1. Juni 2022 Otto König/Richard Detje: »Mumien« mobilisieren gegen neue »Verfassung«

Neue »Magna Charta« für Chile steht

Die neue »Magna Charta« für Chile steht. Sollte sie beim Referendum am 4. September dieses Jahres die Zustimmung erhalten, würde sich 32 Jahre nach dem Plebiszit, mit dem das formale Ende der faschistischen Militärdiktatur Augusto Pinochets (1973-1990) in die Wege geleitet wurde, das chilenische Volk der letzten Erbschaft der Militärdiktatur entledigen: einer Verfassung, die der oligarchischen Elite die Ausbeutung von Land, natürlichen Ressourcen und Arbeitskraft per Gesetz sicherte.

Der neue Verfassungstext des südamerikanischen Landes wurde von Aktivist*innen der Zivilgesellschaft und der politischen Kräfte von Mitte bis Links in einem einmaligen basisdemokratisch organisierten Prozess geschrieben. Schon fast »revolutionär« war, dass zum ersten Mal in der »Convención Constitucional« (der verfassungsgebenden Versammlung) eine gleiche Anzahl von Frauen und Männern vertreten waren sowie 17 Delegierte der anerkannten indigenen Völker Chiles, deren Rechte in der bisher geltenden Verfassung nicht anerkannt werden.

Das Ergebnis der Arbeit der 155 Delegiert*innen ist eine Stärkung des Sozialstaates, die Einführung sozialer Grundrechte auf Verfassungsebene, die Stärkung der Regionen und Gemeinden gegenüber dem chilenischen Zentralstaat sowie die Anerkennung und Erteilung besonderer Grundrechte für die indigenen Völker des Landes. Der erste Verfassungsartikel etabliert einen sozialen und demokratischen Rechtsstaat und schafft die Subsidiarität des Staates ab. Dies bedeutet das Ende der sozialen Schutzlosigkeit und beendet das Privileg der Kapitaleigner, soziale Dienstleistungen zu Waren zu machen. Chile verwandelt sich formal in einen »plurinationalen Staat«, das bolivianische Modell anerkennt die indigenen Völker des Landes mit eigenen Rechten, die unter dem gleichen Staatsgebilde koexistieren.

»Chile aprobó«[1] hieß es nach dem historischen Tag im Oktober 2020: Mehr als 79% der Chilen*innen stimmten ein Jahr nach den massenhaften sozialen Protesten mit »Ja« für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Gleichzeitig votierten sie für einen komplett aus Bürger*innen zusammengesetzten Konvent. Sie lehnten den Versuch der Piñera-Führung ab, die Hälfte des Gremiums mit Mitgliedern des Parlaments zu besetzen. Es war ein erster Etappensieg auf dem langen Weg hin zu einer gerechten Gesellschaft, die ein würdiges Leben ermöglicht und die abgrundtiefe soziale Ungleichheit beenden soll.

Die aktuell noch gültige Verfassung wurde 1980 unter der Führung des Ideologen der Pinochet-Diktatur, Jaime Guzmán, ohne demokratische Legitimierung geschrieben. In ihr wurde der Neoliberalismus als Staatsraison verfassungsrechtlich festgeschrieben und autoritär-militärisch abgesichert. Das neoliberale Modell hat jedoch mittlerweile seine Glaubwürdigkeit bei den Chilen*innen eingebüßt, die endlich die langen Schatten der Diktatur abschütteln wollen. Seit Jahren demonstrieren Schüler*innen und Studierende für eine gute und kostenlose Bildung, die Frauenbewegung gegen Sexismus und Femizide, die sozialen Bewegungen wie die »No Más AFP« und Gewerkschaften gegen die privaten Pensionsfonds AFP (Administradoras de Fondos de Pensiones) sowie die indigene Bevölkerung wie die Mapuche für die Rückgabe ihrer Ländereien und Teilhabe an der Gesellschaft. Sie alle bildeten gemeinsam die Basis der Revolte, die nach einer Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr ausbrach und am 25. Oktober 2019 über eine Million Menschen in Santiagos Zentrum auf die Straße brachte, obwohl der rechte Präsident Sebastián Piñera den Ausnahmezustand verhängt hatte.

Schließlich wurde am 15. November das »Abkommen für den Frieden und für eine neue Verfassung« beschlossen – ein klarer Erfolg der sozialen Bewegungen. Nur sechs Monate später wählten die Chilen*innen die 155 Mitglieder der »Convención Constitucional«. Das Ergebnis war eine herbe Niederlage für die rechts-konservative Regierungskoalition des Präsidenten Sebastián Piñera, denn sie verfehlte im Konvent die Sperrminorität und damit die Möglichkeit, inhaltliche Änderungen bei der Ausarbeitung der Verfassung zu blockieren. Die neue Magna Charta Chiles konnte von einer neuen politischen Generation geschrieben werden. Indigene Völker, auf die in der Vergangenheit nie gehört wurde, nahmen ebenfalls teil.

