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21. März 2021 Joachim Bischoff/Björn Radke: Zum Entwurf des Wahlprogramms

Grüner Systemumbau ohne politisches Fundament

Foto: Dominik Butzmann (www.gruene.de)

Grünen-Co-Parteichef Robert Habeck spricht von einer »Vitaminspritze für das Land«. Unter dem Motto »Deutschland. Alles ist drin« will die Partei einen »klimagerechten Wohlstand« mit einem politischen Machtwechsel.

»Wir legen das Programm in einer Zeit vor, in der eine politische Ära zu Ende geht und eine neue beginnen kann«, eröffnete Robert Habeck die Vorstellung des grünen Programmentwurfs[1] zur Bundestagswahl am 26. September. Der Programmentwurf ist eine konzeptionell durchdachte Erzählung für den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbau der Bundesrepublik. Die nötigen Umstellungen beschreiben die Grünen als eine »große Herausforderung, ja Zumutung«. Mit den Bundestagswahlen endet eine Ära, und eine neue kann beginnen. Und sie wollen mitgestalten. Selbstbewusst kommt die Ankündigung eines Kurswechsels daher:

»In weniger als 30 Jahren eine klimagerechte Gesellschaft zu werden, ist eine epochale Aufgabe mit inspirierender Kraft. Wir wollen einen Aufschwung schaffen, der über das rein Ökonomische hinausgeht. Einen Aufschwung, der das ganze gesellschaftliche Leben in seiner Stärke und Vielfalt erfasst: Bildung und Kultur, Arbeit und Digitalisierung, Spitzenforschung und Wissenschaft. Dieses Programm ist dafür ein Anfang. Es schlägt konkrete und ehrgeizige Projekte für politisches Handeln in einer Bundesregierung in den kommenden vier Jahren vor. Die Aufgaben sind groß, die Widerstände ebenfalls. Aber die letzten Jahre haben gezeigt, dass viele Menschen in der Gesellschaft der Politik weit voraus sind.«

Auf den nachfolgenden Seiten wird die grüne Erzählung eines gesellschaftlichen Umbruchs skizziert. Zielpunkt der Transformation: »Die Klimakrise ist die Existenzfrage unserer Zeit. Daher ist Klimaschutz keine Zukunftsaufgabe, sondern Klimaschutz ist jetzt. Wenn wir zu Beginn dieses Jahrzehnts konsequent handeln und die sozial-ökologische Transformation einläuten, können wir die Krise noch stemmen. Klimaneutralität ist dabei eine große Chance für höhere Lebensqualität, mehr soziale Gerechtigkeit und einen klimagerechten Wohlstand. Sie gilt es zu ergreifen.«

Die globalen Krisen dieser Zeit – zuallererst die Klimakrise als wahre Menschheitskrise – würden in unser aller Leben hineinwirken und Freiheit, Sicherheit und Wohlstand gefährden. Daher sei es jetzt an der Zeit, dass die Politik endlich über sich hinauswachse, so Annalena Baerbock. Gute Arbeit und faire Löhne, eine gute Infrastruktur, gute Schulen und eine gute Gesundheitsversorgung seien zentral, um ein gutes Leben zu ermöglichen. Genauso Forschung, ein Schub bei der Digitalisierung und beim Klimaschutz. »Wir leiten eine Phase der dringend benötigten Zukunftsinvestitionen ein und schaffen klimagerechten Wohlstand für alle.« Der grüne Programmentwurf mache ein umfassendes Angebot an die Breite der Gesellschaft.

Das Bild von der Vitaminspritze täuscht über die politischen wie gesellschaftlichen Widerstände gegen ein Projekt eines sozial-ökologischen Umbaus hinweg und ist eine maßlose Untertreibung der realen Konfliktfelder im Land. Die Vision eines umfassenden Angebots »an die Breite der Gesellschaft« suggeriert, dass es nur »vernünftiger Argumente« bedarf, um den Umbau zu stemmen. Systematisch ausgeblendet wird damit, dass es nicht unerhebliche Teile in dieser realen bundesrepublikanischen Gesellschaft gibt, die sich aus unterschiedlichsten Gründen nicht mitnehmen lassen wollen und sich an ihren klimafeindlichen Besitzständen festkrallen.[2]

Die jüngsten Berichte (»Datenreport 2021. Ein Sozialbericht für die Bundesreoublik Deutschland« und der neue »Reichtums- und Armutsbericht«[3] der Bundesregierung) dokumentieren nicht nur soziale Ungleichheit, sondern auch Reichtumsstrukturen und deren politische Verfestigung.

Durch die Corona-Pandemie und die Maßnahmen zur Eindämmung sind die sozialen Unterschiede noch krasser geworden. Die jüngsten Landtagswahlergebnisse können die etablierten politischen Kräfte inklusive der Grünen als Bestätigung ihrer Politik werten. Zugleich bescheinigen Umfragen eine wachsende Unzufriedenheit mit der Antikrisenpolitik. Eine »toxische« Mischung von einer noch kleinen, aber lauten Minderheit von Kritiker:innen der Pandemie-Politik, Verschwörungsanhänger:innen, Impfgegegner:innen und Rechtsradikalen zeigt immer agressiver ihre Ablehnung der liberalen Demokratie.

Auf der jüngsten Demonstration in Kassel mit über 20.000 Teilnehmer:innen bekam der Anwalt Reiner Füllmich[4] Applaus für seinen Satz, in Deutschland gebe es ein faschistisch-totalitäres System. Der Rapper SchwrzVyce sorgt für den vorläufigen Stimmungshöhepunkt, als die Teilnehmer:innen ihm alle den Satz nachreden: »Unser Land wird von Verbrechern regiert.«Innerhalb weniger Wochen ist es der Querdenker-Bewegung gelungen, sich neu zu formieren und zu organisieren. Dabei spielt ihnen womöglich die gegenwärtige Stimmungslage in der Gesellschaft in die Hände.

Die Führung der Grünen bewertet die Folgen von Corona als Weckruf für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Pandemie verstärke Fliehkräfte und Gereiztheit. »Der gemeinsame Grund unserer Gesellschaft ist ausgetrocknet, er hat Risse bekommen, und kleine Schollen sind entstanden. Auf diesen kleinen Schollen leben die Menschen in Gruppen und Grüppchen«, so Habeck. »Wenn es aber stark regnet, dann kann ein solcher ausgetrockneter Boden all das Wasser nicht mehr aufnehmen. Dann bildet sich ein Graben, der das Land in zwei Hälften teilt.« Im Entwurf des Wahlprogramms findet sich von dieser Gefährdung der demokratischen Lebensweise wenig.

Nach den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz[5] sehen sich die Grünen in diesem »Superwahllahr« im Aufwind. Nach den jüngsten Umfragen erreichen sie wieder Umfragewerte um 20% und mehr, weitere Steigerungen nicht ausgeschlossen, während die Unionsparteien aus dem sicher geglaubten 30%-Bereich geradezu abstürzen, da ihr Agieren in den letzten Wochen zu einem veritablen Vertrauensverlust in die Führungsfähigkeit geführt hat.

Die vermehrt aufgedeckten Fälle von Korruption, wie auch die noch ausstehende Klärung des Kanzlerkandidaten sowie die offene Leerstelle, wohin die Union nach dem Ende des Systems Merkel will, beschleunigen diesen Prozess. Die Sozialdemokratie betont zwar, dass sie mit der frühzeitigen Benennung ihres Kanzlerkandidaten Olaf Scholz und der Vorlage eines »Zukunftprogramms«[6] die »Ersten am Platz« seien, und die Konkurrenz sich danach ausrichten müsse, aber die Zustimmung in der Bevölkerung verharrt weiterhin bei zwischen 16 und 17%. Mit entsprechendem Selbstbewusstsein legen die Grünen ihr Wahlprogramm vor, das wenig Überraschendes enthält.

Schon in dem gemeinsamen Positionspapier von Robert Habeck und dem DGB-Vorsitzenden Reiner Hoffmann[7] von Anfang Januar war die große Linie der Transformation abgesteckt worden. Es gelte »erstens die Corona-Krise zu bewältigen, die uns sozial und ökonomisch schwer getroffen hat. Zweitens sind die Weichen auf Klimaneutralität zu stellen, damit die Wirtschaft stark bleibt und gute Arbeitsplätze bietet. Dafür sind große Investitionen erforderlich – in die Produktion erneuerbarer Energien, den Verkehr, den Umbau der Industrie und der Landwirtschaft, in Forschung und Innovation, in die Wettbewerbsfähigkeit Europas. Drittens hat die Corona-Krise die soziale Ungleichheit im Land noch mal verschärft. War das schon vor der Pandemie ein großes gesellschaftliches Problem, bedarf es nun erst recht einer Antwort.«

Dieser Linie wird im Entwurf des Wahlprogramms gefolgt:

  • Die Grünen rücken das Ziel eines »klimagerechten Wohlstands« ins Zentrum. Es werde eine »sozial-ökologische Neubegründung« der Marktwirtschaft gebraucht. Für den wirtschaftlichen Aufbruch nach der Pandemie schlagen die Grünen für das laufende Jahrzehnt ein Investitionsprogramm von jährlich 50 Mrd. Euro zusätzlich vor.
  • Klimagerechter Wohlstand geht nur durch ein mächtiges Investitionsprogramm. »Die Erde erhitzt sich, die Schulen verfallen und Deutschland gehört beim schnellen Internet zu den Schlusslichtern der EU. Wir investieren zu wenig in unser Land«. »Wir wollen die Schuldenbremse im Grundgesetz zeitgemäß gestalten – um die so dringenden Investitionen zu ermöglichen.« Da die Führungsspitze über ausgeprägte Bodenhaftung verfügt, weiß sie, dass eine Veränderung der Schuldenbremse nur mit einem großen politischen Partner durchzusetzen ist. Der Rest ist dann aber Schweigen. Nur mit einer Aufweichung der Schuldenbremse kann das Programm funktionieren. Die Reform ist nicht einfach eine Forderung, sondern die Voraussetzung für die Umsetzung großer Teile des restlichen Programms. Dafür braucht es aber eine Grundgesetzänderung, also eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag. Die Stimmen einer Regierungskoalition werden dafür wohl nicht reichen, und ohne die Union wird es nicht gehen.
  • Beim Klimaschutz geben die Grünen in dem Programmentwurf das Ziel aus, bis 2030 statt der angepeilten 55% an CO2-Reduktion 70% zu schaffen. Mit Blick auf das Pariser Klimaschutzabkommen heißt es: »Es ist notwendig, auf den 1,5-Grad-Pfad zu kommen.« Die Grünen verlangen ein Klimaschutzsofortprogramm.
  • Der Neustart nach der Corona-Krise müsse den besonders betroffenen Branchen helfen, heißt es im Programmentwurf weiter. Dafür sollen der steuerliche Verlustrücktrag ausgedehnt und begrenzte Abschreibungsbedingungen eingeführt werden. Kleine und mittlere Unternehmen sollten sich mit vereinfachten Restrukturierungsverfahren leichter neu aufstellen können, ohne Insolvenz anmelden zu müssen. Wenn Corona-Soforthilfen zurückgezahlt werden müssen, sollten großzügige Stundungen möglich sein.
  • Die Grünen wollen zudem besonders Gutverdienende stärker besteuern: Ab einem Einkommen von 100.000 Euro für Alleinstehende und 200.000 Euro für Paare soll eine neue Stufe mit einem Steuersatz von 45% eingeführt werden. Ab 250.000 bzw. 500.000 Euro folgt eine weitere Stufe mit einem Spitzensteuersatz von 48%.
  • Die Grünen wollen den Mindestlohn sofort auf 12 Euro anheben, was allerdings für eine Bekämpfung der Armut in der Lohnarbeit zu wenig ist. Deutlich aber wird die Distanz zur neoliberalen Politik der Agenda 2010. Mit den Hartz-Reformen wurde die Absicherung des sozialen Risikos Erwerbslosigkeit zu einem erheblichen Teil der Fürsorge übertragen. Inzwischen erhält nur noch etwa ein Drittel derer, die arbeitslos werden, Leistungen der Arbeitslosenversicherung. Der soziale Schutz der von Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen wurde so erheblich verringert, sie sind in wachsendem Maße von Armut betroffen. Ungeachtet der Einführung des Mindestlohns leben immer noch 8-9% der Erwerbstätigen in Armut (»working poor«).
  • Der Mindestlohn ist zu gering und erreicht zu viele Beschäftigte bis heute nur unzureichend. »Eine erhebliche Anzahl von Beschäftigten erhält auch nach Einführung und Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns noch Stundenlöhne unterhalb von 8,50 bzw. 8,84 Euro. Daher sollen Tarifabkommen und Betriebsräte gestärkt werden. Leiharbeiter sollen vom ersten Tag an den gleichen Lohn für gleiche Arbeit bekommen wie Stammbeschäftigte.« Zur Bekämpfung des Gender-Pay-Gaps wollen die Grünen »ein effektives Entgeltgleichheitsgesetz« einführen. Das kirchliche Arbeitsrecht soll reformiert wird
  • Das bisherige Hartz-IV-System soll nach dem Willen der Grünen durch eine Garantiesicherung ersetzt werden, die auf die bisherigen Sanktionen verzichtet. Die Anrechnung von Einkommen soll so gestaltet werden, dass zusätzliche Erwerbstätigkeit attraktiver wird. Zudem wollen die Grünen die bisherigen Leistungen für Kinder zu einer Kindergrundsicherung zusammenfassen. Auch in diesem Zusammenhang wird das politische Schweigen unerträglich: Wie bei der Schuldenbremse sind auch bei einem Ausbau des Mindestlohns, der Stärkung der Gewerkschaften und einem neuen Kapitel in der Armutsbekämpfung (Sozialgarantie, Kindergrundsicherung) politische Mehrheiten erforderlich.

Aus den Reihen der Klimaschutzbewegung wird das Wahlprogramm trotz des erklärten Vorrangs für klimagerechten Wohlstand kritisiert: »Als einzige Partei legen wir einen vollumfassenden Plan vor, die Klimakrise einzudämmen. Trotzdem scheitert der Entwurf daran, die nötigen Maßnahmen voll auszusprechen«, sagte der frühere Sprecher der »Fridays-for-Future«-Bewegung und designierte Bundestagskandidat der Grünen, Jakob Blasel, gegenüber den RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). »Der Vorschlag für den CO2-Preis ist viel zu unambitioniert. Die Maßnahmen, die einen CO2-Preis ersetzen sollen, sind zahnlos.« Das Ziel, die Erderwärmung auf einen Temperaturanstieg von 1,5 Grad zu begrenzen, könne damit nicht erreicht werden, kritisierte der Klimaschutzaktivist.

Im Schlusskapitel des Wahlprogramms werden all die vorher formulierten Vorschläge insofern relativiert, indem darauf verwiesen wird, dass die Grünen »nicht versprechen« können, »dass jedes einzelne Projekt genauso Wirklichkeit wird. Wir können nicht versprechen, dass niemand durch Klimaschutz belastet wird. Wir können nicht versprechen, dass nach Corona jedes unserer Projekte noch finanzierbar ist. Niemand kennt alle Bedingungen der Zukunft. Aber: Sie kennen jetzt unsere Vorschläge und Ziele, unsere Ansichten und unsere Haltung. Was wir Ihnen versprechen: Wir haben uns seit vielen Jahren vorbereitet, und wir werden alles daransetzen, so viel zu erreichen, wie wir irgend möglich machen können – für Sie, für die Gesellschaft, fürs Land. Die großen Transformationsaufgaben, der Zusammenhalt unserer Gesellschaft fordern mehr denn je den Willen zur Kooperation, zum Zusammenführen, zum Kompromiss, der mehr ist als die Summe seiner Teile.«

Für Teile der Leitmedien, wie die FAZ, vollziehen die Grünen mit diesem Wahlprogramm einen »radikalen Kurswechsel«. »Die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse soll dazu abgeschafft werden, wobei die Grünen das wie viele andere heikle Punkte in dem Programmentwurf harmloser formulieren: ›Zeitgemäß gestalten‹ wollen sie die Schuldenbremse. Angesichts der (noch) niedrigen Zinsen für Kredite halten die Grünen es für vertretbar, die Ausgaben von Bund und Ländern nicht nur aus den laufenden Einnahmen zu begleichen, sondern dafür auch neue Schulden aufzunehmen«, so Julia Löhr.

Der Innenressortchef, Jasper von Altenbockum, sieht dagegen im Wahlprogramm den »Kuss des lenkenden und dirigierenden Ökostaats. Da alles ganz schnell gehen soll, läuft das Wollen auf ein Müssen hinaus. Das wird für die politische Konkurrenz ein Ansatzpunkt sein, die Grünen zu entzaubern. Jünger, schneller, wacher und wandlungslustiger sehen sie dabei allerdings nicht unbedingt aus.« Womit auch gesagt ist, dass es der politischen Konkurrenz eben an so einer stringenten Erzählung mangelt.

Man kann es auch anders ausdrücken: Das Programm ist kein Bauchladen mit viel Öko und ein paar Forderungen für Konservative, um bisherige Merkel-Wähler:innen anzuziehen, da es alles dem Motto »Klima« unterordnet. Klima steht ganz vorn, das 1,5-Grad-Ziel wird zum Maßstab erklärt. »Für uns ist natürlich völlig klar, dass eine Regierung, die nicht auf den Paris-Pfad kommt, die Grünen nicht braucht«, sagt Habeck. »Der Klimaschutz muss umgesetzt werden, sonst sind wir da überflüssig in der Regierung.«

Der politische Wille der Führung der Grünen ist eindeutig: »Ein Zurück in die Gräben von mehr oder weniger Staat, mehr oder weniger Regulierung, mehr oder weniger Föderalismus, das ist der Aufgabe nicht angemessen. Für die großen Aufgaben des kommenden Jahrzehnts gilt es mehr zu wagen. Und zu machen.«

