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17. Mai 2021 Björn Radke: Geschäftsmodell der Pharmaindustrie muss verändern werden

In der Pandemie stößt der realexistierende Kapitalismus an seine Grenzen

Die New York Times untertitelte einen Beitrag von Mariana Mazzucato in ihrer Ausgabe vom 8. Oktober 2020 wie folgt: »Verzerrte öffentlich-private Beziehungen, wie z.B. Pharmaunternehmen, die Millionen vom Steuerzahler erhalten und dann überhöhte Preise für Medikamente verlangen, sind nur ein Teil des Problems.«

In dem Beitrag selbst notierte die italienisch-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin: »Krisen wecken uns auf und machen harte Wahrheiten sichtbar. So wie die Waldbrände, die im September an der Westküste wüteten, unsere Aufmerksamkeit auf die Realität des Klimawandels gelenkt haben, zwingen uns der wirtschaftliche Niedergang und die Gesundheitskatastrophe, die durch Covid-19 verursacht wurden, dazu, mit langjährigen Problemen des Kapitalismus zu rechnen.«[1]

Gut sechs Monate später sind in vielen westlichen Industrienationen viele Millionen Menschen gegen das Coronavirus geimpft. Dagegen warten noch viele ärmere Länder bis heute auf die Vakzine. Auch die Angebote aus Russland, der VR China und neuerdings Kuba sind nicht in der Lage, die eklatante Mängelsituation in kurzer Zeit zu lindern. Schon lange bevor die ersten Notzulassungen für Impfstoffe gegen das Coronavirus erteilt worden waren, sicherten sich viele reiche kapitalistische Länder Hunderte Millionen Dosen potenzieller Vakzine von verschiedenen Herstellern. Entwicklungs- und Schwellenländern drohte das Nachsehen.

Um das zu verhindern und weltweit einen gerechten Zugang zu den Vakzinen zu ermöglichen, gründeten im April 2020 die Weltgesundheitsorganisation WHO, die Globale Impf-Allianz GAVI und die Coalition for Epidemic Preparedness CEPI die Impfstoffplattform Covax, in die alle Staaten der Welt einzahlen, um gebündelt Impfstoff für alle einzukaufen.[2] Alle Beteiligten der Covax-Initiative betonten: Die Welt ist erst sicher vor SARS-CoV-2, wenn die Impfungen überall greifen. Denn Mutanten können vor allem dort entstehen, wo der Impfschutz fehlt, wie z.B. in Indien.

Die ersten Lieferungen kamen vom Serum Institute of India, dort wird in Lizenz der Impfstoff von AstraZeneca und der Universität Oxford hergestellt. Ghana erhielt 600.000 Dosen, die Elfenbeinküsste 500.000. Am 1. März 2021 startete die Impfkampagne in Ghana. Die COVAX-Impfstoffe sind inzwischen schon in weiteren Ländern angekommen: in Kolumbien, Nigeria, Angola und der Demokratischen Republik Kongo – aber auch in Südkorea.

COVAX ist eine Einkaufsgemeinschaft und auch reichere Länder nutzen diese Möglichkeit, über riesige Bestellungen günstige Preise mit den Herstellern auszuhandeln. Aus einer Liste geht hervor, dass bis Mai insgesamt 237 Millionen Dosen an 142 Länder ausgeliefert werden sollen. Die größten Chargen gehen an Bangladesch, Brasilien, Ägypten, Äthiopien, Indonesien, Mexiko und Vietnam.

Aber um wirklich zwei Milliarden Impfdosen bis Ende des Jahres ausliefern zu können, muss sich sehr schnell noch mehr bewegen. Es fehlt am Geld. Beim G7-Treffen im Februar wurden noch einmal zusätzlich beträchtliche Mittel zugesagt, auch von der EU und Deutschland. Dennoch klafft weiter eine Finanzierungslücke von 22 Milliarden US-$. Es müssen aber auch ganz praktische Probleme gelöst werden: Um das angestrebte Ziel zu erreichen, müssen die Produktionskapazitäten weiter hochgefahren werden. Auf dem ganzen afrikanischen Kontinent kann bislang nur Südafrika Vakzine herstellen.

