19. Januar 2020 Björn Radke: Ein neuer Gesellschaftsvertrag als Lösung?
Die Agrarkrise
Der Beginn der diesjährigen Grünen Woche stand im Zeichen der Proteste gegen die bestehende Agrarpolitik sowohl des Bundes als auch der EU. Die in Berlin stattfindende Landwirtschaftsmesse gilt als die größte Veranstaltung dieser Art weltweit.
Während ca. 27.000 Menschen dem Aufruf des Bündnisses »Wir haben es satt« (WHES) für eine »bäuerlich-ökologischere Landwirtschaft und artgerechte Tierhaltung, für insektenfreundliche Landschaften und globale Solidarität« folgten, sind in den Tagen zuvor bundesweit wieder tausende Traktoren dem Aufruf des Aktionsbündnisses »Land schafft Verbindung« (LsV) gefolgt, auch wenn die Teilnehmerzahlen vom November letzten Jahres nicht erreicht wurden. In Nürnberg fand die größte Versammlung von LsV mit ca. 5.000 Teilnehmer*innen und 2.500 Traktoren statt. Zwei Traktoren fielen dabei durch Banner mit in rechtsextremen Kreisen verwendeten Symbolen auf. Die Organisatoren distanzierten sich umgehend.
Anders als im November bemühten sich die Initiatoren aber um Gemeinsamkeit im Protest trotz nicht zu übersehender Differenzen auch innerhalb des LsV. Ursprünglich hatte deren Sprecher, Dirk Andresen, mit der Demo vom Vortag die Absicht verbunden, dem Aktionsbündnis »Wir haben es satt« etwas entgegenzusetzen. Er will der ökonomischen Perspektive der Landwirte mehr Gewicht geben. Diese komme derzeit, vor dem Hintergrund der Debatten um Umweltschutz, Klimawandel und Artensterben, zu kurz. Die Einladung vom Organisationsteam von WHES hatte man daher zunächst abgelehnt. Die auch von Andresen vertretene Auffassung, das Messstellennetz zur Nitratbelastung im Grundwasser in Frage stellen und deswegen ein Moratorium für die Düngeverordnung zu fordern, hält Tilo von Donner nicht für zielführend. Er sei zwar auch kein Freund der Düngeverordnung, allerdings müsse man sich der Thematik stellen. Auf dessen Initiative hat es dann seitens LSV die Annäherung an WHES gegeben.
Dirk Andresen ruderte zurück und erklärte, er wolle nun den Dialog zwischen beiden Bewegungen fördern. Vor allem vereine beide Bewegungen der Wunsch, regionale Landwirtschaft zu stärken. Auf der Kundgebung des LsV in Berlin am Tag vor der »Wir haben es satt«-Demo übergab er das Wort an Tilo von Donner, der festhielt: »Keine der gewählten demokratischen Parteien im Bundestag hat eine Idee, wie die Landwirtschaft der Zukunft aussehen soll.« Landwirtschaft und NGOs bekämen Brocken hingeworfen, die Politik hingegen, so von Donner, »schwimmt dazwischen ruhig vor sich hin und macht was sie will«. Für zukunftsfähige Betriebe, die an die nächste Generation Landwirte weitergegeben werden können, wolle sich »Land schafft Verbindung – Deutschland« auf der Verbraucherdemo einsetzen und in den Dialog gehen. Auch Georg Janßen, Bundesgeschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft und Leiter der WHES-Demo, sprach bei der LSV-Demo von der Bühne.
»Wir werden den Dialog weiter suchen. Wenn die Zukunftskommission der Bundesregierung – an der wir beteiligt sind – Erfolg hat, dann müssen wir auch mit den Wünschen der NGOs und Kritiker Schnittmengen bei den Kriterien finden. Ökonomisch sinnvolle Maßnahmen müssen dann mit den ökologischen verknüpft werden«, so die Position eines weiteren Sprechers. Nach Ansicht des LsV vertritt WHES »eine spezielle Form der Landwirtschaft, wir aber vertreten die gesamte Landwirtschaft.« LsV verstehe sich als Mediator zwischen den Verbänden, man wolle die Landwirtschaft einen, was allerdings unglaublich schwierig sei, alle Interessen zu vertreten.
