5. März 2022 Otto König/Richard Detje: »Zeitenwende« zu einem 100-Mrd.-Euro-Rüstungsprogramm

Widerstand ist angesagt

Foto: DGB

Rund 500.000 Menschen demonstrierten am Sonntag, den 27. Februar in Berlin zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule gegen den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und »für ein Europa der Abrüstung, der Entspannung und der Verständigung«.[1]

Während der größten Manifestation seit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch der USA 2003 im Irak nutzte nur wenige hundert Meter entfernt in einer Sondersitzung des Deutschen Bundestages Kanzler Olaf Scholz (SPD) die Gunst der Stunde, um das bisherige Nein zu Waffenlieferungen in Krisengebiete vom Tisch zu fegen[2] und das größte Aufrüstungsprogramm seit Gründung der Bundeswehr 1955 anzukündigen. Mit diesem Coup, mit der er die SPD- und Grünen-Fraktion in machiavellistischem Führungsstil vor vollendete Tatsachen gestellt hat, setzte er eine neue Aufrüstungsspirale in Gang.

In seiner Regierungserklärung sprach der Bundeskanzler von einer »Zeitenwende«, die mit dem Überfall auf die Ukraine begonnen habe. Er nutzte den Schock, um Fakten zu schaffen: »Wir werden von nun an – Jahr für Jahr – mehr als 2% des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren.« Bei einer Wirtschaftsleistung von 3,57 Billionen Euro sind das über 71,4 Milliarden Euro – beinahe 25 Milliarden mehr als im vergangenen Jahr (46,9 Milliarden Euro).

Damit wäre eine langjährige, immer wieder hartnäckig vorgetragene Forderung der USA und der NATO, der sich die GroKo in den vergangenen Jahren verweigert hat, übererfüllt.[3] Schon bisher hat sich die Ukraine-Krise als Segen für den deutschen Rüstungshaushalt erwiesen. »Seit ihrem Ausbruch stieg das Budget von 32,5 Mrd. Euro (2014) auf 46,9 Mrd. (2021) steil an – und das sind nur die offiziellen Zahlen, hinter denen sich noch einmal etliche Milliarden versteckte Militärausgaben verbergen«, so Jürgen Wagner (IMI-Standpunkt 2022/005b).

Während die Bundeswehr selbst vorrechnete, zur Erreichung der NATO-Planziele würden ihr in den Jahren 2022 bis 2026 rund 38 Mrd. Euro fehlen, will die rot-grün-gelbe Bundesregierung noch im aktuellen Bundeshaushalt ein »Sondervermögen« von 100 Milliarden Euro bereitstellen, das für Investitionen und Rüstungsvorhaben eingesetzt werden soll. Ziel sei eine leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr, »die uns zuverlässig schützt«. Scholz teilte weiter mit, dass die Anschaffung der bewaffneten Heron-Drohnen aus Israel – gegen die in der SPD während der Großen Koalition noch eine Mehrheit schwere Bedenken hatte – nun vorangetrieben werde.

Die nächste Generation von Kampfflugzeugen und Panzern werde mit den europäischen Partnern gebaut und der Eurofighter gemeinsam weiterentwickelt. Für die »nukleare Teilhabe« werde man »rechtzeitig einen modernen Ersatz für die veralteten Tornado-Jets beschaffen. Das Verteidigungsministerium beschrieb schon im April 2020 den Umfang des rüstungspolitischen Auftrags wie folgt: Es sollen als »Ersatz für den Tornado 40 Eurofighter (Rolle: Luft-Boden) mit einer Option auf 15 weitere 30 F/A-18F Super Hornets (Rolle: Nukleare Teilhabe) und 15 EA-18G Growler (Rolle: Elektronischer Kampf) beschafft werden«. Die Kosten dürften sich laut Greenpeace auf 7,67 bis 8,77 Milliarden Euro belaufen.

Der Finanzminister der Ampel, Christian Lindner (FDP), ergänzte tags darauf im ARD-Morgenmagazin, die Bundeswehr solle »bis 2030« zu einer der »leistungsfähigsten Armeen Europas werden«. Wenn die Bundesregierung gleichzeitig an der Schuldenbremse festhält, und wie angekündigt die Militärausgaben steigert, bedeutet das Ausgabenkürzungen an anderer Stelle, höchstwahrscheinlich beim größten Ausgabenposten: dem Etat für Arbeit und Soziales. Möglich sind ferner Investitionskürzungen, die eigentlich den ökologischen Umbau vorantreiben sollten. Ergänzt wird der Militarisierungsplan durch Forderungen, die Wehr- oder eine allgemeine Dienstpflicht wiedereinzuführen.

Tendenzen zu diese Entwicklung zeichneten sich schon im Koalitionsvertrag der Ampel ab.[4] Dennoch: Mit einem solchen finanz- sowie sicherheits- und verteidigungspolitischen Coup war nicht zu rechnen gewesen. Der Schock und die Empathie der Wähler*innen werden missbraucht, um eine gigantische Umleitung des Steueraufkommens auf Rüstungsgeschäfte vorzunehmen. Dass »Militärausgaben Vorrang vor anderen, produktiveren öffentlichen Ausgaben wie Gesundheit und Bildung haben«, wirkt sich nach Meinung der Wissenschaftler des International Security and Development Center (ISDC) negativ auf die Wirtschaftsleitung eines Landes aus.

Die militärischen Operationen Russlands in der Ukraine waren gerade angelaufen, da meldeten sich die Lobbyisten einer forcierten Aufrüstung der Bundeswehr zu Wort. Generalleutnant Alfons Mais, Inspekteur des Heeres, schrieb im Karrierenetzwerk Linkedin: »Du wachst morgens auf und stellst fest: Es herrscht Krieg in Europa«, um weiter festzustellen: »Das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da.« Der Vorsitzende des Bundeswehrverbands, André Wüstner, forderte ein Sofortprogramm zur Verbesserung der Ausrüstung der Bundeswehr im ZDF: »Wir haben im Bereich Munition, Fahrzeuge, Schiffe, Flugzeuge, Ersatzteile massive Probleme.« Die Politik müsse jetzt »endlich aufwachen«. Das gelte nicht nur für die strategische Neuausrichtung in der Russlandpolitik, sondern auch für die Aufstellung der Bundeswehr. Jürgen Wagner von IMI weist jedoch zu Recht darauf hin, dass dem »bewusst erweckten Eindruck, die Bundeswehr sei in den letzten Jahren und Jahrzehnten systematisch kaputtgespart worden« – eine jahrzehntelang von militärisch-industriellen Interessengruppen geschürte Legende – entschieden entgegengetreten werden muss.[5]

Für die großen Waffenschmieden brechen nun noch üppigere Festtage an. Schon die Regierungserklärung löste an den Börsen ein wahres Kursfeuerwerk aus. Die Rüstungsaktien stiegen zeitweise um bis zu 85%. Rheinmetall lag mit einem Kurs von rund 135 Euro mit 26% im Plus, die Hensoldt-Aktie legte um 44%. Bei Thyssenkrupp sah es mit 9% eher bescheiden aus.

Der Rheinmetall-Konzern hat der Bundesregierung mittlerweile eine umfassende Lieferung von Rüstungsgütern angeboten. Das Paket umfasst unter anderem Munition, Hubschrauber sowie Ketten- und Radpanzer, sagte Vorstandschef Armin Papperger dem Handelsblatt. Das gesamte Volumen summiert sich seinen Angaben zufolge auf 42 Milliarden Euro. Rheinmetall könne seine Produktion kurzfristig hochfahren.

Medienberichten zufolge hat die Bundesregierung bereits erste Schritte eingeleitet, um die Vergabe neuer Rüstungsaufträge in die Wege zu leiten. So lud das Verteidigungsministerium umgehend Manager der wichtigsten Rüstungsfirmen zu einem Dringlichkeitsgespräch ein (Handelsblatt, 1.3.2022). Im Gespräch ist unter anderem der Kauf neuer Militärhubschrauber bei Airbus, neuer Kriegsschiffe bei ThyssenKrupp Marine Systems (TKMS) und neuer Radarsysteme bei Hensoldt. Von einem Super-Verteidigungsetat profitieren nicht nur größere deutsche Rüstungskonzerne; Milliardenbeträge werden auch an US-Rüstungskonzerne wie Lockheed Martin und Boeing fließen.

Die Ampel ebnet den Weg für eine beispiellose Militarisierung. Dass es ausgerechnet eine Koalition mit Beteiligung von SPD und Grünen ist, die exekutiert, was der militärisch-industrielle Komplex seit langem fordert, ist eine bittere Lehre der Geschichte. Die hundertjährige antimilitaristische Tradition der SPD ging im »Standing Ovation« der übergroßen Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestags und der Parteien SPD, FDP, Grünen, CDU und CSU unter.

