6. Juni 2023 Joachim Bischoff/Bernhard Müller

Verteilungskämpfe, Streiks und Aufwind für die Gewerkschaften

Corona, Krieg, Klimakrisen: Die Liste der aktuellen, menschengemachten Katastrophen ist lang. Diese Verwerfungen gehören auch in Europa zum Alltag. Neu ist zudem die Rückkehr der Kämpfe um Lohn und Arbeitsbedingungen, die teils mit heftigen Streiks ausgetragen und entschieden werden.

So legen in Deutschland, Frankreich und Großbritannien in diesem Frühjahr Streiks das öffentliche Leben lahm. Hauptgründe sind das massive Absenken der realen Einkommen infolge der Preisexplosion, aber auch Proteste gegen die Arbeitsbedingungen und – wie in Frankreich – die Verschlechterungen bei den Altersrenten.

Seit Wochen beeinträchtigen Streiks das öffentliche Leben in Großbritannien: Die Pflegekräfte des britischen Gesundheitsdienstes NHS demonstrieren für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen., Lehrkräfte, Beschäftigte der Bahn und anderer Branchen kündigten Ausstände an. Und die Regierung erwägt das  Streikrecht einzuschränken.

In der Folge dieser Verteilungskämpfe, der vermehrten Lohnkämpfe,[1] registrieren die Gewerkschaften Mitgliederzuwächse und eine institutionelle Aufwertung. Die konfliktreiche Vertretung der Rechte der Lohnarbeiter gehört zu den charakteristischen Merkmalen der vom Kapital geprägten Gesellschaften. Die Rechte der Lohnarbeit musste schon immer in Kämpfen verwirklicht und ausgeweitet werden. Jetzt und in Zukunft mehr denn je.

Zu den charakteristischen Merkmalen gehören auch die mehr oder minder regelmäßigen Schwankungen in der Akkumulation des Kapitals. Die deutsche Wirtschaft muss aktuell – wie andere europäische Wirtschaften auch – eine Schwächephase oder Rezession verarbeiten. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP), also die gesamtgesellschaftliche Wirtschaftsleistung, ist im ersten Quartal im Vergleich zum Vorquartal um 0,3% geschrumpft.[2] Nachdem das BIP bereits zum Jahresende 2022 ins Minus gerutscht war, verzeichnete die deutsche Wirtschaft damit zwei negative Quartale in Folge.

Bei der Bewertung dieser Rezession ist allerdings zu beachten, dass viele Prognosen im Sommer 2022 noch von einer schweren Rezession als Resultat des Lieferstopps von Gas aus Russland ausgegangen sind. Gemessen daran ist die jetzt eingetretene leichte Abschwächung ein Erfolg der staatlichen Interventionen. Er ist vor allem auf die massiven Wirtschaftshilfen der Bundesregierung und die Gewährleistung der Energiesicherheit zurückzuführen. Zum anderen konnte ein Anstieg der Arbeitslosigkeit bisher verhindert werden.

Die Inflation prägt den Alltag. Die Bundesbürger*innen leiden unter dem Anstieg der Preise. Sie schränken sich ein. Lebensmittel und Energie sind massiv im Preis gestiegen. Die Verbraucher*innen reagieren, indem sie ihren Konsum zurückfahren, beispielsweise weniger für den Konsum ausgeben. Die Preisdynamik schmälert die Kaufkraft empfindlich. Unter Lohnempfänger*innen breitet sich Einkommensunsicherheit aus. Deutschland gehört nach Berechnungen der OECD zu den westlichen Ländern, wo die Haushaltsbudgets besonders spürbar schrumpfen. Im ersten Quartal dieses Jahres sanken die Realeinkommen pro Kopf bereits um 1,7%.

Gleichwohl gibt es besonders starke Verlierer durch Inflation und Rezession. Vor allem Menschen mit geringen und mittleren Einkommen müssen massive Einbußen in ihrem Lebensstandard hinnehmen. Das liegt vor allem an den nach wie vor großen Steigerungsraten bei den Lebenshaltungskosten.


Teuerung der Lebenshaltungskosten sinkt etwas, bleibt aber hoch

Aktuell ist die Inflationsrate in Deutschland zurückgegangen – und auch in vielen anderen Ländern des Euroraums ist die Entwicklung ähnlich. Sie sank im Mai auf vergleichsweise immer noch hohe 6,1%, nach 7,2% im April und 7,4% im März. Damit ist die Inflation zumindest rückläufig.

Der Grund: Die Energiekosten gaben gegenüber April um 1,6% nach. Diesel war 22,3% billiger als im Mai 2022 und 5% billiger als im April 2023. Bei Nahrungsmitteln war es von Produkt zu Produkt unterschiedlich: Speisefette und -öle waren im Mai 7,5% günstiger als vor einem Jahr. Dagegen ist der Preisdruck bei Brot und Getreideerzeugnissen weiterhin hoch.

»Hier hat der Staat mit dem Deutschlandticket nachgeholfen«, meinte der Ökonom Schmieding. Der Rückgang der Preise für die kombinierte Personenbeförderung mit Bahn und Bus gegenüber April um 31,1% habe die Gesamtinflationsrate um 0,2 Prozentpunkte verringert. Aber auch ohne diesen Effekt wäre die Kernteuerungsrate gefallen.

Auch im Euroraum ist die Inflationsrate im Mai gefallen. Sie lag bei 6,1%, nach 7% im April. Die sogenannte Kerninflation, das ist die Teuerung ohne stark schwankende Preise wie die für Energie und Lebensmittel, sank ebenfalls, von 5,6 auf 5,3 Prozent. Je nach Euroland war die Entwicklung dabei allerdings höchst unterschiedlich.

Als Ergebnis von intensiven Tarifauseinandersetzungen sind die Nominallöhne in Deutschland  im 1. Quartal 2023 um 5,6% gegenüber dem Vorjahresquartal gestiegen. Es handelt sich um den höchsten gemessenen Nominallohnanstieg für ein Berichtsquartal seit Beginn der Zeitreihe 2008. Die Verbraucherpreise stiegen im selben Zeitraum um 8,3%. Der Trend aus dem Jahr 2022 setzt sich somit fort: Die hohe Inflation zehrt das Lohnwachstum für die Beschäftigten auch zum Jahresbeginn 2023 mehr als auf.[3]

Die überproportionale Steigerung der Nominallöhne im 1. Quartal 2023 hat den Reallohnverlust für die Beschäftigten zum Jahresbeginn im Vergleich zu den letzten drei Berichtsquartalen insgesamt etwas abgeschwächt. Zu dieser Abfederung des Kaufkraftverlustes der Beschäftigten haben auch die Auszahlungen der Inflationsausgleichsprämie beigetragen. Diese kann bis zu 3.000 Euro betragen (steuer- und abgabefrei) und ist eine freiwillige Leistung der Arbeitgeber.


Wohlstandsverluste für Lohnabhängige und Sozialleistungsbezieher*innen

Mit dem Reallohnverlust im 1. Quartal 2023 setzte sich in Deutschland für die Lohnabhängigen ein bitterer Trend aus dem vergangenen Jahr fort. Denn schon 2022 zehrte die Rekordinflation von 6,9% im Gesamtjahr das Lohnwachstum von durchschnittlich 2,6% auf. Unterm Strich machten die Beschäftigten damit im vergangenen Jahr ein Minus von 4,0 Prozent, nachdem sie sich bereits in den letzten beiden Krisenjahren rückläufig entwickelt hatten.

Während im Jahr 2020 insbesondere der vermehrte Einsatz von Kurzarbeit zur negativen Nominal- und Reallohnentwicklung beigetragen hatte, zehrte 2021 und besonders 2022 die hohe Inflation das Nominallohnwachstum auf. Im Jahr 2022 wurde nach vorläufigen Daten der stärkste Reallohnrückgang in Deutschland seit Beginn der Zeitreihe des Nominallohnindex im Jahr 2008 gemessen.

Die weiteren Aussichten sind durchwachsen. Die Gewerkschaften haben zwar für die kommenden beiden Jahre Lohnsteigerungen von bis zu 10% verhandelt. Die Laufzeiten dieser Tarifverträge betragen allerdings zwei Jahre. Wenn man die Inflationsentwicklung aus dem vergangenen Jahr mit den Prognosen für die Teuerungsraten im laufenden und im kommenden Jahr zusammenrechnet, kommt man auf einen Kaufkraftverlust von 10%. Das heißt: Ein/e Durchschnittsverdiener*in mit einem Jahresgehalt von 40.000 Euro hat Ende kommenden Jahres real nur noch 36.000 Euro auf dem Konto.

