25. Februar 2021 Joachim Bischoff/Gerd Siebecke: Zum Online-Parteitag der Linkspartei
Führungswechsel zur weiblichen Doppelspitze
Am Freitag und Samstag, den 26./27.2., treffen sich rund 600 Delegierte der Partei DIE LINKE zu einem Online-Parteitag, um die neue Parteispitze zu wählen. Dabei geht es auch um eine Bilanz der zurückliegenden neun Jahre und um die Verständigung über die anstehenden Bundestagswahlen im Herbst.
Es stehen zwar auch weitere Landtagswahlen an, aber das Kräftemessen mit verschiedenen Landesproblemen hat in der Partei deutlich geringeren Stellenwert – mit Ausnahme von Thüringen, Berlin und Bremen, wo die Linkspartei an den Regierungen beteiligt ist. In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz liegt DIE LINKE nach aktuellen Umfragen erneut so tief unter der 5%-Hürde, dass ein Einzug in die Landtage unrealistisch ist. Damit ist zugleich ein Schlüsselproblem benannt: Die Partei ist nach wie vor in den westlichen Bundesländern deutlich schwächer vertreten.
Zu Recht betonen die beiden nicht wieder antretenden bisherigen Vorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger, dass sie die im Jahr 2012 zerstrittene Linksformation in den letzten neun Jahren stabilisieren und weiterentwickeln konnten. Die Mitgliederzahlen sind in ihrer Amtsperiode wieder nach oben gegangen. »Zweidrittel unserer Neumitglieder sind unter 35 Jahre jung. Wir sind jünger, bewegungsorientierter und breiter aufgestellt. Wir sind migrantischer geworden. … Die Zahl unserer Kommunalwahlmandate und damit unserer örtlichen Verankerung ist erheblich gestiegen. Die Partei hat neue Wähler*innen gewonnen. Gerade bei Beschäftigten im Gesundheitswesen, im sozialen Bereich und in den (neuen) Dienstleistungsbranchen verzeichnen wir Terraingewinne.« (Bernd Riexinger: Solidarität ist unsere DNA; Online-Artikel in LUXEMBURG) Richtig bleibt aber auch, dass die Partei ihren Schwerpunkt noch immer in den östlichen Bundesländern hat, die Verankerung in den westlichen Bundesländern bleibt ein Problem.
Für den Großteil der Aktivist*innen ist heute selbstverständlich: Eine sozialistische Partei »muss verankert sein in den Kommunen und Vereinen, in den Gewerkschaften, in den Nachbarschaften« (ebd.) Dafür wurde in Anlehnung an Gramsci der Begriff der »verbindenden Partei« gefunden. »Verankerung … ist ›Handarbeit‹, Beziehungsarbeit, Alltagsarbeit. Wir konnten vom linken Community Organizing lernen und haben Projekte in den Nachbarschaften gegründet. Eine ganze Reihe ist inzwischen aktiv. Sie organisieren Mieter*innen gegen die Wohnungsbauriesen, sie besuchen die Menschen zu Hause und fragen, was ihnen wichtig ist.« (Ebd.)
Allerdings verzeichnete die Linkspartei in den neun Jahren keineswegs eine kontinuierliche Aufwärtsbewegung. Und nüchtern bilanziert Katja Kipping zu Recht: »Zu dem, was möglich gewesen wäre, aber nicht gelang, gehört, dass wir uns bundesweit dauerhaft im zweistelligen Bereich aufstellen … So manches Mal dachte ich: ›Es ist zum Mäuse melken.‹ Immer dann, wenn unsere Umfragewerte stiegen, ja zweistellig wurden, passierten interne Fehler oder tauchten externe Krisen auf, die uns ausbremsten.« (Katja Kipping: Am Vorabend der Staffelstabübergabe. Rückblick auf fast neun Jahre Parteivorsitz, Online-Artikel in LUXEMBURG)
So ging der Streit um die Strategie in der Phase der massiven Migrations- und Fluchtbewegung unverkennbar an die Substanz der Organisation und lässt sich nicht auf überzogene Führungsansprüche von einzelnen Mandatsträgern zurückführen. Es ist sicherlich auch das Verdienst von Kipping, Riexinger u.a., dass die Linkspartei den Attacken der Bewegung von »Aufstehen« erfolgreich widerstanden hat.
