19. Januar 2021 Otto König/Richard Detje: Der Brereton Report – Australische Kriegsverbrechen in Afghanistan
Protokoll des Terrors
Es gibt Anzeichen dafür, dass 2021 der Zeitpunkt gekommen sein könnte, an dem die westlichen Militäreinsätze in Afghanistan – Operation Enduring Freedom, ISAF, Mission Resolute Support – beendet werden.
Setzt der neugewählte US-Präsident Joe Biden den von seinem Amtsvorgänger Donald Trump eingeschlagenen Weg fort, werden die USA den Großteil der derzeit noch 5.000 in Afghanistan stationierten Soldaten abziehen. In der Folge werden weitere NATO-Staaten, auch Deutschland, ihre Militärs zurückbeordern. Ohne die US-Truppen, insbesondere deren Lufthoheit, stehen sie auf verlorenem Posten.
Die Bilanz des inzwischen knapp 20 Jahre währenden Krieges in Afghanistan lautet: Scheitern auf der ganzen Linie. Laut einer Untersuchung der IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War) kamen in dem südasiatischen Staat von 2001 bis 2015 mindestens 220.000 Menschen zu Tode. Der Anteil der Bevölkerung, der unter der Armutsschwelle lebt, lag bereits im Jahr 2017 mit etwa 54,5% höher als 2002 – und er ist seitdem weiter gestiegen. Mehrere Millionen der 32 Millionen Einwohner*innen des verarmten Landes wurden vertrieben. Die Zahl der Distrikte, die von den Taliban kontrolliert werden, wird in offiziellen US-Darstellungen seit vergangenem Jahr nicht mehr genannt; Beobachter schätzten sie zuletzt auf über die Hälfte.
Überschattet werden die katastrophale wirtschaftliche und humanitäre Lage und die Debatte um den beschleunigten Abzug dadurch, dass seit Ende vergangenen Jahres schwere Kriegsverbrechen westlicher Militärs in Afghanistan Schlagzeilen machen. Am 19. November 2020 musste General Angus Campbell, Chef der Australian Defence Force, bei der Vorlage der redigierten Fassung des »The Brereton Report«[1] einräumen, dass australische Elitesoldaten (SARS) in dem südasiatischen Staat Kriegsverbrechen begangen haben.
Der sechsbändige Bericht der 2016 installierten unabhängigen Kommission, die vom Richter am New South Wales Supreme Court und Generalmajor in der Armeereserve, Paul Brereton, geleitet wurde, ist ein »Protokoll des Terrors« und eine vernichtende Anklage gegen die Militärs. Die Kommission, die 423 Zeugen befragte sowie mehr als 20.000 Dokumente und mehr als 25.000 Bilder über die Vorgänge zwischen 2005 und 2016 sichtete, fand Beweise, dass 25 SARS-Elitesoldaten mindestens 39 Kriegsgefangene oder unschuldige Zivilisten kaltblütig ermordet und zahlreiche weitere Verbrechen wie den Einsatz illegaler Waffen, Folter und Schändung der Leichen ihrer Opfer begangen haben.
An vielen Stellen des Reports wird deutlich, dass afghanische Menschenleben in den Augen der Soldaten praktisch nichts wert waren. Dem Bericht ist zu entnehmen, dass die Jagd auf Afghanen und ihre Ermordung von den Militärs als eine Art »Sport« sowie als »Initiationsritual für Neuankömmlinge« betrachtet wurde. So wurde neuen Rekruten der Spezialkräfte in einem »Blut«-Ritual – »blooding« genannt – der Befehl erteilt, gefangene Häftlinge zu ermorden, um ihre »soldatische Eignung« unter Beweis zu stellen. Die Verbrechen wurden dadurch verschleiert, dass den Leichen der ermordeten Zivilisten nach der Tat Waffen untergeschoben wurden.
Den Grad an Verderbtheit der beteiligten Militärs bestätigt folgender Vorfall, der in dem Report zitiert wird: »Mitglieder des ›SASR‹ fuhren eine Straße entlang und sahen zwei 14-jährige Jungen, von denen sie dachten, sie könnten Sympathisanten der Taliban sein. Sie hielten an, durchsuchten die Jungen und schnitten ihnen die Kehle durch. Der Rest der Truppe musste dann ›die Sauerei aufräumen‹, wozu die Leichen eingetütet und in einen nahegelegenen Fluss geworfen werden mussten.«
Gewagt ist die Behauptung im Brereton Report, dass die Kriegsverbrechen Taten einer »kleinen Zahl von Patrouillenkommandeuren und ihren Schützlingen« waren, die oberhalb der Ebene von Korporalen und Unteroffiziere völlig unbekannt geblieben sein sollen. Dem Bericht zufolge begannen die Praktiken nicht erst in Afghanistan, sondern in Australien bei der militärischen Ausbildung und Indoktrination. »Die Kultur und die Haltung, die Fehlverhalten möglich machten, wurden in den ihnen über- und untergeordneten Einheiten herangezüchtet«, heißt es in dem Bericht.
Der Versuch, die oberen Kommandoebenen aus der Schusslinie zu nehmen, verwundert nicht, wurden die Kriegsverbrechen doch von Militäranwälten und Geheimdienstbeamten auf höchster Ebene jahrelang vertuscht. Beweismaterial von afghanischen Opferfamilien und sogar offizielle Beschwerden der afghanischen Regierung wurden beiseitegeschoben. Aufgedeckt wurden die Verbrechen, die sich zwischen 2009 und 2013 ereignet haben sollen, von den Investigativ-Journalisten Dan Oakes und Sam Clark des Senders Australian Broadcasting Corporation (ABC).
Der ehemalige Militäranwalt David McBride soll ABC 2017 weitere Dokumente zugespielt haben, die eine Reihe von Kriegsverbrechen aufdeckten – dafür muss er sich jetzt unter Ausschluss der Öffentlichkeit einem Prozess stellen. Auch die beiden Journalisten gerieten in den Focus der australischen Bundespolizei, die unter anderem ihre Büros durchsuchte und Datenträger beschlagnahmte.[2] Ihre Berichte, die an die Veröffentlichung der Iraq War Logs durch die Whistleblowerin Chelsea Manning und den in Großbritannien inhaftierten Wiki-Leaks-Gründer Julian Assange erinnern, führten schließlich zur Einsetzung der Brereton-Untersuchungskommission.
Es war im Oktober 2001, als eine »Koalition der Willigen« überwiegend westlicher Staaten unter Führung der USA in Afghanistan intervenierte. Als Begründung wurde angeführt, die dort herrschenden Taliban würden den Drahtzieher von 9/11, Osama bin Laden, beschützen. Nach dem Anschlag auf die Gebäude des World Trade Centers (WTC) in New York konstruierte die Georg W. Bush-Administration den Fall der »legitimen Verteidigung«, wie ihn die UN-Charta beim Angriff eines fremden Staates vorsieht. Daraufhin erklärten die NATO-Staaten den »Bündnisfall«. Es gab aber keinen Angriff eines fremden Staates auf die USA. Die WTC-Türme waren nicht von Afghanistan zerstört worden.
Auch der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und sein Außenminister Joschka Fischer (Die Grünen) beeilten sich, nach den Anschlägen in Manhattan ihre »bedingungslose Solidarität« mit den USA zu erklären. Mit knapper Mehrheit, Schröder hatte die Abstimmung mit der Vertrauensfrage verbunden, stimmte der Bundestag am 16. November 2001 dem Einsatz der Bundeswehr im Afghanistan-Krieg zu, für den der damalige Verteidigungsminister Peter Struck den mehr als peinlichen Satz prägte: »Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt.«
Am 7. Oktober 2001 startete die NATO unter Führung der USA ihre Bombardements in Afghanistan. Der Einsatz der International Security Assistance Force (ISAF) begann Ende 2001 und hatte zwei Hauptziele: die Herrschaft der radikalislamischen Taliban zu brechen und dem Terrornetzwerk Al Kaida durch Zerstörung seiner logistischen Basis den Boden zu entziehen. Der Krieg »sollte den Weg zu Liberalität, Demokratie und Marktwirtschaft in Afghanistan bahnen, getragen von Ideologie- und Wertetransfer« (Lutz Herden).
Auf dem Höhepunkt des Afghanistan-Kriegs 2012 waren 50 Nationen mit rund 130.000 Soldaten an den Militäroperationen beteiligt, davon stellten die USA 90.000. Das deutsche Kontingent belief sich zeitweise auf 5350 Soldaten. Formal endete der ISAF-Kampfeinsatz Ende 2014, faktisch wird er jedoch unter der Folgeoperation Resolute Support zur Ausbildung, Beratung sowie zum Training afghanischer Sicherheitskräfte bis heute fortgesetzt. Zuletzt waren 13.100 Militärangehörige gemeldet, darunter 850 Bundeswehrsoldaten. Nach den Erfahrungen mit der Lügenpropaganda beim völkerrechtswidrigen Angriffskrieg im Irak,[3] dem Libyen-Krieg, der als Operation zur Durchsetzung einer Flugverbotszone legitimiert wurde, und des Syrien-Krieges gehört eine große Portion politische Naivität dazu, das Regime der Fake News über das Geschehen in Afghanistan weiterhin zu akzeptieren, wie es seit der Bush-Administration verbreitet wurde.
Die jetzt öffentlich gewordenen Kriegsverbrechen sind kein Alleinstellungsmerkmal der australischen Streitkräfte. »Für viele Beobachter, Journalisten und andere Kenner des Afghanistan-Krieges waren die jüngsten Enthüllungen … keineswegs überraschend. In vielen afghanischen Dörfer kursieren bis heute die Geschichten von mordenden und folternden NATO-Soldaten. Die Betroffenen werden allerdings kaum gehört«, so der Journalist Emran Feroz (Telepolis, 01.12.2020). Es ist davon auszugehen, dass die jetzt veröffentlichten Ergebnisse des Brereton Reports nur die Spitze des Eisbergs jener Verbrechen sind, die im Namen des »Kriegs gegen den Terror« begangen wurden.