Keine Fortsetzung des üblichen politischen Grabenkampfes: Diese Richtschnur ist löblich. Zu Recht wird betont: »Die Corona-Krise hat gezeigt, wie viel unser Staat leistet – und wo es mangelt. Die Ungleichheit ist gewachsen, aber ein dichtes soziales Netz hat bisher verhindert, dass sich die Corona-Pandemie zu einer tiefgreifenden sozialen Krise entwickelt.«

Die Grünen mahnen uns, dass sich etwas ändern muss. Sie haben in diesem Entwurf zum Wahlprogramm Vorschläge gemacht. »Wir wollen unsere Verwaltung modernisieren, sie kreativer, digitaler und innovativer machen und besser ausstatten. Wir wollen Mut machen, zu experimentieren und eine positive Fehlerkultur zu entwickeln. Unsere Staatlichkeit soll bunter und feministischer werden. Wir wollen Spielräume für dringend notwendige Zukunftsinvestitionen schaffen, mehr Kooperation zwischen Bund, Ländern und Kommunen ermöglichen und die Nachfragemacht des Staates für Innovation und Nachhaltigkeit nutzen. Wir planen den Aufbau neuer Behörden und Verwaltungsstrukturen, weil wir einen starken und effizienten Staat wollen, der zu den Aufgaben passt. Dazu gehört dann auch, dass wir überprüfen, was es nicht mehr braucht, was zugemacht werden kann, was besser werden muss. Das wollen wir nach der Wahl anpacken, gemeinsam mit Ihnen und den anderen demokratischen Parteien, ohne Scheuklappen und Dogmatismus.«

Für die Überarbeitung des Entwurfes wäre es wünschenswert, wenn die offenen Punkte – Veränderung der Schuldenbremse, verbessertes Lohnregime, Ausbau des Sozialstaates durch soziale Garantien – politisch geerdet würden. Der Einladung zum politischen Aufbruch fehlt bislang der Blick darauf, wer dieser wohl folgen würde. Den gesamten Entwurf beherrscht ein deutliches Maß an Weltfremdheit. Im endgültigen Wahlprogramm werden Konkretisierungen erfolgen müssen, die zeigen, ob Anschlussfähigkeit gangbare Vorschläge bedeutet, die den Einstieg in eine Transformationsphase ermöglichen. Dies ist aber nicht allein eine Herausforderung für die Grünen, sondern wird auch davon abhängen, wie sich die gesellschaftlichen Machtverhältnisse im Herbst darstellen und Bewegung in die anderen Parteien kommt.

Anmerkungen

[1] Vgl. dazu Björn Radke, Eine bündnispolitische »Einladung« in einer verwundeten Welt – Zum Entwurf des Grundsatzprogramms der GRÜNEN, Sozialismus.deAktuell vom 15.7.2021 sowie Joachim Bischoff/Björn Radke: »Von hier an anders«. Über das von Robert Habeck skizzierte grüne Projekt der ökologischen Transformation in: Sozialismus.de, Heft 4/2021.
[2] Siehe dazu: Joachim Bischoff/Björn Radke, Querdenker – eine Bewegung neuen Typs?, in: Sozialismus.de, Heft 1/2021.
[3] Siehe dazu: Joachim Rock, Zeugnisse einer gespaltenen Gesellschaft, Sozialismus.deAktuell vom 8. März 2021.
[4] 2020 trat Füllmich in Deutschland als einer der Wortführer der Proteste gegen Schutzmaßnahmen wegen der COVID-19-Pandemie auf und verbreitete dabei Behauptungen, die von medizinischen Experten widerlegt wurden. Gemeinsam mit anderen Anwälten bietet er deutschen Unternehmen an, sich für 800 Euro (netto) an einer US-Sammelklage auf Schadenersatz gegen die Bundesregierung wegen der Maßnahmen gegen die COVID-19-Pandemie zu beteiligen.
[5] Vgl. Joachim Bischoff/Björn Radke, Desaströses Ergebnis für die CDU, Sozialismus.deAktuell vom 15.3.2021.
[6] Siehe dazu: Joachim Bischoff/Björn Radke: »Das Zukunftsprogramm« der SPD – »Respekt« als politische Formel, Sozialismus.deAktuell vom 4.3.2021.
[7] Reiner Hoffmann/Robert Habeck: Die Linke droht sich im Widerspruch zu verheddern, in: FAZ vom 5.1.2021 siehe dazu: Joachim Bischoff/Björn Radke, Politisches Umsteuern in Corona-Zeiten, Sozialismus.deAktuell vom 10.1.2021.

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