18. Mai 2020 Otto König/Richard Detje: Fleischindustrie – Corona-Brennpunkte »Schlachthöfe«

Subunternehmer und Werksvertragsarbeit – »Wurzel des Übels«

Foto: pixabay/BlackRiv

Die katastrophalen Bedingungen, unter denen Tausende Arbeiter aus Ost- und Süd-osteuropa als »Lohnsklaven«[1] in Schlachthöfen im Münsterland, im Oldenburger Land und im Emsland schuften und leben müssen, sind seit Jahren bekannt.

Dagegen passiert ist wenig bis nichts, was den deutschen Fleischkonzernen hohe Profite sichert. Doch nun sind Schlachthöfe zu Corona-Brennpunkten geworden. Das Geschäftsmodell, auf Kosten von Werkvertragsarbeitern aus Europas Armenhäusern Nahrungsmittel billig zu produzieren, wächst sich zur landesweiten Gesundheitsgefährdung aus.

In erster Linie zahlen die rumänischen, bulgarischen und polnischen Arbeiter, die durch Sub- bzw. Sub-Sub-Unternehmer vermittelt in den Großschlachtereien im »Billigschlachthaus« Europas beschäftigt sind, für ein extrem ausbeuterisches Geschäftsmodell. Eine »erhebliche epidemiologische Gefahrenquelle«, so das Verwaltungsgericht Münster, ist die Betriebsstätte von Westfleisch, des viertgrößten Schlachters in Deutschland mit Standort im westfälischen Coesfeld. Von 1.200 Beschäftigten sind rund 230 mit dem Corona-Virus positiv infiziert. Der Betrieb, in dem jährlich mehr als 2,5 Millionen Schweine zerlegt werden, wurde geschlossen.

Die nordrhein-westfälische Landesregierung hat angeordnet, alle bis zu 20.000 Beschäftigten in den fleischverarbeitenden Betrieben in NRW zu testen. Warum erst jetzt? Zuvor waren bereits bei Müller Fleisch in Birkenfeld bei Pforzheim fast ein Viertel der 800 Personen umfassenden Belegschaft positiv getestet worden. Und in Bad Bramstedt (Kreis Segeberg) wurden in einem vergleichsweise kleinen Schlachthof von Vion 128 Coronafälle festgestellt.

Die Fleischwirtschaft ist der größte Sektor in der deutschen Lebensmittelindustrie. Der deutsche Markt ist fest in der Hand eines Oligopols: Beim Schwein, dem meistgegessenen Fleisch, lassen vier Großunternehmen fast zwei Drittel der rund 55 Millionen Tiere, die jährlich geschlachtet werden, zerlegen: die Tönnies-Gruppe, Westfleisch, die deutschen Ableger des Vion-Konzerns aus den Niederlanden und von Danish Crown aus Dänemark. In der Branche sind rund 130.000 Arbeitnehmer*innen beschäftigten. Während die Branchenverbände davon ausgehen, dass etwa die Hälfte über Werkverträge eingesetzt ist, schätzt die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) die Zahl der aus Polen, der Ukraine, aus Rumänien und Bulgarien stammenden Schlachthofarbeiter auf rund 80%.

Diese Arbeitsmigrant*innen sind zumeist bei dubiosen Subunternehmen angestellt, die oft nicht mehr haben als einen Briefkasten. Sie werden für die »Herstellung eines Werks« bezahlt – am Zerlegeband in der Fleischfabrik oft nur für einen bestimmten immer wiederkehrenden Schnitt am Tierkörper. »Die Arbeitgeber lagern nicht nur die Arbeit, sondern auch jede Verantwortung bequem an Subunternehmen aus. Das System ist krank: Werkverträge für die Kernaufgabe eines Unternehmens zu vergeben, muss verboten werden«, fordert Freddy Adjan, stellvertretender Vorsitzender der NGG.

Wie man Lohnkosten trotz Mindestlöhne senken kann, beschreibt die Göttinger Soziologin Nicole Mayer-Ahuja: »Die gängigste Art der Unterschreitung von gesetzlichen und tariflichen Lohnvorgaben bestand … darin, dass Subunternehmen … Beschäftigten ›überhöhte Fahrtkosten, überhöhte Mieten, und selbst Vermittlungsgebühren für den Arbeitsvertrag‹ in Rechnung stellten – ›überall kann es einen faktischen Lohnabzug geben, der innerhalb der informellen Struktur vorgenommen wird, die es überhaupt erst ermöglicht, dass Person A am Ende an der Schlachtkette steht‹. Teilweise fallen zudem weitere ›Gebühren‹ für die Nutzung von Werkzeugen an, es kommt zu offenem Betrug bei den Arbeitszeiten, zu Einsparungen am Arbeitsschutz usw. Falls solche Praktiken ruchbar werden, so Birke und Bluhm (2019, S. 28), führe das ›Werkvertragsregime‹ dazu, ›dass die verantwortlichen Großunternehmen, die das Endprodukt verkaufen, ihre Hände in Unschuld waschen‹. Daher sind die tatsächlichen Vergütungen in vielen Fällen deutlich niedriger als vertraglich, tariflich oder gesetzlich festgelegt.«[2]

