21. November 2019 Bernhard Müller: Zur gemeinsamen Initiative von BDI und DGB

Investitionen jenseits der Schuldenbremse

Die kapitalistisch dominierte Weltwirtschaft leidet seit Jahrzehnten an einer gravierenden Funktionsstörung: der Verflüchtigung des Zinses. Hinzu kommt, dass der »Climate Change« inzwischen Dimensionen angenommen hat, die immer mehr Menschen zu der Überzeugung bringt, dass ein »System Change« notwendig ist, weil eben auch die sozialen Dienstleistungen (Bildung, Gesundheit, Pflege), humanes, bezahlbares Wohnen und die seit Jahrzehnten auf Verschleiß gefahrene öffentliche Infrastruktur (Kapitalstock) nicht mehr den Mindeststandards sowie den Ansprüchen der Mehrheit der Bevölkerung entsprechen.

Diese Herausforderung und die mehr als bescheidenen Initiativen der GroKo in Sachen öffentlicher Kapitalstock haben nun Unternehmerverbände und Gewerkschaften auf den Plan gerufen. Gemeinsam fordern der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) von der Bundesregierung ein auf mehrere Jahre angelegtes Programm für deutlich höhere öffentliche und private Investitionen.

»Es geht nicht in erster Linie darum, Symptome einer Rezession zu bekämpfen, sondern Ursachen einer Wachstumsschwäche anzugehen«, sagte BDI-Präsident Dieter Kempf. »Aus Sicht des BDI fehlen schon heute öffentliche Investitionen in Höhe von einem halben Prozentpunkt der Wirtschaftsleistung. Dabei sind die Zusatzanforderungen für den Klimaschutz noch nicht berücksichtigt.« In vielen Feldern seien diese Voraussetzung für höhere und effiziente private Investitionen, etwa im Verkehr oder der digitalen Infrastruktur.

Für den DGB-Vorsitzenden Reiner Hoffmann sichert nur ein »umfangreiches, langfristiges öffentliches Investitionsprogramm … die Zukunftsfähigkeit der Wirtschaft – und damit die guten Arbeitsplätze von morgen.« Das gelte insbesondere angesichts des strukturellen Wandels, der durch Digitalisierung, Klimawandel und Globalisierungsprozesse getrieben wird. »Wir können es uns nicht länger leisten, den Wohlstand künftiger Generationen durch eine veraltete Infrastruktur und ein unterfinanziertes Bildungssystem zu gefährden. Öffentliche Investitionen stärken den sozialen Zusammenhalt und fördern gleichwertige Lebensbedingungen in ganz Deutschland«, betonte Hoffmann. Es brauche starke und lebenswerte Kommunen, bezahlbaren Wohnraum und eine gute öffentliche Daseinsvorsorge. Damit Investitionen wirken können, sei allerdings auch deutlich mehr Personal in Kitas, Schulen und Behörden erforderlich.

Grundlage für die Initiative von Industrie und Gewerkschaften ist eine gemeinsame Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW) und des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung in der Hans-Böckler-Stiftung (IMK).[1] Demnach ist die Einrichtung eines Investitionsfonds ein möglicher Weg, um zu deutlich mehr Investitionen zu kommen. Eine Erhöhung des staatlichen Infrastrukturbestands um zehn Mrd. Euro steigere das Bruttoinlandsprodukt dauerhaft um rund 2,5 Mrd. Euro im Jahr.


Der Verfall des Kapitalstocks

In den vergangenen Jahrzehnten hat die öffentliche Hand ihre Investitionen spürbar zurückgefahren. Nach dem Vereinigungsboom zu Beginn der 1990er Jahre gingen die Bruttoanlageinvestitionen relativ zur Wirtschaftsleistung stetig zurück und fielen 2004 erstmals unter 2%. Die Nettoinvestitionen zeigen einen ähnlichen Verlauf auf niedrigerem Niveau. Im Jahr 2004 wurden sie erstmals negativ.

Besonders schwach war die Entwicklung bei den öffentlichen Bauinvestitionen und hier wiederum auf der kommunalen Ebene, wo der preisbereinigte Bruttokapitalstock in den vergangenen Jahren trotz erhöhter Bruttoinvestitionen rückläufig war. Bereits seit den frühen 2000er Jahren war eine Stagnation zu beobachten. Investitionen in Ausrüstungen und sonstige Anlagegüter, worunter primär Forschung und Entwicklung zu verstehen ist, legten hingegen kräftig zu. Hier sind insbesondere Bund und Länder stark vertreten. Dabei ist zu allerdings beachten, dass 37,5% der Bruttoinvestitionen des Bundes im Bereich Verteidigung anfallen.