»Lichterketten, Friedensgebete, Ostermärsche sind eine schöne Sache. Aber mit Moral allein wird die Welt um uns herum nicht friedlich«, ätzte der Fraktionschef der Unionsparteien, Friedrich Merz (CDU), im Parlament.  Mit harschen Tönen steckte der CDU-Chef den aus seiner Sicht zulässigen Meinungskorridor ab: Wer auch der NATO eine Teilschuld an der Eskalation gibt, mache sich demnach zum Werkzeug von Putins Propaganda. Jene als »nützliche Idioten« im Sinne Leninscher Denkmuster zu bezeichnen, sei wohl noch die freundlichste Umschreibung, so Merz.

Doch auch Kritiker melden sich zu Wort. So wies der ehemalige ver.di-Vorsitzende und heutige sozialpolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Frank Bsirske, darauf hin, dass der Rüstungsetat seit 2015 um mehr als ein Drittel gestiegen sei. »Wenn 50 Milliarden Euro an Rüstungsausgaben zu mehr nicht reichen, muss man zuallererst fragen, was da falsch läuft, nicht aber noch zusätzlich Geld hinterherwerfen«, sagte er der Welt.

In einer gemeinsamen Erklärung der parlamentarischen Linken in der SPD-Bundestagsfraktion mit außerparlamentarischen Verbänden[6] heißt es: »Wir lehnen das von Bundeskanzler Scholz […] vorgeschlagene Sondervermögen für Aufrüstung in Höhe von 100 Milliarden Euro und dauerhafte Rüstungsausgaben von über 2% des Bruttoinlandsprodukts ab.« Die Entscheidung sei »ein beispielloser Paradigmenwechsel«, dem sich die Unterzeichner*innen »vehement entgegenstellen«. Die Bundeswehr sei nicht von Unterfinanzierung geplagt, sondern von strukturellen Problemen. Stattdessen solle darüber diskutiert werden, wie man den Menschen in der Ukraine schnellstmöglich helfen könne (Telepolis, 2.3.2022).

Und aus den Reihen der Gewerkschaften heißt es: »Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften halten daran fest, dass die militärische Friedenssicherung nicht zulasten des sozialen Friedens erkauft werden darf. Auch weiterhin treten der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften für eine allgemeine und weltweite kontrollierte Abrüstung, für die Verwirklichung und Erhaltung des Friedens und der Freiheit im Geiste der Völkerverständigung ein. Die Bundesrepublik muss als wesentlicher Akteur an einer gemeinsamen europäischen Sicherheitsarchitektur arbeiten.«[7]

Anmerkungen

[1] Aufgerufen hatten u.a. der BUND, der NABU, Campact, der Deutsche Gewerkschaftsbund, ver.di, IPPNW, die Evangelische Kirche, das Netzwerk Friedenskooperative, Pax Christi und viele andere Organisationen.
[2] Laut Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP dürfen deutsche Waffen nicht in Gebiete mit laufenden kriegerischen Auseinandersetzungen geliefert werden.
[3] Die NATO hat als Ganzes ihre Militärausgaben in den letzten Jahren deutlich erhöht. Sie stiegen von 895 Mrd. Dollar (2015) auf 1106 Mrd. (2020) an. Laut Sipri in Stockholm sanken die russischen Ausgaben von 85 Mrd. Dollar (2015) auf 61,7 Mrd. Dollar (2020). Die NATO-Militärausgaben sind also rund 18mal höher als die der Russischen Föderation.
[4] Siehe auch: Otto König/Richard Detje: Auf- und Abrüstung im Koalitionsvertrag. Drohnen – nukleare Teilhabe – militärische »Modernisierung«, Sozialismus,deAktuell vom 8.12.2021.
[5] Siehe auch Jürgen Wagner: Legendenbildung vor Geldregen: Arme, klamme Bundeswehr? Telepolis 28.2.2022.
[6] Getragen wird die Erklärung von Forum Demokratische Linke in der SPD, der Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken, dem Institut Solidarische Moderne, dem globalisierungskritischen Netzwerk Attac, dem Bundesjugendwerk der Arbeiterwohlfahrt, der Naturfreundejugend Deutschlands und weiterer Verbünde sowie Einzelpersonen.
[7] Erklärung des Bundesausschusses des DGB zum Ukrainekrieg »Krieg sofort beenden! Waffenstillstand jetzt!«, März 2022.

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