10. Juli 2023 Bernhard Sander: Schlüsselthema Migration auch dort

Koalitionsbruch in den Niederlanden

Nur wenige Tage nachdem der niederländische König ein Schuldanerkenntnis in Sachen Kolonialismus abgelegt, und sich bei den Sklaven und ihren Nachfahren in den Kolonien und im eigenen Land entschuldigt hat, ist durch die Migrationsfrage der Rücktritt der Regierung Mark Rutte und damit eine Staatskrise möglich geworden.

Das Kabinett Rutte IV war ein Bündnis seiner rechtsliberalen VVD mit der calvinistischen ChristUnie (CU), den Christdemokraten CDA und der liberalen D 66. Es wurde 2021 gebildet unter dem Eindruck eines weiterhin völlig zersplitterten Parlaments (17 Parteien bei 150 Abgeordneten) und dem kometenhaften Aufstieg des elitär-rechtsextremen Forum für Demokratie um Thierry Baudet, das zusammen mit der traditionellen rechtspopulistischen Partei der Freiheit von Geert Wilders knapp ein Fünftel der Landeskinder vertritt.[1]

Die Provinzwahlen im April 2023 führten zu einem weiteren politischen »Erdrutsch«. Die erstmals zu den Provinzparlamenten angetretene rechts-reaktionären Bauern- und Bürger-Bewegung (BBB), die sich gegen die These vom Klimawandel positioniert und das Verbot der Stickstoff-Überdüngung als Existenz gefährdend ablehnt, wurde durchweg zur stärksten Kraft.

Sie liegt in der Provinz Noord-Holland gleichauf mit der VVD, in der Provinz Utrecht mit GroenLinks. Der auf dem Lande zuvor gut verankerte CDA, der die Landwirtschaftspolitik der Regierung Rutte mitgetragen hatte, verlor die Hälfte seiner Wähler*innen.[2] Die drei rechtsextremen Formationen repräsentieren zusammen 52% der Sitze in den Provinzparlamenten.

Der CDA-Vorsitzende, Wopke Hoekstra, sagte im vergangenen Herbst, dass er die Frist zur Halbierung der Stickstoffemissionen bis 2030, die die Pleite und den Aufkauf von rund 11.000 landwirtschaftlichen Betrieben nach sich ziehen könnte, nicht als »heilig« betrachte. CDA-Wohnungsbauminister Hugo de Jonge, dessen Pläne für ein nationales Wohnungsbauprogramm auch davon abhängen, dass die Stickstoffbelastung gesenkt wird, damit die Provinzen wieder Baugenehmigungen erteilen können, sagte: »Wir müssen überlegen, was in einer Reihe von Politikbereichen wirklich notwendig ist.«

Der für die Stickstoffgrenzwerte zuständige Landwirtschaftsminister Piet Adema von der Partei ChristenUnie, die auch von den Wähler*innen in den Provinzen unterstützt wird, sagte: »Für mich ist klar, dass die Niederländer mehr Perspektiven für die Landwirte fordern.«

Die Wirtschaftsplanungsbehörde PBL hat erklärt, dass Zwangsverkäufe der einzige Weg sind, um das Ziel zu erreichen, aber der BBB hat unmittelbar nach den Provinzwahlen angekündigt, dass er alle Maßnahmen blockieren wird, die Landwirte zum Verkauf zwingen. Der Staatsrat (Verfassungsgericht) hat 2019 entschieden, dass die Regierung verpflichtet ist, die europäischen Beschränkungen für die Emission von Stickstoffverbindungen einzuhalten, um die als Natura-2000-Gebiete bekannten Naturschutzgebiete zu schützen. Die Regierung hat den Provinzen eine Frist bis zum 1. Juli gesetzt, um detaillierte Pläne vorzulegen, mit denen die Emissionen in 74% der ausgewiesenen Gebiete bis 2030 unter den Grenzwert gesenkt werden sollen.

Das Thema ist keineswegs beliebig verhandelbar, da die Überdüngung unmittelbare Auswirkungen auf das Trinkwasser hat. Die Trinkwasserversorgung könnte bis zum Jahr 2030 gefährdet sein, wenn die Provinzen und die Wasserversorgungsunternehmen keine Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Kapazitäten ergreifen, warnte die Gesundheitsbehörde RIVM.

