2. Dezember 2018 Otto König/Richard Detje: EGMR verlangt Freilassung des ehemaligen HDP-Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş

Politische Geisel

Seit über zwei Jahren ist Selahattin Demirtaş im Hochsicherheitsgefängnis Edirne in der Westtürkei interniert. Demirtas und Figen Yüksekdag, mit der er den Vorsitz der Demokratischen Partei der Völker (HDP) teilte, sowie neun weitere HDP-Abgeordnete waren am 3. November 2016 rechtswidrig verhaftet worden.

Dem ehemaligen Co-Vorsitzenden wird unter anderem »Terrorpropaganda«, »Mitgliedschaft in einer Terrorgruppe« sowie »Volksverhetzung und Aufstachelung zur Gewalt« vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft fordert 142 Jahre Haft.

Mitte November 2018 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg die Türkei wegen Verstoßes gegen Artikel 18 der europäischen Menschenrechtskonvention verurteilt und die Freilassung des Oppositionspolitikers verlangt. Demirtaş’ Rechte als gewählter Parlamentarier seien verletzt worden. Damit stellten die Straßburger Richter zugleich fest, dass die Untersuchungshaft ein »unrechtmäßiger Eingriff in die freie Meinungsäußerung des Volkes« sei.

Die während des Referendums zur Einführung des Präsidialsystems im vergangenen Jahr und über die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Sommer dieses Jahres hinaus andauernde Untersuchungshaft dient nach Ansicht des EGMR dem Ziel, in der Türkei »den Pluralismus zu ersticken und die Freiheit der politischen Debatte zu begrenzen«.[1]

Während Demirtaş sich durch die Entscheidung der Straßburger Richter bestätigt fühlt, dass er als »politische Geisel« in Haft gehalten wird, und sein Verteidigerteam auf Basis des EGMR-Urteils beim zuständigen Gericht in Ankara die Aufhebung des Haftbefehls und die Entlassung aus der Untersuchungshaft beantragt hat, wies Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan den Richterspruch demonstrativ zurück: »Dieses Urteil ist für uns nicht bindend«. Die Türkei werde den Fall selbst »erledigen«, betonte er gegenüber der staatlichen Presseagentur Anadolu.

Diese Reaktion ist bezeichnend für einen Autokraten, der sich politischer Konkurrenten dadurch entledigt, dass er sie von einer gleichgeschalteten Justiz unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung ins Gefängnis stecken und so aus dem politischen Geschehen entfernen lässt. Und zugleich ist sie ein gravierender Affront gegenüber dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Schließlich sei die Türkei als Mitglied des Europarats an das EGMR-Urteil gebunden, so Andrew Gardner, Türkei-Experte von Amnesty International (AI). Deshalb müssten die türkischen Behörden »die Gerichtsentscheidung umsetzen und Demirtas aus seiner langwierigen und rechtswidrigen Untersuchungshaft entlassen.

Selahattin Demirtaş wurde 2014 Mitglied der HDP und gemeinsam mit Figen Yüksekdağ zum Co-Vorsitzenden gewählt. Beiden gelang es aus der bisher vorwiegend kurdischen Partei eine progressive Bewegung für Kurd*innen und Türken, Muslime und Armenier*innen, Linke und Liberale zu formen. Die urbane Mittelschicht in Izmir oder Istanbul unterstützte die Partei genauso wie Feministinnen und LGBT-Aktivisten. Die HDP vereint auch Teile des Gezi-Protestes, der so viele Türken hatte hoffen lassen.

Bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 führte der Menschenrechtsanwalt aus Diyarbakir seine Partei mit über sechs Millionen Stimmen als drittstärkste Partei ins türkische Parlament. Die HDP hatte mit 13,5% erstmals die Zehn-Prozent-Hürde überwunden, was die konservativ-islamistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) die absolute Mehrheit im Parlament kostete. Erdoğan blockierte daraufhin die Regierungsbildung und erzwang Neuwahlen. Darüberhinaus kündigte er die Friedensgespräche mit der PKK auf, in der die HDP als Vermittler aufgetreten war und entfachte einen verheerenden Krieg gegen die kurdische Bevölkerung im Südosten des Landes.

Dem charismatischen Hoffnungsträger der Linken und Minderheiten gelang es, die HDP erfolgreich als Plattform der Anti-Erdoğan-Kräfte zu positionieren. Demirtas entwickelte sich zum schärfsten Kritiker und wichtigsten Gegenspieler Erdogans, indem er immer wieder vor einer »Ein-Mann-Herrschaft« in der Türkei warnte. Der Autokrat schlug zurück: Nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 und dem daraufhin verhängten Ausnahmezustand wurden Demirtas und Yüksekdag im November verhaftet. Zuvor hatte das Parlament in Ankara mit den Stimmen der sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei (CHP) einen Beschluss gefasst, der die Anklage von Parlamentariern und die Aufhebung ihrer Immunität erlaubte. Damit war ein Fanal im Kesseltreiben gegen die HDP gesetzt.

