11. November 2019 Otto König/Richard Detje: Chile – der Kampf gegen den Neoliberalismus und für eine neue Verfassung

»El pueblo unido jamás será vencido«

Foto: Nicolas Venturelli (CC BY-NC-ND 2.0)

Mitte Oktober demonstrierten in ganz Chile Millionen von Menschen gegen soziale Ungleichheit und staatliche Gewalt. Auf der Plaza Italia in der Hauptstadt Santiago versammelten sich 1,2 Millionen Demonstranten.

Ihre Botschaft war unüberhörbar: »Piñera, escucha, ándate a la chucha« – »Piñera, hör zu, geh zur Hölle«. Auch in den Städten Antofagasta, Valparaíso, Viña del Mar, Copiapó, Concepción, Chillán, Temuco und Punta Arenas gingen Hunderttausende Töpfe schlagend (»cazerolazos«) auf die Straßen. Zitate aus der letzten Rundfunkrede Salvador Allendes machten die Runde: »Die großen Straßen werden sich wieder öffnen, auf denen der würdige Mensch dem Aufbau einer besseren Gesellschaft entgegengeht«.

Die Demonstranten kämpfen für die Wiedererlangung der Würde, die ihnen durch den Neoliberalismus genommen wurde. »Heute wird deutlich, dass das Wirtschaftsmodell und das politische System der letzten 40 Jahre an ihre Grenzen gestoßen sind und nicht mit kleinen Reparaturen verändert werden können. Wir brauchen einen strukturellen Wandel«, so Valparaísos Hafenarbeiter. Künstler*innen unterstützen die Proteste durch kostenlose Konzerte: Da ist der Musiklehrer, der beim Protestmarsch gemeinsam mit einer Gruppe von Hunderten Musikern Saxophon spielt, die Musiker, die mit Gitarren »bewaffnet« vor der Nationalbibliothek in Santiago gemeinsam mit den Protestierenden das Lied »El derecho de vivir en paz« (»Das Recht, in Frieden zu leben«) des von den Putschisten 1973 ermordeten Volkssängers Victor Jara gesungen haben.[1] Eine Antwort an den Präsidenten, der sich im »Krieg gegen einen mächtigen Feind« wähnte.

Die Proteste hatten sich zunächst an einer Erhöhung der Fahrpreise der Metro in Santiago entzündet.[2] Es war die vierte in zwei Jahren. Was mit dem gewaltfreien Widerstand von Schüler*innen und Studierenden gegen die Preiserhöhung begann, hat sich in wenigen Tagen zu den größten Protesten entwickelt, die Chile seit dem Ende der Pinochet-Diktatur (1973-90) erlebte.[3] Doch den Bürger*innen geht es längst nicht mehr allein um die Fahrpreiserhöhung, sondern um die Frage, in was für einem Land sie leben wollen. »Es sind nicht nur 30 Pesos, es sind 30 Jahre«, steht auf ihren Transparenten. Ihr Zorn, ihr ziviler Ungehorsam richtet sich gegen das neoliberale Wirtschaftsmodell, dessen Grundsteine von den »Chicago-Boys« des marktradikalen Milton Friedmann während der Militärdiktatur gelegt worden sind, als sie das Land zum »Laboratorium des Neoliberalismus« gemacht haben. Die Losung »bezieht sich auf die ganzen Fehler, die seit dem Übergang von der Diktatur zur Demokratie in Chile seit Ende der 1980er Jahre gemacht wurden. Es sind diese 30 Jahre, die gekennzeichnet sind von der Missachtung unserer Würde«, sagt der Politikwissenschaftlers Marco Moreno (DW, 01.11.2019). Zurecht heißt es auf Plakaten: »Es hora de cambiarlo todo« (»es ist Zeit, alles zu ändern«).

