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22. November 2019 Friedrich Steinfeld: Für Alternativen zur »Sprache der Macht«

Europa und der beschleunigte Zerfall der atlantischen Interessens- und Wertegemeinschaft

Aleppo, im Dezember 2016 mit russischen Soldaten. Bild: Mil.ru / CC BY 4.0

Der von Donald Trump bereits zum Jahreswechsel 2018/2019 angekündigte und inzwischen auch umgesetzte Rückzug amerikanischer Truppen aus Nordsyrien – bis auf ein Truppen-Kontingent in der Nähe der syrischen Ölquellen – sowie die dritte Invasion der Türkei in Syrien hat die politischen Eliten des »alten Westens« überrascht und in große Verunsicherung gestürzt.

Der französische Präsident Emmanuel Macron hat diese Verunsicherung mit der zugespitzten These vom »Hirntot der NATO« rechtzeitig zum bevorstehenden Geburtstagsgipfel zu ihrem 70-jährigen Bestehen noch mal befeuert. Die Groko-Parteien SPD und die Union sehen sich nicht nur innenpolitisch aufgrund der Wahlverluste in den jüngsten Landtagswahlen, sondern auch außenpolitisch mit einer massiven Erschütterung ihrer bisherigen Gewissheiten konfrontiert – mit der beschleunigten Erosion der atlantischen Interessens- und Wertegemeinschaft.

Denn der Rückzug der US-Truppen aus Nordsyrien ist, wie Trump deutlich gemacht hat, nur ein Teilelement des grundsätzlichen Ausstiegs der USA aus ihrer Rolle als Weltpolizist und damit als hegemoniale Ordnungsmacht im geopolitischen Rahmen. Die »lächerlichen, endlosen Kriege« auf Kosten der amerikanischen Steuerzahler sollen endlich beendet werden, womit er zugleich eines seiner zentralen Wahlversprechen wahrmacht. Die NATO hatte Trump selbst schon früh als »obsolet« bezeichnet. Seine immer wieder erhobene Forderung nach Erfüllung der 2%-Klausel – jedes NATO-Mitglied soll 2% des Bruttoinlandproduktes für das Militär ausgeben – hat, worauf Macron zu Recht hinwies, vor allem den wirtschaftlichen Zweck, die Rüstungsexporte der USA in die NATO-Mitgliedsstaaten zu erhöhen. Aber nicht nur die NATO, sondern das internationale System sei, so Macron, in einer »beispiellosen Krise«. Die Vereinten Nationen seien »blockiert«.


Geo-politische Machtverschiebungen im Nahen und Mittleren Osten

Im weltpolitischen Pulverfass des Nahen und Mittleren Ostens hat der Rückzug der US-Truppen aus Nordsyrien ein neues Machtvakuum geschaffen und damit die Karten für die lokalen, regionalen und geo-politischen Akteure neu gemischt:

  • Das NATO-Mitglied Türkei bekam freie Hand für die dritte, ebenfalls völkerrechtswidrige Invasion in Nordsyrien seit 2016.[1] Überwiegend islamistische arabische Milizionäre aus der syrischen Opposition rückten unter türkischer Führung und mit türkischer Luftunterstützung in das syrische Grenzgebiet zur Türkei vor, was vor allem unter der kurdischen Zivilbevölkerung zu Toten, Flucht und Vertreibung geführt hat.
  • Neben der Türkei hat Russland das entstandene Machtvakuum als wiedererstarkter Player im Nahen und Mittleren Osten genutzt und dort seine Rolle als neue Ordnungsmacht gefestigt. Ziel des Treffens Putins mit Erdoğan in Sotschi kurz nach der türkischen Invasion in Nordsyrien war die Schaffung einer Feuerpause bzw. deren Verlängerung, nachdem die USA kurz zuvor bereits durch Druck auf Erdoğan eine einwöchige Feuerpause durchgesetzt hatten. Russland ist derzeit die geopolitische Ordnungsmacht, die in Syrien den Übergang dieser Feuerpause in einen längerfristigen Waffenstillstand herbeiführen und letztlich auch garantieren kann.

Grundlage der Vereinbarung zwischen Russland und der Türkei war, dass die Türkei ihr ursprüngliches Ziel, das Assad-Regime zu stürzen, aufgibt und zukünftig mit ihm zusammenarbeitet. Erdoğan hat im Gegenzug zunächst sein Ziel erreicht, die syrischen Kurdenmilizen YPG, die er als verlängerten Arm der PKK betrachtet, aus der Grenzregion zu vertreiben.

In Sotschi wurde eine Sicherheitszone vereinbart, die in einem Korridor entlang der syrisch-türkischen Grenze in einer Länge von 440 Kilometern und einer Tiefe von 30 Kilometern verläuft und damit wesentlich umfassender ist, als die von US-Vizepräsident Pence mit Erdoğan kurz vor dem Treffen in Sotschi vereinbarte Zone. Aus dieser Sicherheitszone sollen sich die syrischen Kurdenmilizen zurückziehen und ihre militärischen Verteidigungsanlagen abbauen. Russland will auch für den Rückzug von YPG-Milizen aus den Städten Tall Rifaat und Manbidsch sorgen, die außerhalb der türkischen Militärinvasion liegen. Die Sicherheitszone soll gemeinsam von türkischen und russischen Einheiten innerhalb eines zehn Kilometer tiefen Streifens entlang der Grenze kontrolliert werden.

Darüber hinaus wurde vereinbart, gemeinsam an der Rückkehr von syrischen Flüchtlingen aus der Türkei zu arbeiten. Was dies konkret bedeutet, ist unklar. Schon in diesem Punkt bestehen erhebliche Konflikte zwischen der Türkei, die die Rückkehr von möglichst vielen syrischen Flüchtlingen – auch aufgrund von zunehmenden Akzeptanzproblemen in der eigenen Bevölkerung – anstrebt, und dem Assad-Regime, das eine Rückkehr von syrischen Flüchtlingen, die die syrische Opposition unterstützt oder mit ihr gekämpft haben, ablehnt. Die jeweiligen Interessenslagen der Türkei und Syriens sind nicht nur unterschiedlich, sondern auch äußerst konfliktträchtig.

Nachdem Russland bereits mit seiner militärischen Intervention im kleinen Weltkrieg in Syrien die politische Fortexistenz des Assad-Regimes gesichert hatte, unterstützt es mit seiner politischen Initiative in Sotschi die Rückeroberung der politischen Macht der syrischen Zentralregierung Assads über ganz Syrien. Hauptziel der militärischen und politischen Intervention Russlands in Syrien ist es, den Einfluss des Westens zurückzudrängen und einen Zerfall des syrischen Staates und ein politisches Chaos wie z.B. im Irak nach der militärischen Intervention der USA und ihrer NATO-Verbündeten, aus dem schließlich auch die islamistische Terrormiliz »IS« hervorwuchs, zu verhindern bzw. nach der militärischen Sieg über die syrische Opposition einem erneuten Zerfall Syriens vorzubeugen.

Vor diesem Hintergrund hat Putin schon vor einiger Zeit deutlich gemacht, dass sich alle ausländischen Truppen, die auf syrischem Territorium anwesend sind, zurückziehen müssten, wenn das Assad-Regime dies wünsche. Dies gelte auch für Russland und seine in Syrien stationierten Truppen, wovon aber auf absehbare Zeit wohl nicht auszugehen ist. Die Positionierung Russlands ist damit auch gegen eine längerfristige Besetzung der syrischen Grenzzone zur Türkei durch türkische Truppen und eine von Erdoğan letztendlich zur Übertünchung innenpolitischer Konflikte geplante Annexion dieser Gebiete gerichtet.

Assad hat diese grundsätzliche russische Positionierung in einem Fernseh-Interview, dessen Abschrift über die amtliche Nachrichtenagentur Sana verbreitet wurde, bestätigt und ergänzt (siehe hierzu die FAZ vom 2.11.2019). Die Präsenz der Türkei werde »auf die eine oder andere Weise« beendet. Die Einigung in Sotschi zwischen Putin und Erdoğan stelle eine Schadensbegrenzung dar, sei aber nur eine vorübergehende Episode innerhalb der vollständigen Rückeroberung des Landes. Man müsse dem politischen Prozess Raum geben, sollte dieser aber keine Ergebnisse hervorbringen, sei die Türkei ein Feind »und gegen den zieht man in den Krieg«.