Demirtaş ist die »prominenteste Geisel« des türkischen Justizsystems. Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft reichen von »Beleidigung der türkischen Nation« über »Terrorpropaganda« bis zu »Anstachelung zur Gewalt«. Als »Propaganda für Terrororganisationen« werden ihm Passagen aus Reden vorgeworfen, die er während des zweijährigen Friedensprozesses der Regierung mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK gehalten hatte.[2]

Damals gehörte er zu einer von Erdoğan bestätigten Delegation, die einen Waffenstillstand aushandeln sollte. Die Ankläger fordern nun wegen Unterstützung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung 142 Jahre Haft. Hinter diesem zynischen Vorgehen steckt die Taktik, den Untersuchungshäftling zu zermürben, seinen Widerstand zu brechen. In einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung sagte Demirtaş zwar »Alles ist schwer«, aber fügte hinzu: »Mit freien Gedanken kann ich den physischen Barrieren widerstehen.«

Bis Februar 2017 HDP-Co-Vorsitzender trat Selahattin Demirtaş im Juni desselben Jahres aus der Haftzelle heraus im Präsidentschaftswahlkampf gegen Recep Tayyip Erdoğan an und holte 8,3% der Stimmen – und das, obwohl seine Partei durch das AKP-Regime systematisch geschwächt wurde. Auch wenn die HDP bisher nicht verboten wurde: Neben den beiden ehemaligen Co-Vorsitzenden sind mehrere Abgeordnete in Haft, über hundert Bürgermeister*innen sind abgesetzt, inhaftiert und ihre Städte unter Zwangsverwaltung der AKP gestellt worden. Tausende Parteimitglieder wurden unter dem Vorwurf »Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung« verhaftet und haben ihre Jobs verloren.

Trotz zwischenzeitlicher Beendigung des Ausnahmezustandes gehen die Massenverhaftungen weiter. Niemand ist mehr sicher: Es trifft kritische Journalisten ebenso wie Social-Media-Nutzer, protestierende Frauen und streikende Arbeiter. Bereits im September wurde in Istanbul eine Kundgebung von Müttern, die seit Jahren nach ihren verschwundenen Söhnen suchen, von der Polizei aufgelöst.[3] Im gleichen Zeitraum wurden 500 Arbeiter verhaftet, weil sie für bessere Arbeitsbedingungen auf dem neuen Istanbuler Großflughafen und die Auszahlung ihrer Löhne gestreikt haben. Und Mitte November gingen Sicherheitskräfte mit Tränengas gegen Frauen vor, die anlässlich des »Internationalen Tages gegen Gewalt an Frauen« demonstrierten. Die Demonstrantinnen skandierten: »Wir schweigen nicht, wir haben keine Angst, wir gehorchen nicht.«

Mittlerweile machen sich die Behörden gar nicht mehr die Mühe, Haftgründe zu konstruieren. Ziviler Ungehorsam wird als Umsturzversuch gewertet. Für Erdoğan und seine Gefolgschaft gilt: Opposition grenzt an oder ist Hochverrat und muss entsprechend geahndet werden. So die Botschaft der Justizbehörden, als in den zurückliegenden Wochen Sicherheitskräfte gegen 20 prominente Intellektuelle und Wissenschaftler aus dem Umfeld des inhaftierten Kulturmäzens Osman Kavala[4] vorgingen. Die festgenommenen Akademiker werden beschuldigt, vor fünf Jahren die »Gezi-Park«-Proteste organisiert zu haben. An diesen Protesten waren mehrere Millionen Menschen beteiligt, die gemeinsam für die türkische Demokratie gestritten haben.

Im Nachhinein deutet Erdoğan diese Proteste zu einem Staatsstreich um und stellt sie in eine Reihe mit dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli 2016: »All jene, die Gezi unterstützten, unterstützten auch die PKK und die Bewegung des Islamistenpredigers Fethullah Gülen, des Drahtziehers des Putschversuchs«. Indem die Justiz der Gezi-Bewegung nun offiziell Aufstand, Putschversuch und »Verbrechen gegen die Verfassung« vorwerfe und dabei auffällig oft das »Konzept des zivilen Ungehorsams« anprangere, habe diese eine neue Straftat geschaffen, die vermutlich ab sofort in Strafprozessen benutzt werde, so der an der Athener Universität lehrende türkische Politikwissenschaftler Cengiz Aktar gegenüber der Frankfurter Rundschau (17.11.2018).

