17. November 2020 Otto König/Richard Detje: Bolivien – die Linke kehrt an die Macht zurück
»Das Volk hat gewonnen«
Es war ein Moment der Hoffnung – nicht nur für Bolivien, sondern für Lateinamerika: Obwohl die »Bibel schwingenden« Putschisten vor einem Jahr verkündet hatten, dass »die Wilden nie wieder an die Macht« kommen dürften, wurden am 8. November der neu gewählte linke Präsident Luis Arce und sein Stellvertreter David Choquehuanca in ihren Ämtern vereidigt.[1]
Bolivien wird erneut von einem demokratisch gewählten Präsidenten regiert, dessen Präsidentenschärpe wieder die »Wiphala-Flagge« trägt, das Symbol für die indigene Bevölkerung Boliviens. Unter der rechts-konservativen Putschregierung waren die Symbole der Indígenas, die etwa 62% der gesamten bolivianischen Bevölkerung ausmachen, aus den staatlichen Einrichtungen entfernt worden.
Luis Arce appellierte in seiner Antrittsrede an die Bevölkerung, »Spaltung, Hass, Rassismus und Diskriminierung« zu überwinden. Er glaube an ein besseres Bolivien, »indem wir unter der Beteiligung und dem Mitwirken aller Bolivianer*innen Seite an Seite in Richtung eines friedlichen Zusammenlebens gehen werden«. Dieses soll durch »Prinzipien der Selbstbestimmung der Völker, der Nichteinmischung, der Blockfreiheit und der vollen rechtlichen und politischen Gleichheit« geprägt sein.
Der 57 Jahre alte Wirtschaftswissenschaftler Arce ist als Kandidat der Bewegung zum Sozialismus (MAS) am 18. Oktober mit 55,2% der Stimmen, gefolgt von seinen Herausforderern, dem liberal-konservativen Carlos Mesa (31,5%) und dem ultrarechten Luis Fernando Camacho (14%) zum 67. Präsidenten Boliviens gewählt worden. Der Abstand zum Zweitplatzierten Mesa betrug beeindruckende 25 Prozentpunkte. Die Linkspartei MAS erkämpfte laut der Obersten Wahlbehörde OEP gleichzeitig 73 der 130 Abgeordnetenmandate im Unterhaus (»Cámara de Diputados«) und stellt im Oberhaus (»Cámara de Senadores«) künftig 21 der 36 Senatoren. Und es gibt ein weiteres Positivum: 50% der neuen Abgeordneten sind Frauen.
Mit diesem fulminanten Wahlsieg hat die bolivianische Bevölkerung ihrer politischen Elite mehrere Lektionen erteilt. Zum einen ist es eine klare Absage an die rechts-religiöse Interimsregierung von Präsidentin Jeanine Áñez, die im November 2019 nach den ungerechtfertigten Vorwürfen des Wahlbetrugs[2] und dem Putsch gegen Evo Morales, die Macht ergriffen hatte. Die de-facto-Regierung bediente sich der Unterdrückung, des Blutvergießens an den Indigenen und bewirkte einen erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Rückschlag, der, zusammenfallend mit der COVID-19-Pandemie, das Land in eine tiefe Krise stürzte. Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzt, dass die bolivianische Wirtschaft im Jahr 2020 um 7,9% schrumpft.
Die Übergangsregierung, die nur die Aufgabe hatte, Neuwahlen vorzubereiten, traf jedoch eine Reihe politischer Entscheidungen, die weit über ihr Mandat hinausgingen und einer reaktionären Agenda folgten: Botschaften in Nicaragua und im Iran wurden geschlossen, Strukturverträge zwischen der nationalen Erdölgesellschaft Boliviens und der brasilianischen Erdölgesellschaft Petrobras wurden unterzeichnet, die die bolivianische Wirtschaft in den nächsten sechs Jahren beeinträchtigen werden, und ohne parlamentarische Genehmigung wurde ein Kredit beim IWF abgerufen.
Zum anderen besteht kein Zweifel daran, dass die physische und symbolische Gewalt gegen die indigene Bevölkerung, die in den Massakern von Sacaba und Senkata[3] sowie der Verbrennung von Wiphalas zum Ausdruck kam, entscheidend dazu beigetragen hat, dass die indigene Mehrheit geschlossen für Arce stimmte. Sie wollten nicht, dass die alten, kolonialen Eliten zurückkehren. Die offen rassistische weiße Bourgeoisie in den Departamentos Santa Cruz oder Beni, die den durch das Militär erzwungenen Rücktritt von Evo Morales als »Teufelsaustreibung gefeiert« hatte, musste schmerzlich begreifen, dass wer in Bolivien regieren will, die indigene Bevölkerung repräsentieren oder zumindest einbeziehen muss.