Wie drastisch der Rückgang der öffentlichen Investitionen und die dadurch entstandenen Infrastrukturdefizite sind, zeigen zahlreiche Beispiele: So betrug die Quote öffentlicher Bruttoanlageinvestitionen gemessen an den gesamtwirtschaftlichen Anlageinvestitionen in den 1980er Jahren noch rund 18%. 2018 waren es nur noch 11,3%. Genauso blieb zwischen 2010 und 2017 beispielsweise die Entwicklung der staatlichen Bautätigkeit weit hinter dem Bedarf zurück: Der öffentliche Kapitalstock an Bauten stieg um 2%. Doch zugleich nahm die Bevölkerung um 3,1% zu. Die Anzahl der Personenkilometer im Schienenverkehr stieg um 14,2%, der Bestand an Kraftfahrzeugen um 10,7% und die Fahrleistung von LKWs auf deutschen Straßen um 16,6%. Deutlich zugenommen hat über die Jahre auch der Anteil der Unternehmen, die in Befragungen angeben, dass ihre Geschäftsabläufe regelmäßig durch Infrastrukturprobleme beeinträchtigt werden: 2018 klagten darüber schon gut zwei Drittel der Befragten.

Um diesen Investitionsstau aufzulösen und Wirtschaft und Gesellschaft zukunftsfähig mit Blick auf Digitalisierung, Verkehrsinfrastruktur, Klima- und demografischen Wandel zu machen, sollte der deutsche Staat nach Ansicht der beiden Forschungsinstitute jährlich rund 45 Mrd. Euro gezielt zusätzlich investieren. Und zwar über mindestens zehn Jahre.


Wo investiert werden muss

  • Ein Drittel der geforderten zusätzlichen Investitionssumme, also rund 138 Mrd. Euro über zehn Jahre, sollte genutzt werden, um den bei Städten und Gemeinden aufgelaufenen Sanierungsstau aufzulösen.
  • 120 Mrd. Euro sollten über zehn Jahre zusätzlich in den Ausbau von Verkehrswegen und digitaler Infrastruktur investiert werden: 60 Mrd. Euro, um den Fernverkehr der Deutschen Bahn zu modernisieren, weitere 20 Mrd. Euro, um den Öffentlichen Personennahverkehr auszubauen. Mit 20 Mrd. Euro sollen die größten Rückstände bei der Instandhaltung von Fernstraßen abgebaut werden. 20 Mrd. Euro entfallen auf den staatlichen Anteil beim Ausbau von Breitband-Datenleitungen und bei der flächendeckenden Einführung von 5G-Netzen.
  • Als dritten großen Posten sehen die Wissenschaftler einen 10-Jahres-Investitionsbedarf von 109 Mrd. Euro für eine bessere Bildung. Davon sollten 50 Mrd. Euro in den Ausbau der frühkindlichen Bildung fließen, 34 Mrd. Euro in den Ausbau und den Betrieb von Ganztagsschulen. Weitere 25 Mrd. Euro müssen bereitgestellt werden, um die Finanzierung der Hochschulen zu stärken und Forschung und Entwicklung zu fördern.
  • Auch bei der Dekarbonisierung der deutschen Wirtschaft muss der Staat helfend eingreifen. Wenn die Unternehmen 85% und der Staat 15% der Kosten für eine weitgehende Dekarbonisierung bis 2050 übernähmen, ergibt sich über zehn Jahre ein Betrag von 75 Mrd. Euro für den Staat.
  • Schließlich geht es um Investitionen, um den Wohnungsmangel in vielen deutschen Großstädten zu mildern. Über zehn Jahre sollen daher zusätzlich 15 Mrd. Euro in die Wohnbauförderung fließen.

Mit den insgesamt gut 450 Mrd. Euro könnten bis 2030 nicht nur der Investitionsstau in den Kommunen aufgelöst werden, sondern auch Fortschritte in der Qualität des Bildungssystem, bei Daten- und Verkehrsnetzen sowie bei der Dekarbonisierung des Landes erzielt werden. Eine derartige Investitionsoffensive würde nach Ansicht von IW und IMK deutliche wirtschaftliche Vorteile über Jahrzehnte bringen – etwa, weil teure Energieimporte wegfallen oder weil eine höhere Produktivität durch bessere Bildung und effektivere Technik die geringere Anzahl an Arbeitskräften in einer alternden Gesellschaft teilweise ausgleichen kann.

Weil künftige Generationen so von diesen Investitionen profitieren, ist es sinnvoll, solche Investitionen zumindest zum Teil über Kredite zu finanzieren – zumal der deutsche Staat aktuell auch für Finanzierungen über lange Zeiträume kaum oder keine Zinsen zahlen muss.


