Horst Seehofer und Markus Söder haben in den zurückliegenden Wochen die Fundamente der »Berliner Republik« auf ihre Stabilität getestet. Die vom Führungsgespann der CSU mit politischer Erpressung geforderte Asyltrendwende drohte die CDU/CSU zu spalten – mit kaum absehbaren Folgen für die europäische Hegemonialmacht Deutschland.
Im »Masterplan Migration«, den der CSU-Vorsitzende mithilfe von Beamten und Experten des Bundesministeriums des Innern erstellen ließ, wurde die neue Agenda 2018 skizziert: »Die Herausforderungen weltweiter Migration erfordern ein System der Ordnung … Wir wollen keine Zuwanderung in unsere Sozialsysteme … Die Verantwortung gegenüber der Stabilität des Staates gebietet Steuerung und Begrenzung von Zuwanderung. Der Masterplan steht für dauerhafte Ordnung und Steuerung von Migration.« Der CSU-Spitze reicht der Ausbau der europäischen Außengrenzen nicht: »Wir wollen die nationale Handlungsfreiheit für die vorübergehende Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen in einer nationalen Bedrohungslage.«
Wirkliche und virtuelle Mauern sollen den Nationalstaat schützen – gegen Flüchtlinge und Fremde, gegen Kriminalität und gegen Drogen. Keine 30 Jahre hat es gedauert, bis die Mauern, die im Jahr 1989 jubelnd eingerissen und abgebaut wurden, wieder hoch- und höhergezogen werden. Mehr als 65 Länder haben heute entsprechende Grenzbefestigungen. Saudi-Arabien etwa baut eine 885 Kilometer lange Sperranlage zum Irak, die an altbekannte Todesstreifen erinnert, Botswana errichtet einen Elektrozaun an der Grenze zu Simbabwe, von der Hochsicherheitsanlage zwischen Israel und den pälestinensischen Autonomiegebieten sowie der Mauer zwischen USA und Mexiko ganz zu schweigen. Letztere will Präsident Trump in einer Länge von 1.300 Kilometern ausbauen lassen – Kostenpunkt für 25 Betriebsjahre: rund 60 Mrd. US-Dollar.
(Zeichnung: Tasos Anastasiou, Athen)
Was ist der Sinn des Mauerbaus im 21. Jahrhundert? Die These der amerikanischen Politikwissenschaftlerin Wendy Brown lautet: »Die meisten Mauern des 21. Jahrhunderts sind Reaktionen auf den Niedergang der Souveränität des Nationalstaates, also nicht Ausdruck der Macht einer solchen Souveränität, sondern Kompensation, also quasi ein Ausdruck von Ohnmacht. Sie sind politische Reaktionen auf zunehmend ängstliche und fremdenfeindliche Bevölkerungen, erreichen jedoch wenig bei der Eindämmung von Problemen. Sie zu bauen, ist dennoch eine mächtige Form politischen Theaters. Trump gelang der Aufstieg an die Macht auf dem Rücken eines solchen Versprechens, und Rechtsparteien in ganz Europa tun das Gleiche.«
Von Niccolò Machiavelli, dem florentinischen Staatsphilosophen, auf den sich die rechten Scheinriesen oberflächlich beziehen, könnte man lernen: »Festungen schaden im Allgemeinen mehr als sie nützen.« Aber die Antwort der Rechten auf die unterminierte nationale Souveränität heißt Abschottung, Ausgrenzung und Mauerbau. Die Grenzanlagen von Israel zu Palästina sowie von den USA zu Mexiko bewirken hauptsächlich dreierlei: Erstens werden Mauern zu Zonen gewalttätiger Auseinandersetzungen und von Gesetzlosigkeit. Zweitens helfen sie der »Untergrundindustrie«, die mit Menschen und Drogen Geld verdient, weil erhöhte Hürden die Preise hochtreiben. Drittens nimmt die Feindseligkeit zwischen den Beteiligten zu. »Mauern verstärken die Gewalt und die Kriminalität, die sie fernzuhalten behaupten, und erzeugen daher … das Bedürfnis nach mehr Befestigung« (Wendy Brown) und nach mehr repressiven Staatsapparaten.