Letztlich war die Mobilisierung der Bevölkerung entscheidend. Die Añez-Regierung ließ unter dem Vorwand der Covid-19-Pandemie die Neuwahlen dreimal verschieben, bis die organisierte Bevölkerung demonstrativ sagte: »Es reicht!« Tausende Gewerkschafter, Aktivist*innen von Bauern- und Volksorganisationen erkämpften mit Streiks und der Blockierung von Verbindungswegen im ganzen Landes, dass der Wahltermin im Oktober gesetzlich festgeschrieben wurde.
Das bolivianische Volk hat bewiesen, dass Vernunft, Würde und Kampfgeist weder durch einen Militärputsch noch durch Repressionen der Regierung unterdrückt werden können. Das Wahlergebnis hat nicht nur Auswirkungen für Bolivien, wo es ein wichtiger Schritt zur Wiederherstellung der Demokratie ist, sondern auf die gesamte lateinamerikanische Region, was Demokratie, nationale Unabhängigkeit, wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt und den Kampf gegen Rassismus betrifft.
Die urbane Mittelschicht und die Indigenen verbinden mit dem neuen Präsidenten einen wirtschaftlichen Aufschwung, bescheidenen Wohlstand, die Zähmung der Inflation und eine merkliche Verringerung der Armut. Mit dem 57 Jahre alten Ökonom Luis Arce – unter dessen Mandat als Wirtschaftsminister – hatte Bolivien eine der längsten Wachstumsphasen in Lateinamerika erlebte; er gilt als kompetenter Politiker, um das schwer von der Corona-Krise getroffene Land auch ökonomisch wieder zu konsolidieren. Unter seiner Ägide als Wirtschaftsminister in der 14-jährigen Amtszeit von Evo Morales setzte Bolivien auf eine Politik der Nationalisierung seiner Öl- und Gasvorkommen. Der Rohstoffboom erlaubte dem Land eine großzügige Umverteilungspolitik, wodurch die Armut sank. Das Pro-Kopf-Einkommen verdreifachte sich, die Währung blieb stabil und die extreme Armut sank von 38 auf 16%.
Arce und sein Vize Choquehuanca stehen nun vor immensen Aufgaben. Zunächst gilt es das wirtschafts- und sozialpolitische Trümmerfeld des Putschisten-Regimes aufzuräumen. Die Krise hat die auf den Export von Rohstoffen basierende Wirtschaft um Jahre zurückgeworfen, Arbeitsplätze vernichtet und die Armut wieder verstärkt. Das Gesundheitswesen wurde – auch durch den politisch motivierten Rauswurf kubanischer Ärzte – nahezu zerstört und das Bildungssystem liegt am Boden. »Der derzeitige Zustand Boliviens ist ein Ergebnis der von den Rechten durchgesetzten Klasseninteressen der Reichen«, konstatierte Arce in einem BBC-Interview.
Die MAS-Regierung wird Prioritäten setzen müssen. So geht es darum, die zu Lasten der Bevölkerung beschlossenen Maßnahmen rückgängig zu machen wie die Kürzung von Sozialprogrammen und das begonnene Verscherbeln von Rohstoffen wie Lithium an multinationale Konzerne. Nicht weniger als 256 Vorschläge umfasst das Programm zur Verbesserung der Lage in Bolivien, das Luis Arce zu Beginn seiner Präsidentschaft vorgelegt hat: Bonuszahlungen zur dringenden Linderung von Hunger und Armut, eine Steuer auf große Vermögen, Industrialisierung der riesigen Lithium-Vorkommen im Salzsee Uyuni sowie die Sanierung des ruinierten Gesundheits- und Bildungswesens. Themen wie eine gute Ausbildung und Arbeit, Umweltschutz und ein Ende der Gewalt gegen Frauen und Mädchen gewinnen zudem an Bedeutung.
Ebenso wichtig wird die Reorganisierung von Polizei und Militär sein, die den Putsch im vergangenen Jahr in großen Teilen unterstützt haben. Auch wenn der Schlag bei den Wahlen die rechts-konservativen politischen Eliten geschwächt haben mag, steht fest, dass sie nicht akzeptieren werden, dass das bolivianische Volk seine Zukunft in die eigenen Hände nimmt. Es wäre naiv zu glauben, dass sie das Ergebnis jetzt ohne Weiteres demokratisch akzeptieren werden.