In den persönlichen Bilanzen der beiden scheidenden Parteivorsitzenden klingen daher die Narben an die Auseinandersetzung um den vermeintlichen Bezug auf die »Arbeiterinteressen« an: »Kurz nach der Bundestagswahl 2017 – bei der wir uns übrigens verbessern konnten – fing die Diskussion an, dass wir zu viel über Solidarität mit Geflüchteten sprechen und zu wenig über die Beschäftigten. Ein Vorwurf, der mir nach 50 Jahren aktiver Gewerkschaftsmitgliedschaft nicht sehr nahe zu liegen schien. Ich war froh und stolz, dass wir auf dem darauffolgenden Parteitag mit überwältigender Mehrheit Position bezogen haben; dass wir für Menschlichkeit und Menschenrechte, und das heißt eben, für offene Grenzen stehen.« (Riexinger a.a.O.)
Katja Kipping argumentiert in die gleiche Richtung: »Noch heute ärgert mich die Unterstellung: Bernd und ich würden uns allein um die urbanen Hipster kümmern. Und das, wo Bernd als Gewerkschafter sein ganzes Leben sich für Beschäftigte eingesetzt hat und sich auch persönlich sehr in der Kampagne gegen den Pflegenotstand engagierte. Ich habe seit 2003 für die PDS federführend die Proteste der Erwerbslosen gegen Hartz IV mitorganisiert, kämpfe seit 16 Jahren im Bundestag gegen Armut … Wer hat eigentlich diese schräge Argumentationsfigur gesetzt, dass Kampf gegen Diskriminierung gleich Entfremdung von der Arbeiterklasse bedeutet? … Sozialer Fortschritt wird nicht dadurch wahrscheinlich, dass wir auf die Forderung nach Freiheitsrechten verzichten, sondern dadurch, dass sich Menschen hinter gemeinsamen Ideen versammeln. Dafür braucht es viele und wir werden nicht mehr, wenn wir uns spalten.« (Kipping a.a.O.)
Beide unterstreichen, dass erfolgreiche Führung und realistische politische Strategie darin bestehen, »dass DIE LINKE in der Gesellschaft als ernstzunehmende Kraft wahrgenommen wird. Und das ist nicht nur eine Frage von Prozenten, sondern davon, wie stark unsere Ideen in der Gesellschaft aufgegriffen werden.« Allerdings ist es auch eine Frage der Verankerung von sozialistischen Ideen, die aus einer fundierten Kapitalismus-Kritik entwickelt werden müssen.
Und die fällt nicht vom Himmel. Denn es ist nicht in nur in gesellschaftlichen Diskursen trotz großer Fortschritte auf allen Stufen der Bildung und Ausbildung keine Selbstverständlichkeit, sich kritisch mit der kapitalistischen Gesellschaftsformation auseinandersetzen zu können. Das gilt auch für die Partei selbst, denn Kapitalismus-Kritik und sozialistische Strategie wirkt nicht durch radikale Phraseologie, sondern muss in Debatten sowie in der Bildungs- und Theoriearbeit befördert werden.