Auch für mutmaßliche Kriegsverbrechen britischer Spezialeinheiten, insbesondere Morde an Zivilisten, sind zahlreiche Belege bekannt. So hat die Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC) kürzlich ihre Forderung bekräftigt, endlich glaubwürdige und umfassende Untersuchungen anzustellen.[4] Gleichlautende Vorwürfe werden seit langem in deutlich größerem Umfang gegen die Streitkräfte der USA erhoben.
Die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), Fatou Bensouda, sammelt seit Jahren Informationen zu möglichen Kriegsverbrechen, die Angehörige der US-Armee und des Geheimdienstes CIA seit 2003 in Afghanistan begangen haben sollen. Ihren Erkenntnissen zufolge sollen sie in den Jahren 2003 und 2004 unter anderem mindestens 61 Menschen gefoltert haben. Im selben Zeitraum sollen CIA-Agenten mindestens 27 Gefangene in Geheimgefängnissen in Polen, Litauen und Rumänien misshandelt haben. Laut Bensouda handelt es sich nicht um Einzelfälle, sondern offenbar »um das Ergebnis einer vorsätzlich betriebenen Politik« (ZEIT online, 15.11.2016).
Anfang März 2020 genehmigten die obersten Richter in Den Haag[5] eine Untersuchung mutmaßlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Afghanistan. Damit hoben sie eine frühere Ablehnung einer derartigen Untersuchung auf. Es ist das erste Mal, dass es vor Gericht Ermittlungen gegen US-Bürger geben soll. Allerdings verweigern die USA jede Kooperation und US-Außenminister Mike Pompeo warnte im Sommer letzten Jahres: »Wir werden nicht zusehen, wie unsere Leute von diesem Scheingericht bedroht werden.« Kurz danach verhängte die Trump-Administration gegen Fatou Bensouda und einen ihrer hochrangigen Mitarbeiter Sanktionen. Ihre Konten wurden eingefroren und ihnen wurde die Einreise in die USA verboten.
Auch die Bundeswehr sei über mutmaßliche US-Kriegsverbrechen im Bilde gewesen, berichtet der Militärhistoriker Sönke Neitzel von der Universität Potsdam in seinem jüngst erschienenen Buch »Deutsche Krieger«. Die deutschen Militärs seien »loyale Allianzpartner« gewesen, »die die nächtlichen Schattenkrieger mit Logistik, mit Absperrungen und auch mit Sanitätern unterstützten«: nicht nur Mitwisser, sondern demnach auch Mittäter. Und wenn die Frankfurter Allgeneine Zeitung nach der Bekanntgabe der australischen Kriegsverbrechen titelt »Tag der Schande für Australien«, muss man fragen, warum sie nicht derartige Schlagzeilen produzierte, als deutsche Kriegsverbrechen am Hindukusch begangen wurden.
Zur Erinnerung: Im September 2009 gab der Bundeswehr-Oberst Georg Klein im afghanischen Kundus den Befehl, zwei gestohlene Benzin-Tanklaster mit US-amerikanischen Kampfdrohnen anzugreifen. Dabei starben bis zu 142 Zivilisten. Das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt. Dutzende afghanische Angehörige klagten erfolglos. Erst jüngst hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass den Hinterbliebenen keine Entschädigung gezahlt werden muss.
Es ist offensichtlich, dass die westlichen Länder kein Interesse daran haben, sich mit den Verbrechen ihrer Militärs kritisch und offen auseinanderzusetzen. Im Gegenteil: Donald Trump begnadigte kurz vor seinem Ausscheiden den Oberleutnant Clint Lorance, der 2012 den Befehl gegeben hatte, auf drei unbewaffnete Afghanen zu schießen, zwei von ihnen starben. Und in Deutschland wurde Oberst Klein zum General befördert.
Anmerkungen
[1] Douglas Guilfoyle: The Brereton Report. Australian war crimes in Afghanistan, 23.11.2020.
[2] <cite>https://www.ejiltalk.org/australian-war-crimes-in-afghanistan-the-brereton-report
</cite>[3] Otto König/Richard Detje: Der Chilcot-Bericht zum Irakkrieg 2003. Schuldspruch ohne Konsequenz, Sozialismus.deAktuell vom 25.7.2016.
[4] Rory Callinan: Calls for UK to investigate possible war crimes in Afghanistan, the guardian.com, 20.11.2020.
[5] Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag verfolgt Kriegsverbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord. 123 Staaten haben den Grundlagenvertrag des Gerichts, die sogenannten römischen Statuten, ratifiziert. Die USA, Israel und Russland gehören nicht zu den Mitgliedern.