Assad kündigte an, dass sein Regime auch wieder die »volle Autorität« über die kurdisch beherrschten Gebiete im Nordosten Syrien erlangen werde, was aber ein langer »gradueller« Prozess sei. Was dies konkret für die syrischen Kurden bedeutet, ist zurzeit unklar. Angesichts der türkischen Invasion hatte die kurdische Selbstverwaltung das Assad-Regime zur Hilfe gerufen und ihm erlaubt, wieder Truppen in den Norden Syriens zu verlegen, aus dem diese sich vor Jahren zur Konzentration auf die Bekämpfung der syrischen Opposition zurückgezogen hatten. Es ist davon auszugehen, dass die Kurden die zwischenzeitlich aufgebauten Strukturen der autonomen Selbstverwaltung nicht werden aufrechterhalten können.

Dem Assad-Regime und auch Russland geht es, wenn auch aus unterschiedlichen Interessen, um die Erhaltung von Staatlichkeit, deren Zerfall mehr oder weniger die gesamte Region des Nahen und Mittleren Ostens betrifft, mit Ausnahme von Israel und dem Iran. Der Iran kann auf eine über 2000 Jahre historisch gefestigte Staatlichkeit zurückblicken, was das Land an sich schon zu einem regionalen Machtfaktor in den überaus fragilen Strukturen in der Golfregion gemacht hat.

Demgegenüber wurden nach dem endgültigen Zerfall des Osmanischen Reiches gegen Ende des Ersten Weltkrieges von den alten Kolonialmächten Großbritannien und Frankreich u.a. mit Syrien und dem Irak sogenannte Kunststaaten geschaffen, in denen die jeweiligen verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen durch willkürlich gezogene Grenzen zum Zusammenleben gezwungen wurden. Gerade Kunststaaten wurden immer wieder von diesen historischen Gründungsfehlern der Kolonialmächte eingeholt.

Diese externen Faktoren vermengten sich mit internen Faktoren wie der Herrschaft von Minder- über Mehrheiten, Klientel- und Patronage-Systemen, ineffizienten und korrupten Behörden und fehlender Gewaltenteilung, die in ihrer Gesamtheit zu Misswirtschaft, sozialen Krisen und zu Bürgerkriegen zwischen den verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen führten. Die Bevölkerungsgruppen suchten zugleich Unterstützung bei ihren jeweiligen externen Schutzmächten, den sunnitisch oder schiitisch geprägten Staaten wie Saudi-Arabien und Iran, womit sich die Bürgerkriege zu Stellvertreterkriegen entwickelten. Diese Stellvertreterkriege erhielten mit den politischen und militärischen Interventionen der um Hegemonie im Nahen und Mittleren Osten ringenden Großmächte eine weitere Konfliktebene, wodurch die Konfliktdynamiken weiter aufgeladen wurden. Staaten wie der Irak, Libyen und auch Syrien wurden im Resultat des Zusammenwirkens dieser verschiedenen Faktoren zu failed oder failing states.[2]


Die geopolitische Selbstmontage des »alten« Westens

Mit dem Rückzug der US-Truppen aus Nord-Syrien und dem Erstarken Russlands als neuer geo-politischer Ordnungsmacht im Nahen und Mittleren Osten erhalten nicht nur die USA, sondern der »alte Westen« insgesamt die Quittung für eine über Jahrzehnte vollzogene geopolitische Selbstdemontage in dieser Region. Diese begann schon nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Sturz der demokratisch gewählten Regierung Mossadeghs im Iran durch die USA und setzte sich fort mit dem politischen Desaster der militärischen Interventionen der NATO in Afghanistan, im Irak, in Libyen.