Die politische Erpressung durch Seehofer, Söder u.a. ist ein »Flaggensignal der kommenden Dinge«. Von Walter Benjamin wissen wir, dass der Kunst und der Mode außerordentliche Antizipationen eigen sind, »vielfach, in Bildern etwa, der wahrnehmbaren Wirklichkeit um Jahre« vorausgreifen. Daraus schließt er zu Recht: »Jede Saison bringt in ihren neuesten Kreationen irgendwelche geheimen Flaggensignale der kommenden Dinge. Wer sie zu lesen verstünde, der wüsste im voraus nicht nur um neue Strömungen der Kunst, sondern um neue Gesetzbücher, Kriege und Revolutionen.« (Das Passagen-Werk, Erster Band, edition suhrkamp 1200, S. 112)
Benjamin sah den sich ausbreitenden Faschismus als »Ästhetisierung der Politik«. Als Reaktion auf die durch soziale Ungleichheit hervorgerufene Wut der Betroffenen habe der Faschismus nicht nach politischen Lösungen gesucht, wie etwa einer gerechteren Verteilung wirtschaftlicher Ressourcen, sondern »die Massen zu ihrem Ausdruck kommen lassen«. Die immense Wut hat viel mit sozial-ökonomischer Destruktion, Abstiegs- und Zukunftsängsten zu tun, die sich in Ressentiments ausdrücken. Diese spiegeln auch eine Abgrenzung von einem Multikulti–Lebensstil, eine Absetzung von einem bestimmten Way of Life: in Erziehungsfragen, in Religion, Freizeitbeschäftigung und dem »Heimatgefühl«.
Auch heute sehen wir, dass die immense Wut der Massen zur Richtschnur der politischen Verteidigung der nationalen Souveränität wird. Trump, die Brexiteers, aber auch die national-soziale Rechte in Europa sind Resultate einer zugespitzten Zerstörung von Demokratie durch den Neoliberalismus. Diese Zerstörung basiert auf der Wut eines Teils der Lohnabhängigen aufgrund des Verlusts von Status, wegen der Entfremdung von städtischer und kosmopolitischer Kultur, aufgrund der Verzweiflung, die vier Jahrzehnte neoliberale Wirtschaftspolitik hinterließen. Sie glauben, dass Migrant*innen, Afroamerikaner*innen, Sinti oder Latinos ihnen ihren Wohlstand gestohlen haben – auch wenn ihre Situation in der neoliberale Form der Globalisierung und der Zerstörung ganzer Industriezweige begründet ist, die der Mittelschicht bis dato eine Existenz sicherten.
Nationen werden durch Produktivitätssteigerungen und Freihandel reicher, aber innerhalb der Gesellschaften wachsen zugleich die sozialen Unterschiede massiv an. Und durch den Abbau des Wohlfahrtsstaats wird es zunehmend schwieriger bis unmöglich, mit einem durchschnittlichen Einkommen den Lebensunterhalt zu bestreiten und eine ausreichende Grundsicherung im Alter aufzubauen. Solche Entwicklungen haben weitreichende Folgen: Politische Demokratie, die Freiheit nicht nur als Wohlstand und Wettbewerb versteht, sondern auch als Teilhabe, gerät in die Defensive und wird »zum Feind des Marktes« erklärt (siehe hierzu Wendy Brown in: Der Spiegel vom 26.11.2016). Sie stört den Markt, weil sie umverteilen und ausgleichen will. Aus dieser Haltung folgt eine Geringschätzung von sozialer Demokratie.
Mauern, Abgrenzung und nationale Abschottung sind eine weitere Zerstörung von demokratischer Kultur. Sie inszenieren »eine Souveränität, die sie selbst untergraben«. In der Tat wird der Nationalstaat, der nach dem Westfälischen Frieden 1648 seinen weltweiten Siegeszug antrat, nach den Katastrophen zweier Weltbrände heute erneut unterspült.
Apokalyptischer Populismus muss nicht unbedingt ein Ziel haben. So stimmte ein Viertel der Trump-Befürworter*innen der Aussage zu, dass Trump nicht die Qualifikation für das Präsidentenamt hat. Sie haben kein Vertrauen in diese Präsidentschaft. Sie haben nur Zorn und stehen dem Status quo feindselig gegenüber. Diese Menschen geben den Migrant*innen die Schuld an ihren Problemen. Tatsächlich ist der Neoliberalismus die Ursache. Es ist nur einfacher, es an Ethnien festzumachen, als an dessen strukturellen Deffekten.
Unsere Redakteure und Autor*innen analysieren auf Sozialismus.de kontinuierlich die geopolitischen und wirtschaftlichen Herausforderungen in den wichtigsten Regionen der Welt. Hier die Kurzanalysen zu Zeitgeist und Zeitenwende der letzten Zeit: