19. April 2021 Joachim Bischoff/Björn Radke: Annalena Baerbock ist Kanzlerkandidatin
Grüner Aufbruch, Streit um Charakterschwächen bei CDU/CSU
Entsprechend einer internen Vereinbarung wird die Ko-Vorsitzende Annalena Baerbock BÜNDNIS 90/Die Grünen in den Wahlkampf führen. Dass ein Parteitag diese Entscheidung bestätigt, dürfte unstrittig sein.
Robert Habeck leitete die Präsentation seiner Ko-Vorsitzenden mit den Worten ein: »Heute ist der Moment zu sagen, dass die erste grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock sein wird.« In seiner Begründung stellte er die Öffnung der Grünen und die Verwirklichung eines neuen Führungsstils heraus: »Ein politischer Stil, der auf Kooperation aufbaut, der einander Raum lässt, der das Miteinander nach vorne stellt.« Dies habe zur paradoxen Situation geführt, dass dank des gemeinsamen Erfolgs nur eine für das Kanzler:innenamt kandidieren könne.
Er kündigte zugleich seine Unterstützung an und wolle seine Regierungserfahrung und die Erfahrung aus mehrfach erfolgreich abgeschlossenen Koalitionsverhandlungen einbringen, um die Partei auf eine Regierungsbeteiligung vorzubereiten.
Die frisch gekürte Kandidatin skizzierte ihrerseits die Notwendigkeit und Chancen eines Aufbruchs für das Land und machte deutlich, »wie groß die Anforderungen sind«. Es seien Veränderungen nötig – für ein gerechtes Land, in dem Kitas und Schulen »die schönsten Orte sind«. Pflegekräfte müssten die Zeit und die Ressourcen haben, sich um die Menschen zu kümmern. Es gehe um einen Staat, der digital funktioniere und seinen Bürger:innen diene, um eine wehrhafte Demokratie im Herzen Europas.
Und sie betonte: »Das ist erst der Anfang … Wir haben eine klare Idee einer Kanzlerschaft für Deutschland. Ich möchte heute hier mit meiner Kandidatur ein Angebot machen. Für die gesamte Gesellschaft. Als Einladung, unser vielfältiges, starkes, reiches Land in eine gute Zukunft zu führen.« Im Vordergrund nach einem erfolgreichen Wahlkampf soll der Klimaschutz stehen: »Ich will, dass die Politik einer neuen Bundesregierung Klimaschutz für alle Bereiche zum Maßstab macht.«
Es gehe darum, die Zukunft zu gestalten und Dinge wirklich anders zu machen. »Ich will, dass wir das Beste, das in diesem Land steckt, auch möglich machen: Für die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie, für unseren Mittelstand, für das Handwerk und für eine lebendige Kultur. Dafür müssen wir investieren: In Forschung und Innovation, in Polizeiwachen und Gerichtssäle, in die digitale Verwaltung und in schnelles Internet.«
Baerbock und Habeck unterscheiden sich kaum in ihren Positionen; beide zählen zum Lager der grünen »Realos«. Eine Vorliebe für ein Bündnis, in dem die Linkspartei mit von der Partie wäre, wird weder Baerbock noch Habeck nachgesagt. Den Grünen ist es mit ihrer Doppelspitze gelungen, ein Angebot für eine andere Politik zu verkörpern. Dieses Konzept ist nicht dem kurzfristigen Einfall einer Marketing-Agentur entsprungen, sondern tatsächlich praktizierter Stil der grünen Spitze.
Robert Habeck hatte diese Änderung des politischen Stils bereits in seinem Buch »Von hier an anders« vorgestellt.[1] »Eine Politik, die zuhört und auf Kooperation setzt, nicht auf Konkurrenz. Eine Politik, die sich an die Breite der Gesellschaft richtet. Eine Politik, die vorausdenkt, damit sie ihre Gestaltungskraft wiedererlangt«, lautet das grüne Credo. Während der Pressekonferenz zur Bekanntgabe ihrer Kandidatur betonte auch Annalena Baerbock, eine grüne Kanzler:inkandidatur stehe für ein neues Verständnis von politischer Führung: entschieden und transparent, lernfähig und selbstkritisch.
»Ich möchte eine Politik anbieten, die vorausschaut, was Neues wagt, die den Menschen zuhört und ihnen was zutraut.« Sie räumte ein, dass sie bislang keine Regierungserfahrung habe, aber mit ihr als Kandidatin beginne nun ein neues Kapitel, nicht für die Grünen, »und wenn wir es gut machen auch für unser Land«. Sie habe eine klare Vorstellung davon, wie sie eine mögliche Kanzlerschaft gestalten wolle.
Eine Regierung unter Beteiligung der Grünen werde mit »Klimaschutz das zukünftige Fundament legen für Wohlstand und Zukunft«. Was heute schon in einigen Kommunen in Modellprojekten umgesetzt werde – etwa der Ausstieg aus fossilen Energien, gut funktionierende Gesundheitsversorgung oder digitalisierte Schulen – dürfe nicht die Ausnahme bleiben. Gerade in Zeiten der Pandemie könne man »gelebte Solidarität« in der Gesellschaft erleben, und in diesem Sinne wolle sie Politik gestalten. In Deutschland sei das Auto erfunden worden und das Fahrrad, die Energiewelt sei revolutioniert und »wir haben in kürzester Zeit einen Impfstoff entwickelt.« Durch eine »andere politische Kultur«, für die die Grünen stehen, könne all dies verstetigt und weiter verbessert werden. Am liebsten würden sie die nächste Regierung anführen, dies sei aber kein Wunschkonzert.