Auch in Syrien hatte der Westen auf das falsche Pferd gesetzt und einseitig die syrische Opposition unterstützt, verbunden mit der fatalen politischen Fehleinschätzung, dass das Assad-Regime kurz vor dem Sturz stehe. In der entscheidenden Phase zwischen 2012 und 2014 glich die Diplomatie zwischen Amerika und Russland einem »Dialog von Taubstummen«.

Eine der Hauptstreitpunkte war, dass Russland unter Verweis auf den durch die militärische Intervention der USA und anderer NATO-Mächte ausgelösten Sturz des libyschen Diktators Gaddafi und den anschließenden Zerfall des libyschen Staates zumindest vorübergehend an Assad und seinem Regime festhalten wollte, während die USA glaubten, das Assad-Regime stehe kurz vor dem Kollaps, und daher auf eine militärische Lösung durch Sieg einer von Jihadisten verschiedener Couleur durchmischten syrischen Opposition setzten. Sie blockierten damit die russische Initiative erneut 2014 – eine fatale außenpolitische Fehleinschätzung des Westens, der damit einen gestaltenden Einfluss auf die anschließende Entwicklung in Syrien verlor.

Russland verstärkte sein militärisches Engagement in Syrien massiv und verhalf dem Assad-Regime – unter Einsatz brutalster militärischer Mittel – zum militärischen Sieg über die syrische Opposition. Syrien ist laut Einschätzung des ehemaligen deutschen Außenministers und heutigen Bundespräsidenten, Frank-Walter Steinmeier, daher »wirklich eine Geschichte der ausgelassenen Chancen« (FAZ vom 16.9.2019).[3]

Der unter Trump eingeleitete Rückzug der USA aus der Rolle des Weltpolizisten bedeutet allerdings nicht, dass sich die USA auf dem Wege in den Isolationismus befinden. Denn parallel zum Rückzug aus der Weltpolizisten-Rolle treten die USA im globalen Kontext, gestützt auf ihre nach wie vor bedeutende ökonomische Macht (wesentlich vermittelt über die Dollardominanz im internationalen Zahlungsverkehr) und ihre herausragende militärische Macht, immer mehr als bloße Vertreter nationalistisch definierter, imperialer Interessen auf und hebeln damit die globale Entwicklungstendenz hin zu einer regelbasierten multilateralen Weltordnung aus. Die friedensgefährdende Politik des maximalen Drucks auf den Iran, um diesen Störenfried in der von den USA nach wie vor beanspruchten Kontrolle der internationalen Produktion und Verteilung der fossilen Energieträger zur Raison zu bringen, unterstreicht dies ebenso wie der vom Zaun gebrochene Handelskrieg mit China.

Auch die jüngste Entscheidung der Regierung Trump, im israelischen Siedlungsbau im Westjordanland »per se« keinen Verstoß mehr gegen das internationale Völkerrecht zu sehen, reiht sich ein in die Kette einseitiger pro-israelischer Entscheidungen wie derjenigen, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen. Die faktische Legitimierung des illegalen, völkerrechtswidrigen Handels Israels blockiert immer mehr eine Zweistaaten-Lösung im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern und befeuert das gesamte Konfliktgeschehen im Nahen und Mittleren Osten.

Die geo-politische Lage wird durch den radikalen Wechsel in der amerikanischen Außenpolitik insgesamt immer konfliktträchtiger, womit auch der Nährboden für irrationale, gewaltsame Lösungsversuche der Konfliktparteien auf den verschiedenen – vor allem auf den lokalen und regionalen – Konfliktebenen wächst.


Von der geopolitischen Zaungastrolle Europas zur Sprache der Macht

In dieser konfliktträchtigen geopolitischen Lage servierte die CDU-Vorsitzende und Verteidigungsministerin, Annegret Kramp-Karrenbauer, den Vorschlag einer international kontrollierten Sicherheitszone im nordsyrischen Grenzgebiet zur Türkei. Angesichts der im Nahen und Mittleren Osten mittlerweile entstandenen neuen Machtkonstellationen wurde sehr schnell deutlich, dass dieser Vorschlag keinen Realitätsgehalt hat. Er erfüllt stattdessen vor allem den innenpolitischen Zweck, angesichts einer erodierenden transatlantischen Interessens- und Wertegemeinschaft Handlungsfähigkeit der Unionsparteien in der Außenpolitik zu suggerieren, wo faktisch bisher Rat- und Hilflosigkeit vorherrschen, insbesondere wenn es um die ruinösen Folgen der amerikanischen Destruktions- und Eskalationspolitik im Nahen und Mittleren Osten geht.