Auch der Sprecher des größten Umweltverbands NABU, Jörg-Andreas Krüger, sieht die Dringlichkeit eines Dialogs mit den Bauern-Initiativen. »Wir müssen gemeinsam nach Lösungen für Probleme wie die Belastung des Wassers mit dem potenziell umwelt- und gesundheitsschädlichen Nitrat aus Düngern suchen. Es reicht nicht, einfach nur neue Vorschriften anzuordnen. Wir wollen auch um Akzeptanz für Landwirte werben.«
Keinen Zweifel lässt er aber über bestehende Differenzen: Zu der Ablehnung einer Verschärfung der Düngemittelverordnung im Agrar-Paket der Bundesregierung durch den LsV verweist Krüger darauf, dass seit mehr als 30 Jahren über den Düngemitteleinsatz und Nitrat im Grundwasser geredet wird. »Es gibt Unmengen wissenschaftlicher Studien, die den Insektenschwund belegen. Wenn man das leugnet, schließt man sich aus der Diskussion aus. Da sind auch die landwirtschaftlichen Verbände gefordert, zu sagen: Ja, wir wissen, dass das ein Problem ist. Sonst passiert es so wie bei der Düngemittelverordnung: Da ist ein bekanntes und klar belegtes Thema, das zuletzt sechs Jahre wissentlich und wollentlich nicht angegangen und verschleppt worden ist. Jetzt sind für die Landwirtschaft harte Schritte nötig, um millionenschwere Strafzahlungen zu verhindern, weil Deutschland gegen die EU-Nitratrichtlinie verstoßen hat.«
In der Tat steht die Verschärfung der Düngeverordnung im Zentrum der Proteste der Bauernverbände und des Deutschen Bauernverband (DVB).[1] Ende September hatte sich das Bundeskabinett auf das »Agrarpaket« geeinigt: Unkrautvernichtungsmittel und bestimmte Insektengifte werden in den meisten Naturschutzgebieten verboten. Ein Teil der Agrarsubventionen soll Umweltprojekte von Landwirten finanzieren. Außerdem dürfen diese in sehr nitratbelasteten Gebieten nur noch weniger düngen.
Die Pläne des Landwirtschaftsministeriums liefen darauf hinaus, dass die Pflanzen nicht mehr genügend Dünger bekämen. Aus seiner Sicht besteht das Problem vor allem darin, dass an den falschen Stellen gemessen wird. Die Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft Julia Klöckner (CDU) hält das System zwar auch für verbesserungsfähig, sie warnte die Bauern aber auch: »Man wird nichts wegmessen können, was da ist.« Die EU fordert von Deutschland Gegenmaßnahmen gegen die zu hohen Nitratwerte. Andernfalls drohen Bußgelder von 850.000 Euro am Tag. Auch Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) hat die deutschen Landwirte zum Dialog eingeladen, aber auch Bereitschaft zur Veränderung gefordert. Sie forderte einen Gesellschaftsvertrag von Landwirtschaft und Umwelt.
Ein Vorschlag, wie solch ein Gesellschaftsvertrag aussehen könnte, liegt bereits in Buchform vor: In einem 295 Seiten starken Text unter dem Titel »Ein neuer Gesellschaftsvertrag für eine nachhaltige Landwirtschaft – Wege zu einer integrativen Politik für den Agrarsektor«[2] werden die Rahmenbedingungen umfassend benannt. Deshalb gebe ich an dieser Stelle eine etwas längere Passage wieder:
»Die Landwirtschaft in Deutschland befindet sich im Umbruch. Liberalisierung und Marktöffnung, neue Technologien sowie die steigende Nachfrage einer wachsenden Weltbevölkerung eröffnen enorme Entwicklungsmöglichkeiten. Gleichzeitig wachsen die Herausforderungen. Landwirtinnen und Landwirte sehen sich angesichts steigender Konkurrenz zu immer neuem betrieblichem Wachstum mit hohen Investitionsrisiken gezwungen. Weiterhin hat Deutschland schon heute Schwierigkeiten, europäische Vorgaben für den Natur- und Umweltschutz im Agrarbereich einzuhalten. Die Belastung des Grundwassers mit Nitrat ist in vielen landwirtschaftlich geprägten Regionen zu hoch. Gleichzeitig steigen die gesellschaftlichen Ansprüche an Transparenz, Tierwohl, Umweltschutz und Erhalt der biologischen Vielfalt. Hinzu kommen die Auswirkungen des internationalen Agrarhandels auf Entwicklungs- und Schwellenländer mit oft problematischen Folgen für Landnutzung, Umwelt, Ernährungssicherheit und kleinbäuerliche Strukturen. So verändert sich die Rolle der bäuerlichen Betriebe für die ländliche Entwicklung – als Einkommensquelle, soziales Rückgrat und Landschaftsgestalter. Angesichts der Problemlagen braucht die Agrarpolitik in Deutschland und Europa einen neuen Ansatz, der sowohl Arbeitsplätze in der Landwirtschaft sichert, als auch die ökologische Basis der Agrarproduktion erhält und die Erwartungen der Verbraucherinnen und Verbraucher an eine nachhaltige und gesunde Landwirtschaft erfüllt.
Mit ihren alljährlichen Milliardenausgaben ist die aktuelle Förderpolitik jedoch vorwiegend als sektorale Einkommenspolitik angelegt – mit oft negativen Folgen für Umwelt- und Naturschutz. Ein wesentlicher Teil der Mittel verbleibt dabei gar nicht bei den Landwirtinnen und Landwirten, sondern fließt über steigende Land- und Pachtpreise an außerlandwirtschaftliche Grundbesitzer. Nur ein kleiner Teil der staatlichen Agrarzahlungen dient der Vergütung von Gemeinwohlleistungen. Den negativen Auswirkungen der gängigen Produktionsverfahren auf Boden, Wasser, Klima, Landschaftsbild, Luft und biologische Vielfalt wird damit nicht hinreichend entgegengewirkt.
Es fehlen konsequente Strategien, um die Gemeinwohlleistungen der Landwirtschaft unter den Bedingungen offener Märkte und des schnellen technologischen und gesellschaftlichen Wandels zu sichern. Daher brauchen wir in Deutschland dringend eine zukunftsweisende Verständigung darüber, was die Gesellschaft von der Landwirtschaft erwartet und welche Unterstützung die Landwirtinnen und Landwirte im Gegenzug dafür erwarten dürfen.«
Tatsächlich wäre eine Abkehr der bisherigen Subventionspolitik der EU vonnöten, und ein Systemwechsel in der Agrarwirtschaft unumgänglich.[3] In einer ersten Stellungnahme von DBV und LsV als Teilnehmer der von Kanzlerin Angela Merkel angeregten »Zukunftskommssion« herrschen allerdings unscharfe und formelhafte Sätze vor: »Die Arbeit der Zukunftskommission soll geleitet werden vom Grundgedanken, dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Deutschland und der EU auch für den Sektor Landwirtschaft gilt. Das bedingt eine Eigentumsgarantie und das Recht des Einzelnen, sich frei wirtschaftlich zu entfalten. Wir setzen voraus, dass die freie Verfügbarkeit der Eigentümer über ihren Grund und Boden sowie über ihr Kapital gewahrt bleiben. Wir stehen zu einer auf Ausbildung und Wissenschaft basierenden Landwirtschaft. Gleichzeitig treten wir für eine umweltschonende, nachhaltige, tierschutzgerechte, zukunftsorientierte, vielfältig strukturierte unter marktwirtschaftlichen Bedingungen leistungs- und wettbewerbsfähige Landwirtschaft bei Chancengleichheit aller Landwirtschaftsbetriebe ein.«
Damit wird das Festhalten an der bisherigen Strukturpolitik mit Förderung der Fläche verfestigt und fällt weit hinter die Positionen des Vorschlags für einen »Gesellschaftsvertrag« zurück. Die aktuelle flächen- und produktionsbezogene Subventionierung vor allem der Direktzahlungen verhindert eine stärkere Nachhaltigkeit, denn die Pachtpreise landwirtschaftlicher Flächen orientieren sich regional an den Subventionshöhen der Direktzahlungen. Das heißt, dass Landwirte, die Acker- oder Grünland pachten (also nicht Eigentümer sind), zumindest in landwirtschaftlichen Gunstlagen einen wesentlichen Anteil der Direktzahlungen an den Flächeneigentümer abgeben müssen. Dies stellt im Grunde einen Umverteilungsmechanismus dar, bei dem Fördermittel des Agrarhaushaltes in nicht-landwirtschaftliche Zwecke bzw. zu Eigentümern fließen, die selbst nicht in der Landwirtschaft tätig sind.