Höhere Temperaturen und geringere Niederschläge im Sommer haben die Wasserversorgung in mehreren Provinzen unter Druck gesetzt, darunter Groningen, Overijssel und westliche Teile von Zuid-Holland. Wenn keine alternativen Versorgungsquellen gefunden werden, könnten alle zehn Wasserversorger bis zum Ende des Jahrzehnts mit Engpässen konfrontiert sein, da die Nachfrage steigt, warnte das RIVM. Die Qualität des Trinkwassers verschlechtere sich aufgrund der intensiven landwirtschaftlichen, industriellen und häuslichen Nutzung.

Das RIVM fordert, dass mehr Wasser in Dünen und Reservoirs gespeichert wird, um mögliche Engpässe im Sommer zu überbrücken. Außerdem sollten die Wasserversorgungsunternehmen in Maßnahmen zur Reinigung von Wasser aus dem Abwassersystem und dem Grundwasser investieren. Die Regierung will die Nachfrage senken, indem sie den Wasserverbrauch pro Person bis 2035 von 128 Litern auf 100 Liter reduziert.

»Ohne schnelles Handeln der zuständigen Stellen, insbesondere der Provinzen, wird die Sicherung der Trinkwasserversorgung an immer mehr Orten unter Druck geraten«, so die Dach-Organisation der Wasserversorger. Das bedeutet, dass es nicht möglich sein wird, die Trinkwasserversorgung für geplante neue Wohnungen rechtzeitig zu gewährleisten.


Schlüsselthema Migration

Nach monatelangen Spekulationen darüber, ob die Koalition von Mark Rutte unter der Last ihrer Differenzen über Landwirtschaft und Stickstoffreduzierung zusammenbrechen würde, scheiterte sie dann aber auch an einem anderen Thema, das seit Monaten unter der Oberfläche rumpelt: der Einwanderung. Der Sturz von Ruttes viertem Kabinett lässt sich bis zum vergangenen November zurückverfolgen, als der Premierminister seinen Vorsitz beim COP27-Klimagipfel in Ägypten aufgab, um eine mögliche Revolte der Abgeordneten seiner eigenen Partei zu bekämpfen.

Rutte lenkte mit der Migrationsfrage von der Überdüngung und der Landwirtschaft ab und die Aufmerksamkeit auf das zweite Megathema des Landes: die angeblich zu hohe Zuwanderung. Konkret stand jetzt die Frage, ab wann Asylbewerber*innen ihre Familie nachkommen lassen dürfen. Letztlich lösten die Einstellungen zu den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine die Krise aus.

Die VVD-Mitglieder waren alarmiert über die Schätzungen der Regierung, dass in diesem Jahr 70.000 Asylsuchende im Land ankommen könnten. Selbst als die tatsächlichen Zahlen mit 18.300 Anträgen zwischen Januar und Mai des Jahres weitaus niedriger ausfielen, was für das Jahr hochgerechnet rund 45.000 Anträge wären, konnte dies ihre Befürchtungen, Stimmen an weiter rechts stehende Parteien wie Geert Wilders’ PVV und JA21 zu verlieren, nicht lindern.

Die VVD-Fraktion, angeführt von Ruttes ehemaliger politischer Assistentin Sophie Hermans, drohte damit, einen Gesetzentwurf abzulehnen, der dem Asylminister Eric van der Burg die Befugnis geben würde, Flüchtlinge im ganzen Land zu verteilen, auch wenn dies gegen den Willen der lokalen Räte verstoße. Das wäre ähnlich wie in der Gülle-Angelegenheit als Bevormundung durch die fernen Eliten in Den Haag empfunden worden.

Die Maßnahme wurde nach den Überbelegungsproblemen im zentralen Asylaufnahmezentrum Ter Apel in Groningen im vergangenen Sommer als notwendig erachtet. Die Flüchtlinge mussten sich Matratzen teilen oder draußen auf dem Rasen schlafen, nachdem das Zentrum keine Betten mehr hatte.

Rutte sicherte sich die Unterstützung seiner Partei für den Gesetzentwurf, aber nur unter der Bedingung, dass er einen Weg fände, die Zahl der Asylbewerber*innen, die die Grenze überqueren dürfen, zu begrenzen. Auf einem Parteitag wenige Wochen später habe er sich »persönlich verpflichtet«, die Zahlen »substanziell« zu senken. Seit Monaten versuchen der rechte Flügel von Ruttes VVD-Partei und die christdemokratische CDA strengere Einschränkungen durchzusetzen insbesondere bei der Familienzusammenführung für Flüchtlinge mit »vorübergehendem« Aufenthalt.