Realitätsgehalt hin oder her, wichtig sei, so Friedrich Merz, »das Signal, dass wir bereit sind, außen- und sicherheitspolitisch Verantwortung zu übernehmen« (FAZ vom 23.10.2019). Viel zu lange habe Deutschland davor zurückgeschreckt, die Initiative zu übernehmen. Schon lange träumen deutsche Politiker, wie z.B. der langjährige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel, von einer europäischen Armee, die die Vertretung deutscher und europäischer Interessen im globalen Kontext ggf. auch machtpolitisch untermauert.

In dieser Debatte erklärte die ehemalige deutsche Verteidigungsministerin und designierte Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, nun unmissverständlich, dass Europa auch die »Sprache der Macht« erlernen müsse.[4] In ihrer Eigenschaft als deutsche Verteidigungsministerin hatte sie vor zwei Jahren die engere militärische Kooperation von EU-Mitgliedsstaaten (Pesco) mit aus der Taufe gehoben. Es geht dabei um Rüstungsprojekte, neue Patrouillenboote oder um ein neues Artilleriesystem sowie um gemeinsame Ausbildungszentren. Bisher hat Pesco die Anforderungen an eine »strukturierte Zusammenarbeit« innerhalb Europas kaum erfüllt. Ungeklärt ist auch die Zusammenarbeit mit dem Pentagon, das für den Fall des Ausschlusses der USA mit »reziproken Restriktionen« drohte.

Mit der Einschätzung Macrons vom »Hirntod« wird das bisherige Verhältnis Europas zur NATO grundsätzlich zur Diskussion gestellt. Während Annegret Kramp-Karrenbauer diese Einschätzung so deutete, dass Macron die NATO »ersetzen« wolle, sieht Heiko Maas dies als Aufforderung, sich auf dem bevorstehenden Geburtstagsgipfel der NATO wieder verstärkt um innere Abstimmung zu bemühen. Die auch von ihm nicht geleugnete politische Krise des Verteidigungsbündnisses soll durch Reformvorschläge einer Expertengruppe behoben werden. Einig sind sich die Diskutant*innen aber offenbar darin, dass die Erlernung der »Sprache der Macht«, ob nun in enger Abstimmung mit der NATO und damit mit den USA, oder als eigenständiges europäisches Projekt, unumgänglich sei, um die Durchsetzung europäische Interessen im globalen Rahmen machtpolitisch zu untermauern.

Solchen Intentionen einer inzwischen offen diskutierten Militarisierung deutscher und europäischer Außenpolitik ist politisch mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten. Politisch zielführend ist stattdessen:

  • Die diversen militärischen Intervention in Ex-Jugoslawien, in Afghanistan, im Krieg gegen den Irak gehören vor dem Hintergrund der heute offen zutage tretenden desaströsen sozialen und politischen Folgen vor allem für die jeweils betroffene Zivilbevölkerung (siehe z.B. die derzeitigen innenpolitischen Unruhen im Irak) endlich auf den selbstkritischen Prüfstand. Da diese Interventionen der NATO ohne UN-Mandat durchgeführt wurden, werden die Selbstermächtigungen auch von anderen Mächten, wie von Russland in Syrien und jüngst von der Türkei bei ihrer dritten Invasion in Syrien, zum Anlass genommen, ebenso zu verfahren.
  • Die Rolle Europas und hier insbesondere Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands als neben den USA und Russland weltweit führenden Waffenexportteuren ist schrittweise zurückzudrängen. In einem ersten Schritt sind keine Waffen mehr in Krisengebiete zu liefern. Bisher hat Deutschland trotz der massiven Verletzung des internationalen Völkerrechtes durch die Türkei kein umfassendes Waffenembargo, das auch bereits genehmigte Waffenexporte einschließt, beschlossen. Waffenlieferungen liegen zwar im Interesse der deutschen und europäischen Rüstungskonzerne, sind aber im bereits weit überdurchschnittlich militärisch aufgerüsteten Nahen und Mittleren Osten absolut kontraproduktiv für eine politische Befriedung und wirtschaftliche und politische Weiterentwicklung der Region.
  • Statt in der gegenwärtigen Situation einer wachsenden Welt-Un-Ordnung dem Wahn einer Militarisierung der europäischen Außenpolitik zu verfallen, wird es für eine gegenüber den USA eigenständige geostrategische Außenpolitik Europas politisch immer dringlicher, das zivile internationale Konflikt- und Krisenmanagement auszubauen. Der Traum von einer neuen, militärisch untermauerten Machtpolitik im globalen Kontext kann schnell zu einem Albtraum werden.
  • Die bisherige, mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim begründete Politik der Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland hat in eine Sackgasse geführt und stellt ein desaströses Erbe der Außenpolitik der Regierung Merkel dar. Das Verhältnis Europas zu Russland ist daher neu zu gestalten, was inzwischen auch Macron fordert: »Nach dem Verschwinden des ursprünglichen Feindes 1990 haben wir unser geopolitisches Projekt gar nicht neu bewertet« (FAZ vom 15.11.2019). Im Unterbewusstsein sei Russland weiter der Feind geblieben. Die Erosion einer regelbasierten multilateralen Weltordnung habe Russland frühzeitiger als Europa erkannt und sich daraufhin wieder mit militärischer Großmachtpolitik – wie in Syrien – internationale Geltung verschafft. Auch wenn nicht alle Konflikte mit Russland vergessen werden sollten, wolle er doch »eine neue Sicherheitsgrammatik« einführen.
  • Speziell in Syrien geht es darum, eine politische Verständigung der verschiedenen Konfliktparteien, die jetzt zum ersten Mal in Genf an einem Tisch zusammensitzen, auf eine neue syrische Verfassung zu unterstützen sowie den wirtschaftlichen Wiederaufbau Syriens voranzutreiben. Die Lage der syrischen Zivilbevölkerung ist auch nach dem Krieg immer noch äußerst prekär. Große Teile der syrischen Bevölkerung befinden sich noch immer außerhalb des Landes auf der Flucht und harren in verschiedenen Flüchtlingslagern der Anrainerstaaten (u.a. in der Türkei und im Libanon) aus. Die Kosten des Wiederaufbaus Syriens werden auf 200 bis 400 Mrd. US-Dollar geschätzt. Diese Kosten werden nicht von Russland geschultert werden können. Eine massive finanzielle Unterstützung Europas beim Wiederaufbau in Syrien ist unabdingbar, wenn Europa dort in Zukunft eine bedeutsame Rolle im Sinne einer zivilen Unterstützung und Mitgestaltung spielen will. Nur so lassen sich auch Fluchtursachen tatsächlich bekämpfen.

Während sich große Teile der deutschen politischen Eliten die neue/alte »Sprache der Macht« wieder aneignen, verharrt die Linke weiter in geostrategischer Sprachlosigkeit, wo doch in der aktuellen Situation einer immer fragiler werdenden Weltordnung eine außenpolitische Orientierung Deutschlands und Europas auf Alternativen jenseits der »Sprache der Macht« dringend geboten wäre.

Anmerkungen

[1] Vgl. dazu: Redaktion Sozialismus, Der türkische Autokrat eröffnet einen neuen Krieg, Sozialismus.deAktuell vom 11.10.2019.
[2] Siehe hierzu auch Friedrich Steinfeld: Der Nahe und Mittlere Osten als weltpolitisches Pulverfass, Supplement der Zeitschrift Sozialismus.de 2/2019.
[3] Siehe hierzu auch: Friedrich Steinfeld, Religiöser und politischer Fundamentalismus im Aufwind, Hamburg 2016, insbesondere die Seiten 157ff.
[4] Siehe hierzu auch: Otto König/Richard Detje, Kanonenbootpolitik bis vor Chinas Haustür, in: Sozialismus.deAktuell vom 17.11.2019

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