Die prekäre ökonomische Situation der arbeitenden Bevölkerung Chiles ist nicht der einzige Auslöser des Protestes. Auch die Arroganz und Ignoranz der politischen Führer und Eliten gegenüber dem Leben der Menschen aus der Unter- und Mittelschicht haben entscheidend dazu beigetragen. Eine Reihe schwerer Korruptionsdelikte von chilenischen Geschäftsleuten, von denen keiner bestraft wurde, hat das Gefühl großer Teil der chilenischen Bevölkerung verstärkt, »dass alle Institutionen von Eliten geleitet werden, die nur für ihre eigenen Interessen und Vorteile regieren und Gesetze machen – alles auf Kosten der Bevölkerung«, so die Soziologin Pierina Ferretti von der NodoXXI-Stiftung. Chile ist wie ein Druckkochtopf, »der früher oder später explodieren« musste.

Als die Massenproteste anfingen, erklärte der Präsident und Milliardär Sebastian Piñera den Ausnahmezustand, verhängte Ausgangssperren und schickte das Militär und Panzer auf die Straße, gegen einen vermeintlich »mächtigen und organisierten Feind«. Der Feind, das chilenische Volk, widersetzte sich trotzdem den exzessiven Gewalteinsätzen des Militärs und der Polizei und versammelte sich. Dem Nationalen Institut für Menschenrechte (INDH) zufolge gibt es bereits 1.659 Verletzte, das Rote Kreuz schätzt die Zahl auf über 2.500, 160 Menschen haben eine Augenverletzung erlitten, und 23 wurden nach »offiziellen« Zahlen getötet. »Was wir erlebt haben, ist eine systematische Verletzung der Menschenrechte. Die Maßnahmen der Regierung sind verfassungswidrig und widersprechen den internationalen Menschenrechtsabkommen«, erklärte der Jurist Tomás Ramírez von der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universidad de Chile.[4]

Die massenhaften Proteste zeigen erste Wirkungen. Piñera wurde gezwungen, den Ausnahmezustand aufzuheben und das Ende der Ausgangssperre zu verkünden. Der Präsident übte Selbstkritik und wollte sich durch die Abberufung acht seiner Minister*innen, darunter Innenminister Andrés Chadwick,[5] der für die brutale Unterdrückung der Proteste der vergangenen Tage verantwortlich gemacht wird, und die Ankündigung einer »neuen Sozialagenda« Ruhe erkaufen – Reformen wie Erhöhung der Renten, bessere öffentliche Dienstleistungen, bezahlbare Krankenversicherungen, ein garantiertes Mindesteinkommen der Arbeitnehmer*innen, territoriale Gerechtigkeit zwischen den Gemeinden, höhere Steuern für einkommensstarke Sektoren, Diätensenkung für Abgeordnete und höhere Gehälter im öffentlichen Sektor.

Doch den Menschen reicht das nicht mehr. Die Korrekturen der Sozialpolitik lösen nicht die tieferliegenden, strukturellen Probleme des Landes. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Cadem halten 80% der Chilenen wenig von den angekündigten Reformen. »Piñera will Zeit gewinnen, er erwartet, dass wir nach Hause gehen, ein reiner Schachzug«, war die Reaktion in den sozialen Netzwerken. Einer Studie des Meinungsforschungsinstituts »Activa Research« zufolge ist die Zustimmung für Piñera Ende Oktober auf nur noch 9,1% gesunken.

Nachdem weder das »Mea culpa«, noch die angekündigte »agenda social« zu einem Ende der Proteste führten, sagte der chilenische Staatschef, die für November und Dezember geplanten internationalen Zusammenkünfte in Santiago ‒ den UN-Klimagipfel COP 25 und das Treffen der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) ‒ ab. Aus dem »Moneda«-Palast tönte es, die Priorität der chilenischen Regierung sei nun, die »Wiederherstellung der Ordnung und des sozialen Friedens«, das »Vorantreiben der neuen Sozialagenda« und der Beginn eines »breiten Prozesses des Dialogs und der Partizipation der Bürger«.

Dieser Dialog hat längst begonnen. Mittlerweile haben sich in ganz Chile auf Initiative der »Unidad Social«, der 115 soziale Initiativen, Gewerkschaften sowie der Studierendenverband angehören, basisdemokratische Nachbarschaftsvereinigungen – sogenannte »cabildos« oder »asambleas autoconvocadas« – in Stadtteilen gebildet. In diesen rätedemokratischen Foren kommen die Menschen zusammen, um ihre Forderungen an den Staat – wie ihre Verfassung, wie ihr Land in Zukunft aussehen soll – zu diskutieren. In diesem historischen Moment ist es von entscheidender Bedeutung, dass die chilenische Bevölkerung demokratisch darüber befindet, wie es gerechter und unter Wiederherstellung der sozialen Rechte weitergehen kann«, heißt es in einer der kursierenden Erklärungen.

Zu den bisher verlautbarten zentralen Forderungen gehören: ein solidarisches und umlagefinanziertes Rentensystem, die Erhöhung des Mindestlohns auf 500.000 Pesos (etwa 600 Euro), die Anerkennung der Gewerkschaftsfreiheit und Tarifverhandlungen nach Branchen sowie der Zugang zu würdigem Wohnraum, kostenloser Bildung und Gesundheitsversorgung, gerechte Tarife beim öffentlichen Nahverkehr, die Aufhebung der Maut und die Verstaatlichung der Autobahnen. Auch die Ausarbeitung einer neuen Verfassung durch eine verfassungsgebende Versammlung stehen auf der politischen Agenda. Die Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes CUT, Bárbara Figueroa, bekräftigte, ein neuer sozialer Pakt werde nur möglich sein, »wenn die Regierung der Forderung nach einer verfassunggebenden Versammlung nachkommt, die eine neue Vereinbarung ausarbeitet, in der die Menschenrechte und die sozialen Rechte garantiert werden.«

Eine Forderung, die seit Jahren von sozialen und politischen Organisationen erhoben wird. Denn die derzeit geltende Verfassung stammt aus der Zeit der faschistischen Diktatur des Putschisten Augusto Pinochet (1973-1990), die sie zur neoliberalen Umstrukturierung des Landes genutzt hatte. Der Staat lagerte öffentliche Dienstleistungen an private Unternehmen aus, wandelte öffentliches Eigentum in Privates um, und vergab die Nutzungsrechte der natürlichen Ressourcen mit fast ewigen Laufzeiten an Großunternehmen. Diese Verfassung ist seit der Diktatur unverändert gültig geblieben. Bis heute sind Wasser, Gas, Strom, Kupfer, der Nahverkehr, das Bildungs-, Gesundheits- und Rentensystem privatisiert. Sowohl die Christdemokraten unter Eduardo Frei als auch die Demokratische Union unter Ricardo Lagos und die Sozialisten unter Michelle Bachelet waren nach dem Ende der Militärdiktatur entweder nicht willens oder nicht in der Lage, die großen Privatisierungen anzutasten.

Wohin diese wirtschaftliche »Liberalisierung« letztlich führte, zeigte 2017 die Studie »Desiguales«[6] (»Ungleichheit«) im Rahmen des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP): 33% der gesamten Einnahmen aus der chilenischen Wirtschaft fließen in die Haushalte von einem Prozent der Bevölkerung. Die oberen fünf Prozent der Gesellschaft kassieren mehr als die Hälfte aller Einnahmen. Dagegen lebt die Hälfte der knapp 18 Millionen Chilenen an bzw. unter der Armutsgrenze. Der staatliche Mindestlohn beträgt umgerechnet knapp 350 Euro – bei Lebenshaltungskosten, die teilweise über den deutschen liegen. Das hehre Versprechen »Wohlstand für alle« der Marktliberalen hat sich gerade in den letzten vier Jahren als reiner Betrug erwiesen. Das jährliche Durchschnittseinkommen ist seit dem Jahr 2015 um 900 auf 13.290 US-Dollar gesunken, während die wirtschaftliche Elite beträchtliche Steuergeschenke, aktuell mit günstigeren Abschreibungsmöglichkeiten und satten Mehrwertsteuererstattungen, erhalten hat. Preise und Staatsverschuldung sind in schwindelerregende Höhe gestiegen. Massenentlassungen sind an der Tagesordnung. Die Jugendarbeitslosigkeit kletterte auf 18%.