Im vergangenen August ließen sich CU und D66 widerwillig auf ein Gesetz ein, das das Recht auf Familienzusammenführung für Flüchtlinge, die in Notunterkünften leben, auszusetzte. Sie machten aber deutlich, dass es keine weiteren Zugeständnisse geben werde. Das Projekt, die Finanzierung der »Unterkunft und Verpflegung« für Menschen, deren Asylantrage abgelehnt wurde, einzustellen, wurde von D66 und der CU blockiert.

»Es ist kein Geheimnis, dass die Koalitionsparteien sehr unterschiedlich über die Asylpolitik denken, und heute müssen wir leider den Schluss ziehen, dass die Differenzen unüberbrückbar sind«, sagte Rutte. Allerdings weigerte sich der niederländische Ministerpräsident, eine einzelne Partei für das Scheitern der Asylpolitik verantwortlich zu machen.

Die VVD, unterstützt von den CDA-Christdemokraten, plädierte dafür zwei Klassen von Flüchtlingen zu schaffen, diejenigen, die vor persönlicher Verfolgung fliehen, und diejenigen, die Schutz vor Kriegsgebieten suchen, und der zweiten Gruppe weniger Rechte zu gewähren, einschließlich einer Begrenzung der Zahl der Familienzusammenführungen. Auch das stieß auf den entschiedenen Widerstand von D66 und CU, für die Familienwerte eine existentielle Rolle spielen. Dieses Zwei-Klassen-System bedeute, gefährdete Kinder in kriegszerrütteten Ländern ihrem Schicksal zu überlassen.

»Jetzt, da wir uns auf dieses Thema nicht einigen können, haben wir gemeinsam in einer Kabinettssitzung beschlossen, dass die Unterstützung für diese Koalition weggefallen ist.« Es gibt die Vermutung, Rutte habe gehandelt, um eine Wahl zu einem für ihn potenziell günstigeren Zeitpunkt in den Umfragen auszurufen.

Jan Paternotte, Vorsitzender der liberaldemokratischen D66-Fraktion, sagte, Rutte sei derjenige gewesen, der den Stecker gezogen habe. Für Rutte tickte die Uhr. Die engmaschige Disziplin innerhalb seiner VVD-Partei franste aus, und starke Gruppen auf dem Parteitag drängten ihn, einen »Asylstopp« zu verhängen, ohne zu sagen, wie dies mit den internationalen Verpflichtungen der Niederlande vereinbar war.

Eine Zeitung schrieb: »Als er sagte, dass sein Untergang ihn persönlich berührt habe, war es im Ton eines Hundebesitzers, der gerade zugestimmt hatte, seinen besten Freund einschläfern zu lassen. […] Aber der Hauptgrund für den Zusammenbruch der niederländischen Regierung ist, dass Mark Rutte, der nicht in der Lage war, einen Kurs zwischen seiner Partei und seinem Kabinett zu steuern, den Eisberg wählte.«[3] Der eigentliche »Eisberg« kommt aber vermutlich erst noch: Rechtsextremismus und Rechtspopulismus in all ihren parteipolitischen Schattierungen – und besonders abwehrbereit scheint die niederländische Gesellschaft nicht.


Tiefer sozialer Riss und reaktionäre Ressentiments

Einerseits zieht sich ein tiefer sozialer Riss auch durch die Niederlande: Die Zahl der Millionäre steigt weiter an. Im Januar 2021 waren 4% der Haushalte des Landes zumindest auf dem Papier Millionäre, teilte die nationale Statistikbehörde CBS. Die Gesamtzahl 317.000 stieg damit um 32.000 gegenüber dem gleichen Zeitraum im Jahr 2020. Das Gesamtvermögen umfasst sowohl Immobilien als auch Hypothekenschulden.

Die Millionäre verfügten im Durchschnitt über ein Vermögen von 1,6 Mio. Euro, während die Nicht-Millionäre im Durchschnitt 75.000 Euro besaßen, so die CBS. Nur 3% aller Millionäre verfügten über ein Vermögen von mehr als 10 Mio. Euro. Etwa 60% der Hauptverdiener in Millionärshaushalten waren selbständig. Bankiers, Landwirte und Vermieter hatten am häufigsten ein Vermögen von über einer Million Euro.