Es gibt Verträge oder Vorverträge über die zwei Milliarden Dosen. Aber das heißt nicht, dass diese auch zeitnah geliefert werden – damit haben ja auch Industrieländer wie Deutschland zu kämpfen. COVAX konkurriert mit anderen Käufern um den Impfstoff, u.a. mit der EU. Diese Konkurrenten zahlen zum Teil höhere Preise und haben ältere Verträge. Auch die Länder des Globalen Südens decken sich mit Impfstoffen ein. So haben etwa die Africa Centers of Disease Control im Januar etwa 270 Millionen Dosen bei verschiedenen Herstellern geordert, zusätzlich zu COVAX. Es läuft vieles parallel, die Länder versuchen auf allen Wegen Impfstoff zu bekommen.

Andererseits haben Frankreich und Großbritannien schon zugesagt, Impfstoff, der nicht mehr benötigt wird, an COVAX zu spenden. Die EU insgesamt und auch Deutschland planen ähnliches. Geschehen wird das aber wohl frühestens gegen Ende des Jahres. Deshalb ist es wichtig, dass es neben COVAX noch andere Impfstoff-Quellen für den globalen Süden gibt: Russland, China und Indien liefern ihre eigenen Vakzine und tragen so dazu bei, Versorgungslücken zum Beispiel in Lateinamerika zu schließen. Geliefert wird aber auch nach Afrika, Asien und Osteuropa.

Ungarn und Serbien etwa wollten nicht auf die EU warten, und nutzen die Angebote aus China und Russland. Das Vorgehen beider Länder wird gelegentlich als Impfstoffdiplomatie kritisiert, weil bevorzugt befreundete Nationen versorgt werden. Aber entscheidend ist letztlich nicht, woher der Impfstoff kommt, sondern, dass er vor SARS-CoV-2 schützt. Und COVAX wird nicht alleine die Versorgung des Globalen Südens sicherstellen können. Tedros Adhanom Ghebreyesus, der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation, ist sich dennoch sicher: Die Initiative wird als großer Erfolg in die Geschichte der Coronapandemie eingehen.

Nach Berechnungen von »Ärzte ohne Grenzen« fehlen COVAX wegen aktueller Lieferengpässe in den kommenden drei Monaten 211 Millionen Impfstoffdosen gegenüber den ohnehin unzureichenden Planungen. Drei Schritte müssten nun schnellstmöglich vollzogen werden:

  • Impfstoffdosen abgeben,
  • Technologien teilen und Produktionskapazitäten ausbauen,
  • Patentschutz aufheben.

Diese Forderungen sind auf viel positive Resonanz gestoßen. Abgelehnt werden diese allerdings von den Pharma-Unternehmen. Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach sich gegen eine Freigabe von Impfstoff-Patenten aus. Die Qualität der Produktion müsse gesichert werden. Das gehe am besten, wenn Firmen ihre Produktion ausbauten, Lizenzen vergäben und auf die Qualität achteten. Das sei der sicherste Weg zu »Impfstoff für alle«, betonte sie.

Das Thema wurde auch auf dem EU-Gipfel beraten. Laut den Daten von Vaccines Europe, dem Verband führender Impfstoff-Unternehmen, vom März 2020 – also noch vor Beginn der Pandemie – ist Europa weltweit führend bei der Herstellung von Impfstoffen. Ein großer Anteil der Produktions-, Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten ist hier angesiedelt. 76% der weltweiten Produktion findet in Europa statt, es folgen Nordamerika mit 13%, Asien mit 8%.

