10. September 2022 Joachim Bischoff: Krieg ist nur ein Faktor der Krisenkonstellation

Rekordinflation, Leitzinserhöhung und Energiepreise

Die Europäische Zentralbank (EZB) stemmt sich mit dem größten Zinsschritt seit Start des Euro-Bargelds 2002 gegen die Rekordinflation. Die europäischen Notenbanker, angeführt von Christine Lagarde, erhöhen den Leitzins um 0,75 Prozentpunkte auf 1,25%. Andere Zentralbanken weltweit hatten in den vergangenen Wochen bereits mit starken Leitzinserhöhungen reagiert.

In den USA liegen die Leitzinssätze bereits bei mehr als 2%. Höhere Zinsen gelten zwar als Mittel gegen die Teuerung – sie wirken aber auch bremsend auf das Wirtschaftswachstum. Schon die angestrebte Wirkung auf die Preisdynamik ist umstritten: Die hohe Inflation sei ein Resultat des Preisschocks bei den Energieträgern und den dadurch höheren Produktions- und Transportkosten. Die EZB zielt mit den angekündigten weiteren Zinsschritten auf eine Eindämmung der Inflation, erklärt aber zugleich, sie habe keinen Einfluss auf die Energiepreise, die der wesentliche Treiber der Inflation sind.

Die Kehrseite des Zinsturbos räumt die EZB-Präsidentin selbst ein: Die Konjunkturaussichten für die Euro-Zone seien düster, das Wirtschaftswachstum werde sich wohl deutlich verlangsamen. Die EZB rechnet mit einer Stagnation des Wirtschaftswachstums zum Jahresende und im ersten Quartal 2023.

Über das Ausmaß des Abschwungs und die Entwicklung der Preise sind Ökonom*innen in neuen Herbstprognosen uneins. Die Forschungsinstitute sehen einen klaren Abwärtstrend. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft erwartet, dass die deutsche Wirtschaft im kommenden Jahr um 0,7% schrumpft und die Inflation noch einmal auf 8,7% steigt. Das RWI in Essen sieht dagegen für 2023 noch ein Wachstum von 0,8% und ein Abschwächen der Inflation auf 3,5%.

Der Deutsche-Bank-Chef Christian Sewing warnt vor Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft und die Zukunft der Banken. Eine Rezession für Deutschland sei nicht mehr abzuwenden, doch die Wirtschaft besitze genug Widerstandskraft, um die Rezession zu bewältigen. »Wir müssen alles tun, damit unsere Autos, Heizungen und Fabriken nicht nur dann laufen, wenn uns ein Autokrat im Kreml gewogen bleibt.«

Auch bezüglich der Situation in China müssten unbequeme Fragen gestellt werden. »Die zunehmende Abschottung des Landes und die wachsenden Spannungen, insbesondere mit den USA, bergen für Deutschland ein erhebliches Risiko.« Schon jetzt fahren Unternehmen wegen hoher Energiepreise und fehlender Komponenten vereinzelt ihre Produktion zurück. Politiker*innen wie der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez hatten die EZB letztlich vergeblich aufgefordert, die Zinserhöhungen konjunkturverträglich zu gestalten.


Rekordinflation

Die Inflationsrate in der Euro-Zone ist im August mit 9,1% so hoch ausgefallen wie noch nie zuvor in ihrer Geschichte. Für das Gesamtjahr 2022 rechnet die Notenbank mit 8,1%. Die Euro-Wächter stehen unter Druck, weil sie die Inflationsrisiken zu lange unterschätzt haben. Andere Notenbanken wie die amerikanische Federal Reserve und die Bank of England (siehe Abbildung) haben ihre Zinswenden viel früher eingeleitet.

Die ohnehin durch die Corona-Pandemie gebeutelten Unternehmen haben eine Schwächung der Akkumulation der Wirtschaft in Deutschland und Europa ausgelöst. Durch die Rückwirkungen der Sanktionen gegen Russland auf die Wirtschaften der entwickelten kapitalistischen Länder werden die Reproduktionsprozesse zusätzlich geschwächt. Steigen der Gas- und Strompreis weiter, drohen erhebliche Wohlstandsverluste und ein Anstieg der Arbeitslosigkeit.