In einer neuen Studie[4] des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung wurde ausgerechnet, mit welchen Einkommenseinbußen die meisten Haushalte 2023 im Vergleich zu 2021 konfrontiert sind. Denn trotz umfangreicher staatlicher Entlastung haben sie in Deutschland durch die hohe Inflation im vergangenen und in diesem Jahr deutliche Einbußen bei der Kaufkraft erlitten. In vielen Lohnabhängigen-Haushalten fallen die Nettoeinkommen 2023 nach Abzug der Teuerung um gut zwei bis gut drei Prozent niedriger aus als 2021 – nachdem sie schon 2022 deutliche Kaufkraftverluste hinnehmen mussten.

Das entspricht beispielsweise bei alleinlebenden Facharbeitenden in diesem Jahr einer »Kaufkraftlücke« von 746 Euro gegenüber 2021. Eine vierköpfige Mittelschichts-Familie mit zwei Erwerbstätigen büßt sogar 1.747 Euro an Kaufkraft ein, Alleinerziehende mit einem Kind und mittlerem Einkommen 980 Euro. Lediglich Alleinlebende, die zum Mindestlohn arbeiten, haben gegen diesen Trend dank der kräftigen Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns ein spürbar höheres reales Nettoeinkommen zur Verfügung als 2021.

Die Verluste wären ohne die Entlastungsprogramme der Bundesregierung noch weitaus größer ausgefallen, ergibt die Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK). Die Kombination aus Entlastungen bei Steuern und Sozialabgaben, höheren Sozialleistungen, Preisbremsen und Direktzahlungen sei angekommen, betonen Prof. Dr. Sebastian Dullien, Dr. Katja Rietzler und Dr. Silke Tober: »Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Staat in der aktuellen Phase überschießender Inflation die Privathaushalte in Deutschland sowohl preislich als auch nicht-preislich massiv entlastet und damit den Verlust an Kaufkraft spürbar begrenzt hat.« Das gelte gerade im unteren Einkommenssegment, Haushalte mit hohen Einkommen weisen allerdings ebenfalls unterdurchschnittliche Kaufkraftverluste im Verhältnis zu ihren Einkünften auf.

Als wirkungsvoll bezeichnen die Fachleute des IMK auch die steuer- und abgabenfreien Inflationsausgleichsprämien ein, die in vielen Lohnabschlüssen ergänzend zu tabellenwirksamen Erhöhungen eine Rolle spielen. Die Prämien seien »geeignet, den Kaufkraftverlust massiv zu verringern und in Einzelfällen ganz zum Verschwinden zu bringen«, analysieren die Forschenden auf Basis von beispielhaften Vergleichsrechnungen. Im gesamtwirtschaftlichen Mittel und wegen des Einmalcharakters der Prämie bleibe die Stabilisierung und Stärkung der Kaufkraft aber auch für die kommenden Jahre ein wichtiges Thema.


Soziale Spaltung nimmt zu

Die Steigerung der Lebenshaltungskosten führt also vor allem bei Menschen mit geringen und mittleren Einkommen zu massiven Einbußen in ihrem Lebensstandard. Die Inflation betrug 2022 im Durchschnitt knapp sieben Prozent und für viele Menschen mit geringen Einkommen nicht selten das Doppelte davon, weil sie einen viel höheren Anteil ihres monatlichen Einkommens für die Dinge ausgeben mussten, die besonders teuer geworden sind wie Energie und Lebensmittel.

Die Löhne und Renten konnten hingegen kaum Schritt halten – sie sind im Durchschnitt wenig mehr als 4% gestiegen. Somit mussten vor allem Menschen mit geringen Einkommen starke Einbußen in ihrer Kaufkraft erfahren, zumal 40% der Menschen in Deutschland praktisch keine Ersparnisse haben, auf die sie zurückgreifen können, um die höheren Lebenshaltungskosten zu finanzieren. Die Folgen sind dramatisch: Die Tafeln berichten von mittlerweile zwei Millionen regelmäßigen Besucher*innen. Immer mehr Menschen müssen sich verschulden. Und dies spiegelt sich auch in den Konjunkturzahlen wider, denn es ist vor allem der ungewöhnlich schwache private Konsum, der die Rezession erklärt.


Der Lebensstandard des Vorkrisenniveaus verflüchtigt sich

Das weit größere Problem: Die nächsten zwölf Monate dürften für viele Menschen, vor allem solche mit wenig Einkommen und ohne Rücklagen, erneut schwieriger werden. Denn die Inflation wird wohl mit voraussichtlich 6% in diesem Jahr wiederum deutlich über dem Anstieg der Löhne und Renten liegen. Somit werden viele Menschen weiterhin in ihrer Lebenshaltung kürzer treten müssen. Dies bedeutet konkret: weniger Geld für Lebensmittel, für Ausflüge mit den Kindern, für Kleidung und für größere Anschaffungen wie eine neue Waschmaschine oder ein Sofa.

