsatz in 40 türkischen Provinzen mehr als 700 Menschen festgenommen, ihnen werden – wie könnte es anders sein – Verbindungen zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK vorgeworfen, teilte das Innenministerium in Ankara mit. Unter den Festgenommenen sind mindestens ein Provinzvorsitzender und zwölf leitende Funktionäre der Partei der Völker (HDP). Im Zusammenhang mit den 13 tot aufgefundenen Türken twitterte Erdogans Kommunikationsdirektor Fahrettin: »Die HDP ist eine politische Marionette, die auf Befehl der PKK handelt.« Devlet Bahceli, Chef der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), aus dessen Reihen immer öfter die Forderung nach einem Verbot der HDP kommt, sagte nach der Militäroperation im Nordirak mit Blick auf die HDP: »Danach wird nichts mehr so sein wie vorher. Jeder sollte sich seine Seite aussuchen. Entweder Verrat oder Führung. Entweder Verdammnis oder das Volk.«

Wenn der Autokrat im »1000-Zimmer-Palast« in Ankara über die Türkei als einem wirtschaftlich starken, angesehenen und hochtechnisierten Staat schwadroniert, erkennen viele Bürger*innen ihr Land nicht wieder. »Wir werden den Platz einer mächtigen und unabhängigen Türkei nicht nur auf der Erde, sondern auch im All sichern«, sagte Erdoğan jüngst bei der Vorstellung eines türkischen Raumfahrtprogramms.[3] Mit der Lebenswirklichkeit der Bevölkerung, die unter hoher Inflation und steigender Arbeitslosigkeit leidet, hat dies nichts zu tun. Offiziell liegt die Arbeitslosenquote bei knapp 13%, Gewerkschaften kritisieren jedoch, dass die Statistikbehörde die Unterbeschäftigten und all jene nicht mitzählt, die es aufgegeben haben, nach einem Job zu suchen. In Wirklichkeit seien nicht vier Millionen Türken ohne Arbeit, wie die Regierung sage, sondern zehn Millionen, so der Gewerkschaftsbund DISK.

Erdoğan versucht die Proteste der Studenten auch deshalb zu delegitimieren, weil er perspektivisch befürchtet, dass sie ihm bei den nächsten Wahlen Stimmen kosten könnten. Fakt ist: Bei den Wahlen 2023 werden mehr als fünf Millionen Menschen erstmals wahlberechtigt sein, ein wesentlicher Teil dieser Jungwähler wird nicht für ihn stimmen. Verschiedene Umfragen bestätigen die Abneigung der Generation »Z« gegenüber den AKP- »Idealen«. Laut einer Umfrage des Instituts »Gezici Araştırma Merkezi« in 2020 betrachten 76,4% der Befragten Rechtsstaatlichkeit und Demokratie als absolute Priorität. (DW, 06.02.2021) Da Erdogan der Generation Z außer politischem Druck kaum noch etwas zu bieten hat, träumen. 76% der jungen Türk*innen von einer Zukunft im Ausland, wie eine Studie des Meinungsforschungsinstituts MAK ergeben hat.

Angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen in der Türkei haben Parlamentarier*innen aus den 47 Mitgliedsländern des Europarates das AKP/MHP-Regierungsbündnis im Zusammenhang mit den Protesten der akademischen Kräfte aufgefordert, die Vorgaben zur Einhaltung von Menschenrechten zu beachten »Die türkische Regierung muss sofort Maßnahmen dagegen ergreifen, die Prinzipien der akademischen Freiheit und institutionellen Autonomie einzuschränken«, heißt es in dem Aufruf. Ungeachtet dessen starteten Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) und Rüstungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) eine Charme-Offensive für die Türkei. Der »liebe Heiko« schwärmte nach seinem Treffen in Ankara mit dem »lieben Mevlüt«, dem türkischen Außenminister Cavusoglu, von »positiven Signalen aus der Türkei«. Auch AKK zeigte sich beim Besuch ihres türkischen Amtskollegen Hulusi Akar in Berlin zuversichtlich, dass sich das Verhältnis zwischen der türkischen Regierung und der Bundespolitik entspannen könnte.

Positive Signale? Die Türkei entfernt sich immer mehr von Rechtsstaatlichkeit. Der Terrorismusbegriff wird über alle Maßen instrumentalisiert. Die Gefängnisse sind mit politischen Gefangenen überfüllt. Studierende werden niedergeknüppelt, religiöse Minderheiten gedemütigt und verfolgt. Durch die zunehmende Islamisierung ist die Zahl der Femizide stark angestiegen: Allein in 2020 gab es über 300 Frauenmorde. Diese permanenten Menschenrechtsverstöße werden von der GroKo in Berlin stillschweigend hingenommen, weil für sie die Einbindung des Landes in die Nato im Vordergrund steht. Auch deshalb werden die Rüstungsexporte in die Türkei nicht gestoppt.

Anmerkungen

[1] Siehe auch Otto König/Richard Detje: Türkei – Aufruf zu Friedensgesprächen als »Verbrechen« verfolgt. »Staatsfeind« durch eine Unterschrift, Sozialismus.deAktuell vom 21.12.2017.
[2] Wie die im Nordirak gefangen gehaltenen 13 Türken starben, ist unklar. Sie seien in einer Höhle in dem Gebiet Gara nahe der türkisch-irakischen Grenze, in dem die türkische Armee seit Mittwoch letzter Woche Angriffe gegen die PKK durchführt, tot gefunden worden. Nach Angaben der türkischen Militärs wurden die Personen getötet, als ein Sonderkommando eine Höhle mit dem Ziel angriff, die Gefangenen zu befreien. Nach Darstellung der PKK hat die türkische Luftwaffe ein Camp bombardiert, von dem sie wusste, dass dort auch Gefangene festgehalten würden. Das sei keine »Rettungsaktion«, sondern eine »Zerstörungsaktion« gewesen, verbreitete die PKK-nahe Nachrichtenagentur Firat News (taz, 15.02.2021). Eine objektive Aussage darüber, was im Gefangenenlager in den Gare-Bergen wirklich passiert ist, könnte nur eine unabhängige, internationale Untersuchungskommission vor Ort und eine Obduktion der 13 Leichen feststellen, wie die HDP fordert. Erdogan bezeichnet alle, die dies fordern, als Terroristenhelfer. Anscheinend befürchtet die AKP-Regierung, dass unliebsame Ergebnisse zum Vorschein kommen könnten.
[3] Siehe Redaktion Sozialismus: Erdogans neues Lieblingsprojekt. Eine türkische Mondmission?, Sozialismus.deAktuell vom 17.2.2021.

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