Heinz Bierbaum vermisst unseres Erachtens zu Recht, dass diese in der letzten Zeit deutlich zu kurz gekommen ist, denn es wäre angesichts der vielfältigen Herausforderungen notwendig gewesen, eine theoriegesättigte »Diskussion um die strategische Ausrichtung der Partei zu organisieren. Davon kann jedoch keine Rede sein. Die Strategiekonferenz im Februar [2020] … in Kassel führte nicht zu einer systematischen Debatte. Es gab zwar eine Vielzahl von Beiträgen, die jedoch kaum in der Partei aufgegriffen wurden. … Dazu ist es notwendig, die sich aus den Transformationsprozessen ergebenden Anknüpfungspunkte aufzugreifen und mit einer weiter gehenden Perspektive zu verbinden. Voraussetzung für ein solches Eingreifen ist allerdings eine sorgfältige Analyse der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, an der es bislang fehlt. ... Es ist zu hoffen, dass man sich nicht – wie so oft – in Einzelforderungen verliert, sondern in größeren Zusammenhängen denkt.« (Heinz Bierbaum: Wo ist DIE LINKE? Überlegungen zum Strategieprozess der Partei, in: Sozialismus.de, Heft 12-2020)
Und auch Michael Brie und Gabi Zimmer weisen auf eine Unterschätzung von »zentralen strategischen wie taktischen Fragen im Vorfeld der Bundestagswahl« hin. »Die weitgehende Einheit beim ›Was‹ verdeckt die riesigen Differenzen beim ›Wie‹, ein Konflikt, der schon ganz andere Parteien in den Ruin getrieben hat. … Es geht darum, die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln, die notwendig sind, die Kräfteverhältnisse ideologisch, politisch und sozial wie ökonomisch zu verändern, damit die angestrebten Ziele, das Was, auch wirklich realisiert werden können. Sonst entpuppen sie sich als Seifenblasen, die bei der ersten zarten Berührung mit der Realität der über Jahrzehnte neoliberal geprägten bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zerplatzen und ihre Vertreter*innen im politischen Nichts verschwinden lassen. Mit Recht wird immer wieder auf das fatale Scheitern von Rifondazione Comunista verwiesen. Wenn das Wie nicht stimmt, wird am Ende auch das Was nicht stimmen.« (Michael Brie/Gabi Zimmer: Sagen, was ist! Zur Strategiediskussion der Partei DIE LINKE im Vorfeld der Bundestagswahl 2021, in: Sozialismus.de, Heft 10-2020, S. 3)
In der Tat ist die Herausforderung, vor dem Hintergrund des durch die Corona-Pandemie massiv geschädigten gesellschaftlichen Reproduktionsprozess eine Konkretion der Kapitalismus-Kritik zu erreichen, über die sich die Linkspartei den Umbrüchen der Zeit mit einem eigenen Entwurf stellen müsste. Deshalb müsste im Zentrum des Parteitages neben dem Stabwechsel an die beiden neuen Vorsitzenden eine Weiterentwicklung der Strategie für die größte Wirtschafts- und Gesellschaftskrise des modernen Kapitalismus seit Anfang des 20. Jahrhunderts stehen.
Neben den europäischen und internationalen Dimensionen geht es um die Überwindung des Kapitalismus mit massiven autoritären Tendenzen, dem mit einem bloßen »greenwashing«, d.h. mit einer grünen Modernisierung des Kapitalismus, nicht beizukommen ist. Es geht also um einen weitreichenden sozialen und ökologischen Systemwechsel, einen linken Green New Deal.
Aber ist DIE LINKE auf einen solchen Systemwechsel vorbereitet, hat sie die Implikationen und Konsequenzen auf dem Schirm? Allein die geschilderten Andeutungen hätten auf dem anstehenden Bundesparteitag für komplizierte Debatten gesorgt. Angesichts der Notwendigkeit, die Führungsämter neu zu besetzen, besteht die Gefahr, dass die programmatisch-strategischen Fragen erneut in den Hintergrund rücken bzw. eher Formelkompromisse die Debatten bestimmen.
Was den Parteivorsitz betrifft, haben sich die Landes- und Fraktionsvorsitzende der Linkspartei in Thüringen, Susanne Hennig-Wellsow, und die Fraktionsvorsitzende der Linken im hessischen Landtag, Janine Wissler, für eine gemeinsame Kandidatur entschieden. Gemeinsam wollen sie die Linkspartei »wieder zusammenführen.« Wie das gelingen soll, ist angesichts des aktuellen Zustandes der Partei offen, dürfte eher eine Herkulesaufgabe werden, für die den beiden designierten Vorsitzenden viel Kraft zu wünschen ist.
Denn in der Partei hat zuletzt erneut eine Auseinandersetzung über Außen- und Friedenspolitik Oberhand gewonnen, der Kampf gegen die Pandemie und die anstehende Reparatur des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses bei gleichzeitiger großer Transformation in Sachen Nachhaltigkeit spielt die übliche Nebenrolle. Die Frage von Krieg und Frieden ohne Einordnung in die real existierenden Umbrüche und gesamtgesellschaftlichen Konflikte ins Zentrum der innerparteilichen Debatte zu stellen, wird nicht weiterführen und die Partei einer weiteren unfruchtbaren Zerreißprobe aussetzen.