Hinzu kommen die gestiegenen Zinsen, die nicht nur Konsumentenkredite, sondern auch Kredite für Unternehmen deutlich teurer machen. Dies schwächt die Investitionen der Unternehmen, was sich wiederum negativ auf die Löhne der Beschäftigten und deren Kaufkraft auswirkt. Auch der Ausblick für die Jahre 2024 und 2025 ist alles andere als rosig, da wir uns auf absehbare Zeit mit einem schwachen Wachstum werden abfinden müssen. Und eine Eskalation des Kriegs in der Ukraine, Konflikte mit China oder Probleme im Bankensektor könnten die Wirtschaft erneut in eine Rezession treiben.

All dies bedeutet, dass ein Großteil der abhängig Beschäftigten noch fünf Jahre oder mehr werden warten müssen, bis die Kaufkraft ihrer Löhne und damit ihr Lebensstandard wieder dem Vorkrisenniveau in etwa entspricht. »Diese Krise zerstört viel Wohlstand und sie trifft vor allem die verletzlichsten Menschen, Menschen mit geringen Einkommen und mit wenig Vorsorge, besonders hart.«[5]


Sozialer Ausgleich bei gleichzeitiger Ausweitung von Investitionen in sozial-ökologische Transformation

Eigentlich müsste die Bundesregierung in ihrer Budgetplanungen für den Bundeshaushalt 2024 ihr Augenmerk viel stärker als bisher auf soziale Ausgewogenheit und Unterstützung von Menschen mit geringen Einkommen richten. Sie sollte nicht wieder den Fehler von 2022 wiederholen und viel Geld per Gießkanne ausschütten und z.B. 15 Mrd. Euro pro Jahr durch den Ausgleich der kalten Progression primär an Personen mit Spitzenverdienst verteilen. »Direkte Transferzahlungen an Menschen mit geringen Einkommen sind das beste Instrument, um schnell und effektiv zu helfen. Daneben sind Erhöhungen des Mindestlohns und der Rentenzahlungen wichtige Elemente, um zielgenau und vor allem dauerhaft Menschen gegen Inflation und Stagnation zu schützen.«[6]

Zudem müsste die Bundesregierung stärkere Anreize für Investitionen von Unternehmen setzen, sodass diese nicht nur gut durch die Krise kommen, sondern im globalen Wettbewerb bestehen und die wirtschaftliche, ökologische und digitale Transformation erfolgreich bewerkstelligen können. Außerdem braucht das Land auch eine kluge, expansive Finanzpolitik, die auf sozialen Ausgleich und die Herausforderungen der Wirtschaft in der Transformation ausgerichtet ist und die durch stärkere öffentliche Investitionen in Bildung, Infrastruktur und Innovation auch eine schnellere wirtschaftliche Erholung möglich macht. Ob das allerdings mit einem FDP-Finanzminister Lindner machbar ist, ist mehr als zweifelhalt.

Anmerkungen

[1] Bei der Bahn etwa ringen die Beschäftigten immer noch um einen vernünftigen Abschluss.  Im öffentlichen Dienst musste viel Druck aufgebaut werden, um zu einem halbwegs befriedigenden Ergebnis zu kommen. Vgl. Redaktion Sozialismus.de: Kampf um Begrenzung der Kaufkraftverluste, Sozialismus.deAktuell 31.3.2023; Redaktion Sozialismus.de: Wendepunkt in den Verteilungskämpfen?, Sozialismus.deAktuell 18.4.2023.
[2] Vgl. dazu Joachim Bischoff: Deutschland vor einer Rezession?, Der Wirtschaftsmotor stottert, Sozialismus.deAktuell, 26.5.2023.
[3] Statistisches Bundesamt, Reallöhne im 1. Quartal 2023 um 2,3 % niedriger als im Vorjahresquartal. Pressemitteilung Nr. 206 vom 30. Mai 2023.
[4] Sebastian Dullien, Katja Rietzler, Silke Tober, Nettoeinkommen der Arbeitnehmenden: Spürbare Kaufkraftlücke trotz kräftiger staatlicher Entlastung. Zusammenfassende Bewertung von Lohnerhöhungen, fiskalischer Entlastung und Inflation 2022 und 2023. IMK Policy Brief, Nr. 151, Juni 2023.
[5] Die unsoziale Rezession. Blog Marcel Fratzscher vom 30. Mai 2023.
[6] Ebd.

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