Für die Corona-Pandemie würde das Aussetzen der Impfstoff-Patente dieses Jahr kaum noch Wirkung entfalten, sagt der Wissenschaftsjournalist des Deutschlandfunks, Volkart Wildermuth. Für zukünftige Pandemien könne das Umdenken aber hilfreich sein. So wäre es auf lange Sicht ein großer Schritt, wenn Afrika zum Beispiel nicht 99% der Impfstoffe importieren müsste. Aber in der aktuellen Situation sei unklar, ob mehr Fabriken wirklich mehr Impfstoff produzierten. Gerade die mRNA-Impfstoffe etwa von BioNTech benötigen ganz spezielles Ausgangsmaterial. Die forschenden Arzneimittelhersteller fordern die USA deshalb auf, weniger über Patente zu debattieren und stattdessen Exportbeschränkungen für Rohstoffe aufzuheben. Aber erst für nächstes Jahr und für die nächste Pandemie könnte der Sinneswandel zunächst der USA und dann der EU wirklich entscheidend werden.

Der Impfstoffhersteller BioNTech hält eine Patentfreigabe nicht für zielführend, will armen Ländern aber im Preis entgegenkommen. Man sei überzeugt, dass der kontinuierliche Ausbau der Produktionskapazitäten dazu beitragen werde, die Pandemie zu beenden, erklärte ein Unternehmenssprecher in Mainz. Er warb für eine stärkere Zusammenarbeit von Herstellern, Regierungen und Organisationen. Keinesfalls seien Patente der begrenzende Faktor für die Produktion oder die Versorgung mit Impfstoff. Zugleich wies der Sprecher die Meldung zurück, BioNTech wolle vorübergehend auf den Patenschutz verzichten – dies sei unzutreffend.

Momentan liege die Last der Produktion auf einigen wenigen Hersteller-Schultern, die den globalen Bedarf so noch nicht decken könnten, so Elisabeth Massute von »Ärzte ohne Grenzen«. Mittelfristig müssten Produktionskapazitäten aus- und umgewandelt und langfristig auch neue Produktionskapazitäten geschaffen werden, vor allem im globalen Süden. Im besten Fall könne man dann lokal auf verschiedene Mutationen reagieren, vor allem mit der Technologie von mRNA-Plattform-basierten Impfstoffen – die auch kostengünstiger zu produzieren seien.

Teile der Pharmaindustrie signalisieren zwar eine gewisse Korrektur ihrer bisherigen Geschäftspolitik, aber dies reicht bei weitem nicht aus, um das eigentliche zu Tage tretende Grundproblem anzugehen: Das bisherige weltweite Geschäftsmodell der Pharmaindustrie und des realexistierenden Kapitalismus stößt an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit.

Mariana Mazzucato wies bereits im Oktober in ihrem Artikel in der New York Times  einen anderen Weg: »Auf internationaler Ebene müssen die Regierungen zusammenarbeiten, um feste Regeln für geistiges Eigentum, Preisgestaltung und Herstellung festzulegen. Sie müssen einen Konsens über das Ziel erreichen, einen Impfstoff universell verfügbar und zugänglich zu machen, da dies Einfluss darauf hat, wie die Produktion des Impfstoffs durchgeführt und geregelt wird. Die Regierungen müssen auch strenge Bedingungen in die Verträge schreiben, um zu verhindern, dass Pharmaunternehmen unverschämte Preise für Covid-19-Therapien und Impfstoffe verlangen. Damit wird sichergestellt, dass die Preisgestaltung den öffentlichen Beitrag zur Entstehung der Medikamente widerspiegelt.

Aber die Prinzipien hinter diesen Veränderungen müssen über einen Covid-19-Impfstoff hinaus gelten. Es geht nicht darum, Unternehmen zu bestrafen, sondern darum, einen Stakeholder-Ansatz aufzubauen – sowohl die Risiken als auch die Chancen von Wohlstand und Wertschöpfung zu teilen und das Wirtschaftswachstum so zu lenken, dass alle Bürger davon profitieren.