Die Auswirkungen der schwersten Rezession[5] seit Erdoğans Machtübernahme 2003 könnten dazu führen, dass das AKP-Regime dafür bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 2019 die Rechnung präsentiert bekommt. Die Inflation ist im Oktober auf den Rekordwert von 25% geklettert. Lebensmittel stiegen im Preis um 30%, Obst und Gemüse um 50%. Immer häufiger machen Meldungen über Unternehmenskonkurse die Runde, Rechnungen werden nicht mehr bezahlt, die Zuversicht von Unternehmen und Verbrauchern ist auf einem Tiefstand. Selbst unter Regierungsanhängern regt sich Unmut. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Metropoll ist Erdoğans Zustimmungsrate auf 40% gefallen. Nur 32% würden bei einer Wahl die Stimme der regierenden AKP geben. »Die Spannungen nehmen zu, und um zu verhindern, dass diese Spannungen irgendwo hinführen, müssen sie sofort unterdrückt werden«, sagt die Istanbuler Politologin Yasemin Acar (SPON. 26.11.2018),

Ausgerechnet in einer Phase, in der die autoritäre Herrschaft Erdoğans stärker diktatorische Züge entwickelt, leiteten Außenminister Heiko Maas und Wirtschaftsminister Peter Altmaier eine Wende in der deutschen Türkeipolitik ein. Beide Staaten hätten »ein strategisches Interesse daran«, ihre bilateralen »Beziehungen konstruktiv zu gestalten«. Es gehöre zur staatspolitischen Räson Deutschlands, so das Leitmotiv der Berliner Großen Koalition, das Brückenland zwischen Europa und dem Orient zu unterstützen, dabei hat man die geostrategische Kräfteverschiebungen in der vorderasiatischen Region im Blick.

Der Ausbau der deutsch-türkischen Zusammenarbeit ist mit Milliardenaufträgen für deutsche Konzerne[6] und mit deutschen Beiträgen zum Aufbau einer eigenen türkischen Rüstungsindustrie verbunden. Die Türkei will eigene Kampfpanzer bauen; der Prototyp namens Altay nutzt einen Dieselmotor von MTU (Friedrichshafen) sowie eine Glattrohrkanone von Rheinmetall. Im Frühjahr ist der Auftrag zum Bau der ersten 250 Altay-Kampfpanzer an das türkische Unternehmen BMC vergeben worden, das selbst noch nicht über Erfahrungen im Panzerbau verfügt, aber mit Rheinmetall in einem eigens gegründeten Joint Venture (Rheinmetall BMC Savunma Sanayi, Rheinmetall BMC Defence Industry, RBSS) kooperiert.

Es ist beschämend, dass nach dem Motto »Geschäfte first, Menschenrechte second« die Forderungen nach Wiederherstellung rechtsstaatlicher Prinzipien und Freilassung der zu Unrecht inhaftierten Journalisten und politischen Gefangenen geostrategischen Überlegungen und dem Profit geopfert werden. Schon nach der Freilassung von Deniz Yücel, Peter Steudtner und Meşale Tolu hatte der politische Druck aus Deutschland auf die AKP-Regierung nachgelassen. Dabei werden noch heute fünf deutsche Staatsbürger unter falschen Beschuldigungen in Haft gehalten.

[1] Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, beide Seiten können innerhalb von drei Monaten Rechtsmittel einlegen.
[2] Im September 2018 wurde Demirtas in Istanbul in einem ersten Prozess zu vier Jahren und acht Monaten Jahren Haft verurteilt. Es ging es um eine Rede von 2013 beim kurdischen Neujahrsfest Newroz, in der er größere kulturelle und politische Rechte für die bis zu 20 Millionen Kurden in der Türkei gefordert hatte. Damals priesen große regierungsnahe Zeitungen die Ansprache mit der Titel-Schlagzeile »Friedens-Zeit«. In seinem per Videoschaltung übertragenen Schlusswort sagte er zu den Richtern, dass er zu seinen Äußerungen von 2013 stehe: »Sie nennen das Terrorpropaganda, aber ich werde kein Wort zurücknehmen, selbst wenn Sie mich zu 1000 Jahren Haft verurteilen.«
[3] Vgl. Otto König/Richard Detje: Samstagsmütter als Staatsfeinde, Sozialismus Aktuell.de 13.9.2018.
[4] Osman Kavala hat als einer der Ersten in der Türkei Ausstellungen über das Verhältnis von Türken und Armeniern organisiert. Die Aussöhnung zwischen den Völkern ist ihm ein Bedürfnis. Die 2002 gegründete Stiftung »Anadolu Kültür« (»Kultur Anatoliens«) ist sein Lebenswerk. In Diyarbakir baute Kavala das Kulturzentrum »Diyarbakir Kültür Merkezi« auf, das für die Künstler der Stadt zur wichtigsten Plattform wurde und endlich auch Kurden in der türkischen Kunstszene verankerte. Weitere Kulturzentren in ganz Anatolien folgten. Die Stiftung machte die Bevölkerung anhand von Film, Bildender Kunst, Musik und Literatur mit westlichen Werten vertraut.
[5] Vgl. Joachim Bischoff: Erdoğan zwischen Rezession und Repression, Sozialismus Aktuell.de 18.11.2018.
[6] Der Siemens-Konzern, der im April den Auftrag zur Lieferung von zehn Hochgeschwindigkeitszügen an die türkische Staatsbahn TCDD erhalten hatte – Volumen: rund 340 Millionen Euro –, wird ein Konsortium anführen, das das türkische Bahnnetz aufwendig modernisieren und um neue Strecken erweitern soll. Der Auftragswert wird auf 35 Milliarden Euro geschätzt.

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