Außenpolitisch will sich Arce für eine Stärkung der lateinamerikanischen Staatenbündnisse wie der UNASUR (Union südamerikanischer Nationen) und der CELAC (Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten) engagieren, und die regionale Integration, die von verschiedenen progressiven Regierungen des Kontinents vor rund 15 Jahren begonnen wurde, wieder vorantreiben. Die von Áñez abgebrochenen diplomatischen Beziehungen zu Kuba, Venezuela und dem Iran sollen wieder aufgenommen und das belastete Verhältnis zu Argentinien und Mexiko verbessert werden. Bolivien werde mit ihm als Präsidenten an der Seite der progressiven Regierungen und Bewegungen stehen, so Arce. Diese Botschaft signalisiert, wie wichtig die Umkehr des »Regime change« nicht nur für den Andenstaat, sondern für die gesamte Region ist.
»Vor einem Jahr erlebte Bolivien einen der schlimmsten Momente seiner Geschichte, jetzt ist die Demokratie wiederhergestellt«, sagte Evo Morales, als er einen Tag nach der Vereidigung von Luis Arce und David Choquehuanca sein Exil in Argentinien beendete. Tausende Sympathisant*innen bereiteten dem ehemaligen bolivianischen Präsidenten und Vorsitzenden der Regierungspartei Movimiento al Socialismo einen triumphalen Empfang, als er die Grenze nach Bolivien zu Fuß überquerte. Argentiniens Mitte-Links-Präsident Alberto Fernández hatte Morales auf die Grenzbrücke in der argentinischen Stadt La Quiaca begleitet. Bevor sich die aus mehreren hundert Fahrzeugen bestehenden Karawane durch mehrere Regionen bis in sein Heimatdepartment Cochabamba in Bewegung setzte, betonte Morales: »Das Volk hat gewonnen, aber wir müssen wachsam bleiben.«
Anmerkungen:
[1] Der Ablauf der Amtseinführung wurde von mehreren Tausend Aktivist*innen sozialer Bewegungen, indigener Organisationen und Mitgliedern des Gewerkschaftsdachverbands (COB) gesichert. Nach dem missglückten Sprengstoffanschlag auf das MAS-Wahlkampfbüro am 6. November in La Paz wurden weitere Angriffe von gewaltbereiten Oppositionellen befürchtet. »Wir sind auf der Straße, weil wir wissen, dass wir viel erreichen können. Dazu gehört auch, die Amtsübergabe zu verhindern«, hatte der rechtsradikale Präsidentschaftskandidat Luis Camacho aus Santa Cruz zum Widerstand aufgerufen.
[2] Die Ergebnisse der Wahlen in dem Andenland machten die Farce des sogenannten Wahlbetrugs deutlich, die von der Führung der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten), der Lima Gruppe und den USA nach den Wahlen 2019 inszeniert wurde, um den Militärputsch zu legitimieren. Siehe auch: Otto König/Richard Detje: Präsidentschafts- und Parlamentswahlen erneut verschoben. Boliviens Putsch-Regierung verschärft politische Verfolgung, Sozialismus Aktuell vom 10.8.2020.
[3] Am 15. November 2019 marschierten MAS-Aktivist*innen zur viertgrößten Stadt des Landes, Cochabamba, um die Absetzung der illegitimen Übergangsregierung zu fordern. In Sacaba wurden sie von Polizei und Militär mit tödlicher Gewalt aufgehalten. Bilanz: zehn Tote. Vier Tage später in Senkata in der Stadt El Alto durchbrachen Polizei und Militär eine Straßenblockade, damit Transporte mit Treibstoff und Flüssiggas eine Fabrikanlage verlassen konnten. Als die Protestierenden einen Teil der Begrenzungsmauer der Fabrik einrissen, schossen Polizei und Militär: Erneut gab es zehn Tode und mehr als 100 Verletzte. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) stufte die beiden Vorfälle nach einer Untersuchung vor Ort als Massaker an der Zivilbevölkerung ein. Eine Untersuchungskommission des bolivianischen Parlaments zu den Massakern ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die tödlichen Projektile aus Waffen des Militärs und der Polizei stammten. Sie empfiehlt, Gerichtsverfahren gegen die Interimspräsidentin Jeanine Áñez und ihr Kabinett als Hauptverantwortliche zu eröffnen (Amerika 21, 28.10.2020).