Dieses Geschäftsmodell ermöglicht es den deutschen Fleischbaronen nicht nur, Fleisch zu ruinösen Preisen auf den inländischen Markt zu werfen, sondern eröffnet ihnen gleichzeitig die Möglichkeit, Weltmarktpreise zu unterbieten und die Exportanteile zu erhöhen. Deutschland ist der fünftgrößte Fleischexporteur der Welt (nach den USA, Brasilien, Australien und den Niederlanden) sowie der drittgrößte Schweinefleischexporteur (nach Spanien und den USA). Beim Export von Schweinefleisch konnte 2019 ein Umsatz von rund fünf Milliarden US-Dollar erzielt werden. Allein der größte deutsche Schlachtbetrieb Tönnies im westfälischen Rheda-Wiedenbrück erzielte im vergangenen Jahr mit der Verarbeitung von 20,8 Millionen Schweinen – davon mehr als drei Viertel in Deutschland – sowie von 440.000 Rindern einen Rekordumsatz in Höhe von um die 7,3 Milliarden Euro. Die NGG wertet die bekanntgewordenen Coronafälle als »trauriges Resultat des extremen Preisdrucks beim Fleisch« und fordert, den »ruinösen Preiskampf beim Fleisch zu beenden«.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) verweist seit Langem darauf, dass die Branche immer wieder mit miserablen Arbeitsbedingungen auffalle. Die Niedrig- oder Armutslöhne werden häufig unzuverlässig gezahlt; Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wird immer wieder nicht gewährt. Die Arbeitszeiten sind oft viel länger als erlaubt. Der »Böklunder Würstchen«-Produzent Clemens Tönnies verkündete im Handelsblatt »stolz«: »Meine Mitarbeiter schieben jetzt (in der Corona-Krise) zusätzlich 16-Stunden-Schichten am Wochenende.«

Die Werkvertragler arbeiten vielfach Schulter an Schulter. Die Arbeit ist anstrengend, der Zeitdruck ist extrem hoch. Die Hygienemaßnahmen werden kaum eingehalten. »Der Schutzeffekt der persönlichen Hygieneausstattung zur Abwehr von Viren ist nach unserem Kenntnisstand nicht ausreichend geprüft«, kritisiert die NGG. Ein Westfleisch-Sprecher wies dies zurück und erklärte, Schutzmaßnahmen würden streng den Empfehlungen des Robert Koch-Instituts angepasst. Bei einer Überprüfung des Amtes für Arbeitsschutz der Bezirksregierung Münster im Coesfelder wurde festgestellt, dass es sowohl im Bereich des Zerlegebandes als auch in den Umkleide-Räumen Probleme gab, die 1,50 Meter Abstand einzuhalten. Zudem sei der bereitgestellte Mund- und Nasenschutz nicht korrekt getragen worden (Spiegel.de, 10.5.2020).

Wie miserabel die Arbeitsbedingungen sind, wissen die politisch Verantwortlichen in NRW spätestens seit dem Sommer 2019. Ein halbes Jahr vor Ausbruch der Corona-Pandemie kontrollierten die Behörden die Zustände in den 30 größten Schlachthöfen mit 17.000 Beschäftigten. Die Prüfer führen in ihrem Untersuchungsbericht[3] gravierende Verstöße gegen die Arbeitsschutzgesetze auf: 5.800 Arbeitszeitverstöße, Schichten mit über 16 Stunden, nicht eingehaltene Ruhepausen, unangemessene Lohnabzüge, lärmbedingte Hörschäden, mangelhafter Arbeitsschutz, entfernte Schutzeinrichtungen, abgeschlossene Notausgänge, gefährlicher Umgang mit Gefahrstoffen und unwürdige Unterkünfte. In mehr als 900 Fällen fehlte die gesetzlich vorgeschriebene arbeitsmedizinische Vorsorge. Nur zwei Unternehmen wurden als gut bewertet – beide arbeiten mit einer Stammbelegschaft.