Präsident Sebastián Piñera und seine rechte Vierparteienallianz »Chile Vamos« versucht insbesondere die Forderung nach einer Verfassungsreform auszubremsen. Doch das Mitte-Links-Oppositionsbündnis »Nueva Mayoría« machte inzwischen gegen die Stimmen der Regierungsallianz im Verfassungsausschuss den Weg im Parlament für die Debatte über eine neue Verfassung und die Frage, ob der Kongress oder eine verfassunggebende Versammlung diese ausarbeiten soll, frei. Und die Fraktion der Partido Comunista fordert, die Bürger*innen des südamerikanischen Landes bereits am 15. Dezember in einem Referendum über die Ausarbeitung einer neuen Verfassung abstimmen zu lassen.

Ohne eine neue Verfassung, ohne das Ende des neoliberalen Systems und ohne ein Ende der Repression wird das chilenische Volk nicht aufhören zu kämpfen. Die Hymne des Widerstands »El pueblo unido jamás será vencido«[7] gibt ihnen wie damals unter Pinochet, die Kraft für den weiteren Kampf für eine gerechtere Welt. Für die Politologin Friederike Winterstein steht fest: »Wenn die Linke es schafft, diese Diskussion in progressive Wege zu leiten und die neue Verfassung die Basis für eine gerechtere Gesellschaft darstellt, wäre dies ein Lichtblick für den ganzen Kontinent«.


[1] Video über das Konzert vor der Nationalbibliothek am 26.10.2019, https://youtu.be/V_xRSfjCyrg
[2] Siehe Otto König/Richard Detje: #Chile despertó – Chile erwacht. Aufstand gegen prekäre Lebensverhältnisse, SozialismusAktuell, 27.10.2019.
[3] Video »Chile in Flammen«, produziert von Chilen*innen in Leipzig, https://vimeo.com/370474561
[4] Eine Uno-Sonderkommission soll mögliche Menschenrechtsverletzungen untersuchen, die von Polizei und Militär bei dem Versuch begangen wurden, die Proteste niederzuschlagen. Die Gutachter werden bis zum 22. November im ganzen Land Augenzeugenberichte einholen. Die Kommission wird sich mit Vertretern der Regierung und der Zivilgesellschaft sowie mit Opfern und Menschenrechtsorganisationen treffen. Auch Amnesty International hat ein Team nach Chile geschickt.
[5] Abgeordnete der Opposition haben eine Verfassungsklage gegen Chadwick eingereicht und arbeiten gerade an einem Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Piñera. Die Initiative wurde von Abgeordneten des Bündnisses Frente Amplio und der Partido Comunista de Chile angestoßen. Die nötigen Unterschriften für den Prozessbeginn haben sie bereits gesammelt, aber für eine Amtsenthebung sind zwei Drittel der Stimmen des Senats notwendig.
[6] Desiguales – Origenes y desafios da la brecha social en Chile, 9. Mai 2018.
[7] Den Text des Liedes »El pueblo unido« (Das geeinte Volk) hat die chilenische Folk-Band Quilapayun geschrieben. Die Musik stammt vom Komponisten Sergio Ortega Alvarado. Während der Zeit Allendes und nach der Errichtung der gewalttätigen Militärdiktatur spielten Quilapayún und andere chilenische Bands die Protest-Hymne im Exil überall auf der Welt und riefen zur Solidarität mit dem chilenischen Volk auf. Seit Oktober 2019 ist das Protest-Lied erneut die Hymne des Aufstands in Chile.

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