Investitionen jenseits der Schuldenbremse

Im Verhältnis zur deutschen Wirtschaftsleistung ist der zusätzliche Finanzbedarf von jährlich gut 45 Mrd. Euro oder rund 1,3% des BIP volkswirtschaftlich kein Problem. Trotzdem ist es unrealistisch, diese Summen durch Umschichtungen in den öffentlichen Haushalten zusammenzubekommen. Und nur wenn die Investitionen verlässlich über den vollen 10-Jahres-Zeitraum sichergestellt würden, könne man erwarten, dass beispielsweise die Bauwirtschaft ihre Kapazitäten ausweite oder Kommunen durch den langen Sparkurs entstandene Personallücken in Baubehörden schlössen – zwingend notwendige Voraussetzungen für das Gelingen der Investitionsinitiative.

Deshalb sei es höchste Zeit, die über zwei Jahrzehnte praktizierte »Investitionstätigkeit nach Kassenlage« und die einseitige Fokussierung auf möglichst geringe Schulden zugunsten einer strategischen, auch längerfristig berechenbaren Investitionspolitik zu beenden. Deshalb müsse die Schuldenbremse und der Stabilitäts- und Wachstumspakt durch eine »Goldene Regel« ergänzt werden. Diese würde Investitionen – zumindest bis zu einer bestimmten Höhe – von der geltenden Neuverschuldungsbegrenzung ausnehmen. Über Kredite finanzierte Investitionen erhöhten zwar den Schuldenstand, gleichzeitig aber auch den Vermögensbestand einer Volkswirtschaft. »Das Nettovermögen wird so nicht geschmälert.« Angesichts des sehr niedrigen Zinsniveaus seien kreditfinanzierte Zukunftsinvestitionen vielmehr extrem lohnend.

Für die technische Umsetzung einer »Goldenen Regel« müssten die Schuldenregeln im Grundgesetz entsprechend modifiziert werden. Zweitens könne aber die Politik »die von den Vätern der Schuldenbremse eingebaute Flexibilität schon jetzt so nutzen, dass im Ergebnis Investitionen im Rahmen einer Goldenen Regel möglich werden«. Das wäre beispielsweise zu erreichen, indem ein öffentliches Unternehmen oder ein Sondervermögen gegründet wird. Dieses könnte die notwendigen Investitionen im Auftrag der öffentlichen Hand übernehmen und die entsprechenden Kredite aufnehmen – ohne dass diese nach den Regeln der Schuldenbremse der Staatsverschuldung zugerechnet würden.

Die in diesem Fonds von Bund und Ländern gemeinsam definierten Investitionen in Höhe von 450 Mrd. Euro ließen sich in einem Zeitraum von zehn Jahren umsetzen. Kurzfristig steigere das Investitionsprogramm gesamtwirtschaftliche Nachfrage und löst einen Multiplikatorprozess aus, Dieser positive Impuls auf die konjunkturelle Entwicklung in Deutschland kommt genau zum richtigen Zeitpunkt. Die langfristigen Effekte aus der Umsetzung des Investitionsfonds resultieren sowohl aus dem direkten Anstieg der staatlichen Investitionstätigkeit als auch aus dem Anstieg der privaten Investitionstätigkeit. Zugleich sinkt der umstrittene deutsche Überschuss in der Leistungsbilanz.

Dies zeige, so das IW, »dass sich ein wachstumsorientiert mutiges Investitionsprogramm … mehrfach auszahlt: Es stabilisiert auch die konjunkturelle Situation, wobei der Effekt sich festigender Erwartungen seitens der privaten Akteure kurzfristig noch nicht abbildet. Es erhöht den Wachstumsspielraum, was Verteilungskonflikte mindern lässt in einer Zeit beträchtlicher klimapolitischer Herausforderungen.«

Dieses vom IW und IMK vorgeschlagene Investitionsprogramm ist sicher – was z.B. Wohnen und Klimawandel betrifft – noch zu gering dimensioniert. Was fehlt sind Maßnahmen zur Abfederung und Steuerung des disruptiven Transformationsprozesses (Dekarbonisierung, Digitalisierung) von Industrie und Dienstleistungsbereich. Hinzukommen müssen Maßnahmen zum Ausbau der öffentlichen Dienstleistungen (Gesundheit, Pflege, Bildung) sowie die Erhöhung des Niveaus der sozialen Mindestsicherungsleistungen.[2] Damit ist dann auch die Frage des Eingriffs in die Verteilungsverhältnisse aufgeworfen, ohne die eine solche »große Transformation« dauerhaft nicht zu haben sein wird. Daran wollen zumindest die Unternehmen nicht rütteln.

Anmerkungen

[1] Hubertus Bardt, Sebastian Dullien, Michael Hüther, Katja Rietzler, Für eine solide Finanzpolitik: Investitionen ermöglichen!, IW-Policy-Paper 10/19.
[2] Vgl. dazu Redaktion Sozialismus, Nachhaltigkeitsrevolution und Green New Deal, in: Sozialismus.de, Heft 10/2019.

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