Zuletzt erhielten die deutschen Landwirte rund 6 Milliarden Euro im Jahr aus Brüssel. Der größte Teil bemisst sich allein nach der Fläche eines Hofes. Das verstärkt nicht nur den Trend zu immer größeren Betrieben, sondern treibt auch die Bodenpreise in die Höhe. Finanzinvestoren kaufen in großem Stil Ackerland auf. Das Nachsehen haben konventionell wirtschaftende Landwirte, die gerne auf Bio umstellen würden, dafür aber mehr Fläche benötigen. Die Agrarförderung der EU konnte den Verlust landwirtschaftlicher Betriebe (auch aus letztgenanntem Grund) nicht aufhalten. Von 2003 bis 2015 ging die Anzahl landwirtschaftlicher Betriebe in der EU um 27,5% zurück.
Der Deutsche Bauernverband fordert als entscheidender Interessensvertreter, dass die Direktzahlungen in Form der Förderperiode 2014–2020 auch zukünftig erhalten werden müssten, da sie einkommensstützend seien. Kritisiert wird auch, dass die Umweltauflagen für die Landwirte im Fördersystem der EU stetig erhöht werden würden.
Dass angesichts der Klimakrise ein Umdenken in der Agrarwirtschaft einsetzen muss, ist nicht mehr umstritten. Völlig auseinander gehen aber die Vorstellungen darüber, wie dies umgesetzt werden soll. Grünen-Chef Robert Habeck äußerte Verständnis für die Proteste gegen die Agrarpolitik: »Die Bauern und Bäuerinnen leiden selbst unter dem System. Die Förderpolitik der EU und die Exportorientierung der Wirtschaft setzen darauf, dass sie immer mehr zu immer kleineren Preisen produzieren. Da schmälert jede neue Verordnung die Einnahmen, mit der sie ihre Familien ernähren oder Schulden begleichen müssen.«
Die Landwirte würden zerrieben, »aber die Antwort, weniger Klima- oder Tierschutz, wäre falsch.« Landwirte seien wichtige Partner für eine Reform des Agrarsystems. Habeck warnte vor »moralischer Überheblichkeit gegenüber den Bauern.« Und der Sprecher von »Land schafft Verbindung« Dirk Andresen betont: »Wir müssen mit unserer Bewegung erfolgreich sein. Wenn es uns nicht gelingt, gemeinsam einen Gesellschaftsvertrag zu entwickeln, dann wird genau das passieren, was Herr Hofreiter gerade beschrieben hat. Die rechte Fraktion wird stärker, auch ein Teil der Bauern wird sich dann radikalisieren. Dann haben wir ein großes Problem, das wir auch an diesem Tisch nicht mehr werden lösen können.«
Anmerkungen
[1] Der Deutsche Bauernverband ist ein Verband der Verbände; neben den Landesbauernverbänden gibt es eine Vielzahl assoziierter Mitglieder. Die einzelnen Landwirte wiederum sind in den Landesbauernverbänden organisiert. Diese erreichen einen sehr hohen Organisationsgrad (im Durchschnitt über 80% aller rund 370.000 landwirtschaftlichen Betriebe). Daneben bestanden nur wenige kleinere Verbände, wie beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL), die bäuerlich wirtschaftende und ökologische Betriebe vertraten. Von den Organisatoren der Demonstration »Wir haben es satt!« wird dem Bauernverband eine falsche Ausrichtung vorgeworfen. In einer 2019 veröffentlichten Studie, die von der Universität Bremen im Auftrag des Naturschutzbund Deutschland (NABU) verfasst wurde, sind insgesamt 560 Verbindungen und mehrere Netzwerk-Knotenpunkte in Berlin und Brüssel festgestellt worden. Kritisiert wird der DBV dafür, eine exportorientierte Landwirtschaft in Deutschland zu fördern und damit für eine Überproduktion und Dumpingpreise zu sorgen. Ebenso wird die enge Verflechtung zwischen DBV und den Landwirtschaftsministern und die einseitige Ausrichtung an die CSU kritisiert.
[2] Erschienen 2019 im Verlag Springer Berlin Heidelberg; Autor*innen: Peter H. Feindt, Christine Krämer, Andrea Früh-Müller, Alois Heißenhuber, Claudia Pahl-Wostl, Kai P. Purnhagen, Fabian Thomas, Caroline van Bers und Volkmar Wolters. Das zugrunde liegende Projekt ZA-NExUS wurde gefördert durch das Bundesamt für Naturschutz mit Mitteln des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit.
[3] Siehe hierzu auch meine Ausführungen in Bauern werden lauter auf Sozialismus.deAktuell vom 20.12.2019.