Ein Mitgliederwachstum von rund 70% während der gemeinsamen Amtszeit von Habeck und Baerbock, das stärkste grüne Wahlergebnis aller Zeiten mit über 20% bei der Europawahl 2019 und die gegenwärtig stabilen Umfragewerte um die 20% und mehr, unterstreichen diesen Anspruch.
Nicht nur der punktgenaue Beginn der Verkündigung der Kandidatur, auch deren Professionalität, sowie die seit Monaten vorliegende grüne Erzählung lassen die Grünen als politischen »Ruhepol« in den unruhigen Zeiten erscheinen. Diese lassen aber keine Schlussfolgerungen darüber zu, in welcher politischen und gesellschaftlichen Gemengelage im September die Bundestagswahlen stattfinden. Der zunehmende Unmut in der Bevölkerung über die Unstimmigkeiten in der Pandemiebekämpfung seitens der politischen Entscheidungsträger in Bundesländern und Bund und die ungewisse Zukunft der Union nach der Merkel-Ära sind nur zwei Faktoren.
Insofern ist nachvollziehbar, dass sich die Grünen auf die Vorstellung und Präzisierung ihrer eigenen programmatischen Vorstellungen konzentrieren und sich hinsichtlich voreiliger Präferenzen zu möglichen Regierungsbündnissen zurückhalten. Noch ist unklar, ob überhaupt andere Kräfte und wer der Einladung zum politischen Aufbruch folgen werden. Und es müssen im endgültigen Wahlprogramm noch Konkretisierungen erfolgen, ob es gangbare konkrete Vorschläge gibt, die gemeinsam mit anderen den Einstieg in eine Transformationsphase ermöglichen. Und es sind auch die anderen Parteien gefordert, ob sie notwendige Transformationspfade ernsthaft betreten wollen.
Eines ist allerdings bereits jetzt festzuhalten: Kontrastreicher zum zeitgleich stattfindenden Auftritt der christlichen Unionsparteien konnte die Präsentation einer grünen Kanzler:innenkandidatin sowohl inhaltlich wie personell nicht sein. Hier das Angebot zu Kooperation, Offenheit und Zukunftsorientierung aus Basis einer seit Monaten erarbeiteten politischen Konzeption, dort ein Prozess der Selbstzerfleischung und inhaltliche Orientierungslosigkeit.
CDU und CSU tragen einen skrupellosen Machtkampf auf offener Bühne ohne inhaltliche Ausrichtung aus. Es ist kein Konflikt über Themen und Programmatik, sondern über Charaktere und Einflusssphären. Der eine hat den anderen als charakterschwach dargestellt, der andere den einen für leichtgewichtig erklärt. Dieser Streit ist eine Konsequenz der inhaltlichen Entkernung, die in der Union seit Jahren dominiert. Die große christlich geprägte Volkspartei weiß seit längerem nicht, wofür sie steht und wohin sie will, stattdessen geht es vorrangig ums Personal.
Schon die Verdrängung des langjährigen CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer durch den von Ehrgeiz zerfressenen Markus Söder erfolgte durch Einsatz von »Schmutzeleien« bei gleichzeitiger inhaltlicher Konzeptionslosigkeit. Söder zeichnet sich in seinen politischen Positionen durch eine einmalige Wandlungsfähigkeit oder Prinzipienlosigkeit aus. Lange Zeit war er in der Asyl- und Migrationsfrage die treibende Kraft hinter der Demontage von Seehofer und dem Beinahe-Zerwürfnis der Union im Sommer 2018, danach mutierte er zum Ökologen und Bienenfreund. Bemerkenswert ist: Er kann diese Wendungen ohne Widerstände in der Christlich Sozialen Union durchsetzen. Das macht diesen politischen Typus zum Populisten, der die Person nicht nur über das Programm, sondern auch die Institutionen der Partei stellt.
Weil die Demontage von Seehofer und die programmatische Entkernung der CSU so problemlos über die Bühne ging, versucht Söder es nun erneut auf diese Weise. Die CDU vorordnete sich eine quälend lange Suche nach einem neuen Vorsitzenden. Im Anschluss daran inszenierte Söder das Rätselraten über seine Absichten und seine politische Verankerung im Freistaat Bayern. Zwar hat er mehrfach betont, dass sein Platz in Bayern als Ministerpräsident und CSU-Chef sei.
Zur K-Frage äußerte er sich trotzdem immer wieder und bekräftigte seine Forderung nach einer möglichst einvernehmlichen Kandidatenkür in den Unionsparteien. Bei der Klausur der Fraktionsführung der Unions-Bundestagsfraktion am 11. April erklärte Söder dann erstmals offen, dass er zu einer Kanzlerkandidatur bereit sei. Daraus wurde der schleichende Übergang in einen Machtkampf mit Armin Laschet und den Institutionen der Schwesterpartei.
Sollte es das Ziel von Söders Attacke gewesen sein, den Vorsitzenden der CDU und die Union insgesamt als große Volkspartei maximal zu beschädigen, so ist ihm das gelungen – wie immer der Machtkampf zwischen ihm und Laschet auch ausgehen wird. Die Klärung der Machtfrage verläuft so ungeordnet und chaotisch, wie es für das Ende einer langen Herrschaft wie das der Ära Merkel typisch ist. Alles zerfällt, es fehlt ein starkes Zentrum. Zwerge balgen sich um das Erbe von Riesen.
[1] Siehe hierzu ausführlicher unsere Auseinandersetzung mit dem von Habeck skizzierten grünen Projekt der ökologischen Transformation in der März-Ausgabe von Sozialismus.de.