Dies ist endlich bei der politischen Klasse angekommen. Es geht nicht mehr nur um Entlastungspakete für die privaten Verbraucher*innen und die Firmen aller Bereiche, sondern die EU-Kommission schlägt einen Preisdeckel für russisches Pipelinegas vor. Sie werde umgehend einen Gesetzesvorschlag vorlegen: »Das Ziel ist hier klar: Wir müssen Russlands Einnahmen verringern, die Präsident Wladimir Putin nutzt, um seinen grausamen Krieg gegen die Ukraine zu finanzieren.« Von der Drohung Putins, dann die Gaslieferungen völlig einzustellen, dürfe sich die EU nicht beeindrucken lassen. Putin habe schon die Gaslieferungen an 13 Mitgliedstaaten teilweise oder ganz eingestellt. »Wir sehen, dass er lieber das Gas abfackelt«, sagte die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

Putin hatte den Lieferstopp kurz zuvor beim Wirtschaftsforum in Wladiwostok angedroht: Die Preise zu deckeln, »wäre eine absolut dumme Entscheidung«, Russland werde »gar nichts mehr liefern, kein Gas, kein Öl, keine Kohle« – sofern die Lieferungen nicht im wirtschaftlichen Interesse des Landes seien. Von der Leyen sagte, die »beharrliche Vorarbeit« der vergangenen Monate zahle sich nun aus.

Diese Sichtweise auf die Gründe der hohen Preisdynamik in der EU und anderen hochentwickelten Ländern ist einseitig und nicht überzeugend. Schon seit dem Frühjahr 2021 werden zunehmende Inflationsraten verzeichnet, und die Produzentenpreise waren im Februar 2022 – also vor Kriegsbeginn – in den USA bereits um mehr als 10% höher als ein Jahr zuvor, im Euroraum sogar um 30%. Ein wesentlicher Teil des Preisauftriebs resultierte dabei zwar aus den gestiegenen Energiepreisen, doch auch die Kernrate (Inflation ohne Energie und Lebensmittel) hat sich stark beschleunigt.

Der Anteil an der Inflation, der von den Energiepreisen herrührt, ist im Euroraum deutlich größer als in den USA (vgl. Abbildung). Dies liegt vor allem daran, dass die Erdgaspreise in Europa in den vergangenen Monaten drastisch gestiegen sind, während sie in den USA bis zum Frühjahr nur moderat zugenommen hatten.

Es ist nicht zu übersehen, dass die Unterschiede in der Inflation zwischen den USA und dem Euroraum auch eine Folge der unterschiedlichen konjunkturellen Entwicklung nach dem starken Einbruch infolge der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 sind. Zwar erholte sich die Wirtschaft in beiden Regionen im Sommer 2020 schnell. In den USA setzte sich die Erholung jedoch fort, während das BIP im Euroraum auch danach noch durch die Pandemie gebremst wurde. Speziell der private Konsum war in den USA rasch wieder gestiegen.

Auch die USA sind mit Angebotsschocks – d.h. Preissteigerungen bei fossilen Brennstoffen – konfrontiert, aber dort findet zusätzlich eine stark von der Nachfrageseite getriebene Konsumdynamik statt. Die umfangreichen Hilfs- und Konjunkturprogramme in einem Umfang von mehr als fünf Bio. US-Dollar haben die Konjunktur gestützt. Diese Konjunkturimpulse führten zu einer konjunkturellen Überhitzung und einem leer gefegten Arbeitsmarkt. Zusätzlich wurden die Preise durch die Krisen in den Wertschöpfungs- und Logistikketten befördert.

Die europäische Inflation ist etwas anders gelagert: Europa hat, aufgrund der auch klimabedingten Knappheiten und den Hindernissen bei der Atomenergie eine höhere Abhängigkeit von russischer Energierohstoffen, was die die Inflationsbewegung prägt und in viele Wirtschaftsbereiche ausstrahlt.