Das Wahlergebnis für die verfassungsgebende Versammlung bedeutete zugleich eine Steilvorlage für die Präsidentschaftswahlen im November 2021, aus der der Kandidat des linken Bündnisses »Apruebo Dignidad« (»Ich stimme der Würde zu«), bestehend aus Frente Amplio und der kommunistischen Partei, Gabriel Boric, als Sieger hervorging. Mit Boric kam eine Linke an die Macht, in der sich die Abkehr vieler Chilen*innen von der traditionellen politischen Klasse widerspiegelt; er repräsentiert jene jungen Menschen, die seit Jahren immer wieder auf die Straße gegangen sind, um für ein gerechteres Land zu kämpfen. Sein Sieg war ein weiterer wichtiger Baustein auf dem Weg, Chile neu zu begründen.

Mitte Mai haben die Delegiert*innen des »Convención Constitucional« die letzten Verfassungsartikel verabschiedet. Eine Harmonisierungskommission muss nun bis zur gesetzlichen Frist, dem 5. Juli 2022, den endgültigen Entwurf fertig schreiben.

Der erste Artikel der neuen Verfassung definiert Chile als sozialen und demokratischen Rechtsstaat. Das Land »konstituiert sich als eine solidarische Republik, seine Demokratie ist paritätisch und es erkennt als wesentliche und unveräußerliche Werte die Würde, die Freiheit, die grundsätzliche Gleichheit der Menschen und ihre unauflösliche Beziehung zur Natur an«. Der Staat soll einen dominanteren Einfluss bekommen: Das gilt für die Wirtschaft – etwa im Bergbau, bei Wasserrechten und dem Eigentum an Rohstoffen – genauso wie für den Sozialstaat, der künftig private Anbieter von Bildung, Pensionen und Krankenversicherungen nicht mehr nur ergänzen, sondern deren Funktionen weitgehend übernehmen soll.

In den neuen Verfassungstext sind viele Forderungen der sozialen Bewegungen eingeflossen: Rechte auf eine eigene Wohnung, auf Abtreibung oder auf kostenlose Bildung bis zur Universitätsebene wurden aufgenommen. Zusätzlich wurde beschlossen, dass der Staat nicht nur den Zugang gewähren, sondern die sozialen Grundrechte auch garantieren soll. Der Konvent verabschiedete einen Artikel, der Wasser zum allgemeinen Gut erklärt: Damit endet die Privatisierung des Wassers, was bisher zu einer ungleichen Verteilung zwischen Großgrundbesitzern und kleinen Bauern sowie dem Rest der Bevölkerung führt.

In Artikel 12 heißt es: »Chile ist ein mehrsprachiger Staat, seine Amtssprache ist das Spanische und die Sprachen der indigenen Völker sind offizielle Sprachen in ihren Territorien und in Gebieten mit einer hohen Bevölkerungsdichte jedes indigenen Volkes. Der Staat fördert das Wissen, die Wiederbelegung, die Wertschätzung und die Respektierung der indigenen Sprachen aller Völker des Plurinationalen Staates.« Die neue Verfassung sieht reservierte Sitze für Indigene in allen gewählten Volksvertretungen wie Parlamente oder Gemeinderäte vor. Die genaue Anzahl soll je nach indigenem Bevölkerungsanteil im jeweiligen Wahldistrikt bestimmt werden. Der Konvent erkennt durch die Artikel die historischen Ansprüche der indigenen Völker an, die zum Großteil im 19. Jahrhundert vom chilenischen Staat erobert und von ihren Ländereien vertrieben wurden. »Damit öffnet der Verfassungskonvent den Weg zur Lösung lang andauernder Konflikte«, sagte die Mapuche und Abgeordnete für den Konvent, Rosa Catrileo.