Die machtpolitischen Kräfteverhältnisse in Europa und auf dem Weltmarkt für die Entwicklung einer Zukunftskonzeption weitgehend auszublenden, ignoriert die realen Herausforderungen und kann mit der Formel vom friedenspolitischen Markenkern nicht überspielt werden. Es fehlen zudem Vorstellungen darüber, wie mit den wichtigsten fortschrittlichen Kräften in Europa eine wirksame Vermittlung (friedliche Koexistenz) und Zurückdrängung der weltweiten Konflikte möglich wird.
Im Leitantrag zum Parteitag wird zu Recht herausgestellt, dass die Bundesrepublik Deutschland »nicht nur vor einer Bundestagswahl und vor Landtagswahlen, sondern vor einer Richtungsentscheidung« steht. Zugleich wird richtigerweise analysiert, dass die »Bundesregierung … als Antwort auf die Corona‐Krise das größte Paket von Wirtschaftshilfen und Konjunkturanreizen seit Bestehen der Bundesrepublik verabschiedet [hat] – plötzlich war von der Schwarzen Null keine Rede. Das Programm setzt Anreize für Innovationen in der Auto‐ und Metallindustrie, um Elektromobilität und Dekarbonisierung zu fördern. Es ist eine Modernisierungsstrategie für die Industrie aus Steuermitteln, die auf die Struktur der Wirtschaft insgesamt keinen Einfluss nimmt … Von einer gesellschaftlichen Steuerung, die klimaneutrale Wirtschaftszweige, Gesundheit und Pflege, personennahe Dienstleitungen stärkt, kann keine Rede sein. Die Programme der Bundesregierung und der Länderregierungen verzichten vollständig darauf, die Gewährung von Hilfen an private große und mittlere Unternehmen an den Ausbau staatlicher und gewerkschaftlicher Kontrolle zu koppeln. Doch genau das ist nötig.«
Gegenüber dieser Konzeption, den neoliberalen Kapitalismus zu modernisieren, wirbt die Linkspartei für den Systemwechsel zu einem linken Green New Deal und versichert zugleich, sie sei zu diesem bereit. »Wir stellen an Grüne und SPD die Frage, ob sie bereit sind, einen sozial‐ökologischen und friedenspolitischen Politikwechsel einzuleiten, statt die CDU weiter an den Schaltstellen der Regierungsmacht zu belassen.«
Es ist mutig, wenn DIE LINKE im Vorfeld der Wahlen die Grünen und die SPD zu einem Politikwechsel einlädt, auch wenn die »selbsterklärte Bereitschaft nicht reicht« und die Bereitschaft, sich mit »Anstößen und Präzisierungen von den Partnern, mit denen man zusammenarbeiten will« (Joachim Bischoff/Björn Radke in Sozialismus.de, Heft 3-2021), auseinanderzusetzen, unentwickelt bleibt. Unterstellen wir aber mal, dass dieses Projekt auf Zustimmung stößt und eine rot-rot-grüne Koalition einen Systemwechsel einleitet. Dieser würde mit Sicherheit auf den hartnäckigen Widerstand all jener Kräfte und Parteien stoßen, die den Kurswechsel als unakzeptable Entscheidung gegen die gewohnten Verteilungsverhältnisse begreifen.
Denn die Oberschichten werden darum kämpfen, die Verteilungsverhältnisse erneut zugunsten der vermögenden Klassen zu korrigieren. Das leitende Interesse einer solchen Klassenkoalition ist die Rückkehr zur Politik der schwarzen Null und die Einleitung einer neuen Phase der finanziellen Repression. Wenn das Establishment in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung dann wieder die Macht zurückgewinnt, dürften selbst um den Preis von wachsenden Defiziten der gesellschaftlichen Nachfrage und der Zunahme von weiteren Verarmungsprozessen mit einer Konsolidierungspolitik im öffentlichen Sektor Modernisierungsprozesse in der Produktionsweise durchgesetzt werden.
Die Linkspartei ist nicht gut beraten, diese Gefahr eines klassenpolitischen Rollback (mit oder ohne tragende Rolle einer rechtspopulistischen Partei) in ihrer Zukunftskonzeption weitgehend auszublenden und ihr allein mit der Formel von der Aufrechterhaltung des friedenspolitischen Markenkerns zu begegnen.