Zum langfristigen Abbau der Inflation tragen die verschiedenen Entlastungspakete aber wenig bei. Hier ist die zweite Säule wichtig – eine Angebotspolitik zur Ausweitung des Produktionspotenzials. Der beschleunigte Ausbau der erneuerbaren Energien sollte eine der obersten Prioritäten sein, nicht nur für den Klimaschutz, sondern auch aus geopolitischem Interesse. Die Investitionsagenda der Ampelkoalition sieht diese Projekte unverändert vor, gerät aber in Gefahr, wenn die Fiskalpolitik jetzt wegen falsch interpretierter Inflationsursachen auf einen restriktiven Kurs umschwenkt.

Hinter dem Anstieg der Energiepreise – vor allem beim Gas – in Europa steht eine Mangelsituation. Sie ist mehreren Faktoren zu zuschreiben: den klimabedingten Einschränkungen bei Wasserkraftwerken, den Versorgungsengpässen beim Kohletransport, und den durch eingeschränkte Kühlung verstärkten Ausfall bei Atomkraftwerken. Zusätzlich ist die spezifische Organisation des europäischen Energiemarktes ein wichtiger hausgemachter Faktor (siehe dazu auch Joachim Bischoff: Der Strommarkt ist aus den Fugen geraten auf Sozialismus.deAktuell vom 4.9.2022).

Entscheidend bei allen kurzfristigen Maßnahmen, angefangen bei den Entlastungspaketen, staatlichen Interventionen in den europäischen Strommarkt und Diversifizierung der Gasversorgung, muss es auch um eine Behebung der Knappheit an Energie gehen. Denn die Investitionen wirken sich schon mittelfristig auf der Angebotsseite aus und führen zu einer Entspannung der Angebotsengpässe und damit der Inflation.


Inflation in den USA

Die USA sind vor allem wegen des Erdöl- und Gasfrackings weitgehend energieunabhängig und in den letzten Jahren zu einem der größten Exporteure von Öl und Gas aufgestiegen. Europa blieb den Amerikaner*innen als Absatzmarkt bisher jedoch weitestgehend verschlossen – aus Kostengründen. Denn das durch Fracking gewonnene und anschließend unter kostenintensiven Verfahren exportierte Flüssiggas ist laut Schätzungen einiger Expert*innen deutlich teurer als russisches Erdgas, das durch langjährige Lieferverträge zu niedrigeren Preisen bezogen werden konnte.

Der zeitweilige Anstieg der Ölpreise auf dem Weltmarkt hat sich auch in den USA ausgewirkt. Aber die Spritpreise in den USA sinken schon wieder – und die allermeisten Amerikaner*innen haben aufgehört, temporär Benzinvorräte anzulegen. Zwar rufen die Behörden in Texas bei extremer Hitze zum freiwilligen Energiesparen auf – die vielen Klimaanlagen könnten nach wochenlangen Temperaturen über 40 Grad zum Zusammenbruch des Stromnetzes führen. Auch in den USA geht es zentral um den zügigen Ausbau der Infrastruktur gerade bei den Netzen.

Die USA sind der große energiepolitische Gewinner des Jahres. Nach offiziellen Angaben der U.S. Energy Information Administration (EIA) stiegen sie im zweiten Quartal 2022 zum weltweit größten Exporteur von Flüssiggas (Liquified Natural Gas, LNG) auf und konnte ihre LNG-Exporte im ersten Halbjahr um 12% im Vergleich zum Vorjahr steigern. Als Hauptgrund für den starken Anstieg der LNG-Exporte nannte die EIA die gesteigerte Nachfrage in Europa. Demnach hätten europäische Länder zunehmend LNG importiert, um die Verluste aus russischen Pipelines abzumildern und die historisch niedrigen Erdgaslagerbestände aufzufüllen.