Wir müssen die Arbeitsbedingungen verbessern, die Beziehungen zwischen öffentlichem und privatem Sektor neu austarieren und die Praxis einschränken, Unternehmensgewinne zur Steigerung kurzfristiger Aktienkursgewinne zu verwenden. Wir können auch einen ›grünen Aufschwung‹ fördern, indem wir sowohl die Reduzierung der Kohlendioxid-Emissionen als auch die Schaffung von umweltfreundlichen Arbeitsplätzen zum zentralen Bestandteil der Konjunkturpakete machen.

Die Lösung unserer Probleme besteht nicht nur darin, mehr Konjunkturmittel aufzutreiben, sondern diese Mittel in den Aufbau einer integrativeren, nachhaltigen Wirtschaft zu lenken. Wir müssen die Wirtschaft transformieren, nicht nur stimulieren, oder wir riskieren, die Fehler von 2008 zu wiederholen – als die Regierungen riesige Mengen an bedingungsloser Liquidität in das System pumpten, was die Vermögenspreise auf den Finanzmärkten in die Höhe trieb, aber der Realwirtschaft wenig half.

Bedingungen, die die öffentlichen Interessen schützen, sind entscheidend. In der aktuellen Krise haben die Länder, die die Rettungsaktionen an intelligente Bedingungen geknüpft haben, die größten Fortschritte bei der Neukalibrierung der öffentlich-privaten Beziehung erreicht.«

Hier bahnt sich eine strategische Auseinandersetzung an, die auch in Teilen der bürgerlichen Leitmedien aufgegriffen wird: »Weiter gestritten werden dürfte über die Frage, ob Basisinnovationen besser vom Staat angestoßen und begleitet werden, oder ob nicht eher die Trial-an-Error-Methode des Wettbewerbs der erfolgreichere Innovationsmotor ist. Mazzucato hat recht, wenn sie darauf hinweist, dass in vielen technischen Wunderdingen, die heute aus dem Silicon Valley oder aus den Laboren von Big Pharma kommen, viel staatliche Grundlagenforschung und Risikobereitschaft steckt. Selbst der Star-Innovateur Elon Musk habe staatliche Hilfen in Höhe von fünf Milliarden Dollar bekommen.

Andererseits bleibt der Wettbewerb bislang das beste Entdeckungsverfahren, das wir kennen. Ein Härtetest für diese inzwischen jahrhundertealte Erfahrung allerdings läuft gerade in China, wo Staatschef Xi Jinping mit seiner Mission ›Made in China 2025‹ einen industriellen Masterplan mit konkreten Zielen für zehn Zukunftstechnologien verfolgt, um sein Reich zur wirtschaftlichen Supermacht zu führen.«[3]

Dass die Apologeten des »Weiter so« und »Der Markt wird es richten« sich vom notwendigen Wandel überzeugen lassen, ist nicht anzunehmen. Ob aber innerhalb der veränderungsbereiten Teile der Gesellschaft die Bereitschaft zur Verbreitung und Konkretisierung des Charakters des notwendigen »System Change« sich durchsetzen wird, bleibt eine offene Frage. Gleichwohl muss auch unter dem Blickwinkel des Klimawandels und der ökologischen Transformation der industriellen Produktion für einen »System Change« gekämpft werden.

Anmerkungen

[1] Mariana Mazzucato, »Capitalism Is Broken. The Fix Begins With a Free Covid-19 Vaccine«, in: New York Times vom 8.10. 2020 – Übersetzung ins deutsche über DeepL.com.
[2] Siehe dazu auch Otto König/Richard Detje, Profite wichtiger als Menschenleben, Sozialismus.deAktuell 17.5.2021. Siehe auch Björn Radke, Das kaputte Geschäftsmodell der pharmazeutischen Industrie, in: Sozialismus.deAktuell vom 22.2.2021 und den Artikel von Joachim Bischoff und Björn Radke in Sozialismus,de, Heft Nr. 1-2021, »Querdenker – eine Bewegung neuen Typs?«.
[3] Handelsblatt vom 28.3.2021

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