Es ist kein Geheimnis, unter welch erbärmlichen Bedingungen die ost- und südosteuropäischen Werkvertragler untergebracht sind. Seit Jahren warnen Gewerkschaften vor den Risiken durch Massenunterkünfte für die Beschäftigten. »Nach unseren langjährigen Erfahrungen ist die Unterbringung der Beschäftigten ein wesentlicher Faktor, der zur Verbreitung von Infektionen in Unternehmen der Fleischindustrie beiträgt«, so Freddy Adjan. Häufig zu kleine und überbelegte Wohnungen, Sammelunterkünfte in umgebauten Ställen und Schrottimmobilien, zu wenig Sanitärräume, mangelnde Hygiene, aber auch die körperliche Belastungen begünstigen Krankheiten, bei denen die körpereigene Abwehr entscheidend sei. »Ich kenne einen Häuserblock in Frankfurt am Main, da teilen sich pro Stockwerk bis zu 20 Leute zwei Duschen und eine Gemeinschaftsküche. In den Plattenbausiedlungen in Sachsen-Anhalt, wo jeweils neun Arbeiter aus der Fleischindustrie in Dreizimmerwohnungen leben, muss jeder für sein Bett 250 bis 270 Euro pro Monat bezahlen«, beschreibt Dominique John, Leiter des DGB-Projekts »Faire Mobilität«, in einem Interview mit Zeit online die Unterbringung (12.5.2020).

Das Robert Koch-Institut stellte schon vor zwei Jahren fest, »räumlich enge Wohnverhältnisse in gemeinsam genutzten Unterkünften« führen »zu einem erhöhten Transmissionsrisiko«; zudem könne »Ansteckungsgefahr bei langen Fahrzeiten in gemeinsam genutzten Fahrzeugen sowohl vom Heimatland nach Deutschland« als auch »bei Fahrten zwischen Wohn- und Arbeitsort bestehen«.[4] Es ging es um 13 Fälle von Tuberkulose, die im Laufe des Jahres 2018 bei Beschäftigten zweier Schlachthöfe in Niedersachsen aufgetreten waren; einer endete tödlich. Von den 13 Erkrankten kamen elf aus Rumänien.

 

Bislang wurden den Kontrollen durch staatliche Behörden eher unzureichend durchgeführt. Die Zahl der Arbeitsschutz-Kontrollen in deutschen Betrieben ist weiter gesunken. Im Jahr 2018 machten die zuständigen Länderbehörden 167.000 Betriebsbesichtigungen, nachdem es 2017 knapp 183.000 gewesen waren – und 2008 mehr als 332 000. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion hervor. Der Abstand bis zu einer erneuten Kontrolle eines Betriebs verlängerte sich im Schnitt auf 25 Jahre nach zuvor 22,5 Jahren – 2008 waren es keine 12 Jahre.

Während der Fleischfabrikant Clemens Tönnies im Bielefelder Westfalen-Blatt kritisierte, dass mit den Kontrollen von Arbeiterunterkünften und den Tests aller Schlachthof-Mitarbeiter eine ganze Branche »unter Generalverdacht gestellt« werde, drohte die Hauptgeschäftsführerin des Verbands der Deutschen Fleischwirtschaft, Heike Harstick, gleich mit der Abwanderung der Betriebe ins Ausland. Wenn etwa die Einzelunterbringung vorgeschrieben und höhere Wohnungsmieten verursacht würden, seien »viele Betriebe nicht mehr wettbewerbsfähig«. Sollten wegen positiver Corona-Tests viele Betriebe geschlossen werden, wäre das auch »ein Problem für die Versorgung«, so die Verbandschefin (SZ, 11.5.2020).

Schon im Jahr 2017 hatte der Bundestag das »Gesetz zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte in der Fleischwirtschaft« (GSA Fleisch) beschlossen, doch die damit verbundenen freiwilligen Selbstverpflichtungen der Arbeitgeber, soziale Standards einzuhalten und sich weniger auf Subunternehmer zu verlassen, führten zu keinerlei Verbesserungen.[5] Jetzt heißt es wieder, das Subunternehmertum in der Fleischbranche ist die »Wurzel des Übels«. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil verkündete im Bundestagsplenum: »Wir werden aufräumen mit diesen Verhältnissen«. Es wird sich jedoch noch zeigen müssen, ob die bisherige »Kultur des Wegsehens« tatsächlich beendet wird.

 

[1] Siehe Otto König/Richard Detje: Die Lohnsklaven der Schlachthöfe. Fleischindustrie – Kampf um menschenwürdige Arbeitsbedingungen und Entlohnung, in: Sozialismus 12/2013.
[2] Nicole Mayer-Ahuja: Stellungnahme zur schriftlichen Anhörung der Mindestlohn-Kommission, Ms., Göttingen 2020.
[3] Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW: Abschlussbericht der Überwachungsaktion »Faire Arbeit in der Fleischindustrie« vom 20.1.2020.
[4] Robert Koch-Institut (RKI): Epidemiologisches Bulletin Nr. 26, 27.6.2019.
[5] Siehe auch: Otto König/Richard Detje: Tatort Billigschlachthaus Deutschland, Perfides System der Ausbeutung, Sozialismus.de Aktuell 18.9.2017.

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