Andererseits breiten sich reaktionäre Ressentiments immer stärker aus. Der anti-institutionelle Extremismus ist in den Niederlanden auf dem Vormarsch, dank einer Kohorte von Gruppen, die glauben, dass die Niederlande von einer »bösen Elite« regiert werden, die der Feind des Volkes ist, sagte der niederländische Inlandsgeheimdienst (AIVD). Diese Botschaft habe nach dem Coronavirus neuen Auftrieb erhalten und sei derzeit die beliebteste extremistische Darstellung in den Niederlanden, so der AIVD.

Der zentrale Grundsatz des anti-institutionellen Extremismus »stellt eine ernsthafte langfristige Bedrohung für das Land dar«, so die Agentur in ihrem Jahresbericht 2022. Der AIVD stuft den anti-institutionellen Extremismus aus zwei Gründen als gefährlich ein. Zum einen bestehe die Gefahr, dass Menschen, die an diese Theorien glauben, am Ende Gewalttaten begehen oder gutheißen.

»Zum anderen tragen Verschwörungstheorien zu einem Mangel an Vertrauen in die Politik, das Rechtssystem und die Medien bei (es dürfte wohl umgekehrt sein – BS).« Der AIVD warnte insbesondere vor Anhänger*innen von Verschwörungstheorien, die eine Parallelgesellschaft mit eigener Währung und eigenem Rechtssystem schaffen wollen, wie es das rechtsextreme Forum voor Democratie vorschlägt.[4]

Etwa 12% der niederländischen Erwachsenen glauben, dass der Holocaust ein Mythos war oder dass die Zahl der getöteten Juden stark übertrieben wurde, und weitere 9% sind sich nicht sicher. Dies ergab eine Umfrage einer internationalen Organisation zur Unterstützung von Holocaust-Überlebenden unter etwa 2.000 Personen. Die »Claims Conference«, die die Ergebnisse als schockierend und beunruhigend bezeichnet, sagt, dass die Zahl unter den unter 40-Jährigen sogar noch höher ist: 23% sagen, der Holocaust sei ein Mythos oder die Zahl der Todesopfer sei übertrieben. Mehr als die Hälfte der Teilnehmer*innen an der Umfrage wusste nicht, dass sechs Mio. Juden ermordet wurden, und 29% glauben, dass die Zahl der Opfer unter zwei Millionen lag.

Die Forscher*innen fragten die Befragten auch, ob es akzeptabel sei, neonazistische Ansichten zu unterstützen. Etwa 22% der unter 40-Jährigen und 12% der Befragten insgesamt bejahten dies. Mehr als 70% der jüdischen Bevölkerung der Niederlande wurde in Konzentrationslager deportiert. Dennoch nannten 53% aller Befragten und 60% der unter 40-Jährigen ihr Land nicht als einen Ort, an dem der Holocaust stattgefunden hat.

Die Umfrage hat aber auch gezeigt, dass zwei Drittel der niederländischen Befragten der Meinung sind, dass Holocaust-Erziehung in der Schule obligatorisch sein sollte. Und 77% sagten, es sei wichtig, weiterhin über den Holocaust zu unterrichten, damit er sich nicht wiederholen kann.

Eine ähnliche Umfrage im Jahr 2018 ergab, dass ein Drittel der 1.500 befragten Jugendlichen keine Ahnung hatte, was der Holocaust eigentlich bedeutet. Marc van Berkel, Dozent an der Hochschule von Arnheim und Nimwegen, sagte, dass der Rückgang des Geschichtsunterrichts an den Schulen eine Rolle gespielt haben könnte: »Etwa 65% der Schüler*innen haben nach dem 15. Lebensjahr überhaupt keinen Geschichtsunterricht mehr.«[5]

Die derzeitige Regierung wird bis zu den Parlamentswahlen, die voraussichtlich Mitte November stattfinden werden, den Status eines Verwalters beibehalten – und nicht in der Lage sein, neue politische Entscheidungen zu treffen – es sei denn, es kommt zu einem Notfall.

Anmerkungen

[1] Vgl. Bernhard Sander, Die Niederlande weiter nach rechts, Sozialismus.deAktuell vom 21. März 2019.
[2] Vgl. Bernhard Sander, Gesellschaftliche Spaltung in den Niederlanden, Sozialismus.deAktuell vom 16. März 2023.
[3] Widersprüchliche Haltungen zu Flüchtlingen ließen Rutte keinen Ausweg - DutchNews.nl.
[4] DutchNews.nl April 17, 2023.
[5] 23% of Dutch under-40s think the Holocaust was a myth or exaggerated - DutchNews.nl 25.1.2023.

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