Außerdem besteht die auf den extrem liberalisierten europäischen Strommarkt übliche Verknüpfung aller Energieformen bei der Stromvermarktung in den USA nicht. Seit mehr als 100 Jahren regulieren Public Utility Commissions (PUCs) für die Allgemeinheit essenzielle Güter und Dienstleistungen wie Strom oder Wasser. Sie kamen einst auf, um die Monopole der Anbieter zu brechen, heute gibt es PUCs in sämtlichen Bundesstaaten.

Der österreichische Ökonom Stephan Schulmeister kritisiert daher zu Recht, dass der Strompreis in der EU vor rund 20 Jahren viel zu stark liberalisiert worden sei: »In den USA käme kein Mensch darauf, den Strompreis nach Merit Order zu fixieren, weil die einen Hausverstand haben.«

Gas ist nicht einfach irgendein Energieträger, aus dem Gas- ist längst auch ein Stromproblem geworden. Denn die explodierenden Gaspreise betreffen auch die Stromproduktion und haben so die Energiepreise massiv verteuert. Wenn etwa ein Kraftwerk in einem Teil des europäischen Stromnetzes ausfällt, wird dessen fehlender Output sofort automatisch anderswo in Europa durch Hochfahren weiterer Kapazitäten ausgeglichen. Und das Merit-Order-Preissystem führt bei Knappheit zu einer Preisdynamik.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hatte zuletzt eine grundlegende Reform des Strommarktes angekündigt, um die Entwicklung der Endkundenpreise für Strom vom steigenden Gaspreis zu entkoppeln. Aufgrund der Komplexität des Stromhandels müssten aber auch die europäischen Partner in eine solche Reform eingebunden werden. Neben der Entkoppelung von Gas und Strom arbeitet das Wirtschaftsministerium derzeit außerdem an einer Übergewinnsteuer auf Strom aus erneuerbaren Energien und Braunkohle.

Auch die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen kündigte eine Reform des Strommarktes in der EU an. »Die in die Höhe schießenden Strompreise zeigen gerade aus verschiedenen Gründen die Grenzen unseres jetzigen Strommarktdesigns auf.« Die EU plant daher, bei den Herstellern von erneuerbaren Energien und Erdölkonzernen einen größeren Teil der Gewinne abzuschöpfen, in den Markt einzugreifen und Händlern Liquiditätshilfen zu gewähren. So sollen die hohen Energiepreise sinken. Das Schlüsselproblem, wie man eine Ausweitung der Energieproduktion bei regenerativen Produkten voranbringen kann, wurde aber nicht angesprochen.

Die erste geplante Maßnahme sieht vor, dass die Hersteller mit geringen Grenzkosten bei der Stromproduktion künftig nicht mehr den Marktpreis im Spotmarkt an der Börse erhalten. Vielmehr soll der entsprechende Preis eine Obergrenze erhalten. Geplant sind ca. 200 Euro pro Megawattstunde anstelle eines Marktpreises von ca. 440 Euro pro Megawattstunde. Diese Differenz zwischen gedeckeltem Preis und Marktpreis würde abgeschöpft und an die Mitgliedstaaten weitergereicht werden. Diese würden mit dem Geld den am stärksten betroffenen Bürger*innen und Firmen einen Teil der Energierechnungen subventionieren.

Diese staatlichen Maßnahmen zur Reform des europäischen Energiemarktes müssten zügig realisiert werden, wenn die negativen Folgen begrenzt werden sollen. Allerdings wird sich der intendierte Strukturwandel über einen längeren Zeitraum hinziehen. Unternehmen werden nicht von heute auf morgen ihre Fabriken schließen, sondern ihre Investitionen zurücknehmen oder umlenken. Die Gefahr einer Deindustrialisierung wird sich eher schleichend zeigen.

Abgesehen von der anstehenden Abwärtsspirale der Ökonomie wird durch diesen Umbruch das Wachstum insgesamt schwächer ausfallen. Wenn der Reformprozess erfolgreich verläuft, könnte die Industrie zu den globalen Vorreitern der Energiewende gehören, und Technologien und Verfahren entwickeln, die an andere Länder verkauft werden können.

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