Auch in Schlüsselfragen zum politischen System, zur Regierung und zum Wahlsystem haben die Delegiert*innen Pflöcke gesetzt. Der Beschluss zur Abschaffung des Senats und stattdessen die Einrichtung einer Regionalkammer ist ein wesentlichen Punkt. Der beschlossene Artikel 9 legt fest, dass »die Regionalkammer ein beratendes, paritätisches und plurinationales Organ der regionalen Vertretung ist, zuständig für die Mitwirkung bei der Ausarbeitung von Gesetzen über regionale Abkommen und für die Ausübung der sonstigen durch diese Verfassung übertragenen Befugnisse«. »Seine Mitglieder werden als regionale Vertreter bezeichnet«, ergänzt der Text. In diesem Sinn wird das neue legislative Organ weiterhin aus zwei Kammern bestehen. »Wir sind dabei, das neue politische System zu gestalten: Mit einer asymmetrischen Legislative aus zwei Kammern. Auf diese Weise lassen wir den Senat hinter uns und gehen den Schritt zu einer Kammer der Regionen (Cámara de las Regiones), um die Repräsentation der Regionen zu verbessern, den legislativen Verfahrensweg zu beschleunigen und auf die Forderungen der Bürgerschaft einzugehen«, erläuterte Constanza Schonhaut, Konvent-Mitglied der Frente Amplio. (Amerika 21, 7.5.2022)

Rechte Medien und Politiker*innen der bisherigen politischen Elite reagierten entsetzt. Mitglieder des bisherigen Senats stellten die Entscheidung so dar, als ob Chile zu einem Einkammersystem übergehen würde. Senatspräsident Álvaro Elizalde von der Sozialistischen Partei sprach von einem »inkohärenten« Verfassungsartikel und der rechte Senator Francisco Chahuán behauptete, dass damit das wichtigste Kontrollorgan gegenüber der Exekutive eliminiert werden soll.

Dem Vorschlag, der die unmittelbare Wiederwahl von Präsident*innen erlaubt, wurde zugestimmt. Außerdem senkt der Artikel 40 das Mindestalter für die Ausübung des höchsten Amts: »Um als Präsidentin oder Präsident der Republik gewählt zu werden, ist es notwendig, die chilenische Staatsangehörigkeit zu haben, Bürgerin oder Bürger mit Wahlrecht zu sein und das 30. Lebensjahr vollendet zu haben.«. Des Weiteren ist ein tatsächlicher Wohnsitz auf nationalem Territorium für mindestens vier Jahre vor der Wahl erforderlich, es sei denn, jemand war im Ausland im Einsatz. Mit der neuen Verfassung wird ein Stimmrecht ab 16 Jahren und eine obligatorische Wahlteilnahme ab dem 18. Lebensjahr eingeführt. Personen, die wegen Menschenrechtsverletzungen, Sexualverbrechen oder Korruption verurteilt wurden, dürfen weder öffentliche Ämter bekleiden noch zu Wahlen antreten.

Je näher der Zeitpunkt des Referendums rückt, umso stärker mobilisiert die politische Rechte gegen den neuen Verfassungstext. In konservativen Kreisen und in der Wirtschaft besteht die Furcht, dass sie ihre angestammten Privilegien verlieren könnten. Etwa 70 Persönlichkeiten aus der Politik, der Wirtschaft und ehemalige Minister der früheren Mitte-links-Regierungen haben sich in einem losen Bündnis zusammengeschlossen, um vor einer »Neugründung« Chiles »von null auf« zu warnen (FAZ, 6.4.2022) Anstatt einer Annahme oder Ablehnung sollte den Chilen*innen zusätzlich die Möglichkeit eines »Nein, aber« ermöglicht werden. Ein solches Votum könnte als Auftrag an den Kongress verstanden werden, wo jene politischen Kräfte vertreten sind, die den verfassungsgebenden Prozess scheitern sehen wollen.

Kritische Beobachter*innen sprechen von einem Komplott der »Momios« (Mumien), die im Konvent nur eine Minorität waren. Unterstützt wird deren Kampagne durch Umfrageergebnisse des Piñera nahestehenden Meinungsforschungsinstituts Cadem, das die Hiobsbotschaft verbreitet, eine relative Mehrheit von 44% der Wahlbevölkerung wolle die neue Verfassung ablehnen. Gelingt es in den verbleibenden Wochen, die Details der neuen Verfassung zu erklären, die unerlässlich für die soziale Transformation sind, wird am Ende eine Mehrheit für die neue Verfassung stimmen. Der seit März regierende Präsident Gabriel Boric erklärte: »Ich arbeite dafür, dass der 4. September der Moment sein wird, in dem wir die Verfassung der 80er Jahre überwinden werden.« Tatsächlich würde die neue Magna Charta seine Präsidentschaft stärken und den politischen Umbruch im Land mit vorantreiben.

Anmerkung

[1] Siehe auch Otto König/Richard Detje: Pinochet-Ära endlich beendet, »Chile aprobó«, SozialismusAktuell.de vom 28.10.2020

 

 

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